Frühe mittelalterliche Schriftlichkeit
Markus Schieggs Untersuchung zur Funktionalität und Kontextualität frühmittelalterlicher Glossierungspraktiken
Von Vreni Wittberger-Markwardt
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseMit seiner im Sommersemester 2013 von der LMU München angenommenen Dissertationsschrift zu frühmittelalterlichen Glossen legt Markus Schiegg einen wichtigen Beitrag für die althochdeutsche Glossenforschung vor und leistet einen lange erwarteten Beitrag zur Erforschung der Funktionalität und Kontextualität dieser speziellen Form mittelalterlicher Schriftlichkeit. Der Autor untersucht zwischenzeilig, im Fließtext oder auf den Rändern stehende volkssprachige Eintragungen in lateinischen Werktexten.
Bis anhin existierten zu diesem Themenfeld einerseits Abhandlungen, die sich um die Edition bereits bekannten oder neuentdeckten Materials verdient gemacht haben, sowie Untersuchungen, die sich sprachstrukturellen Fragen widmen. Schiegg versucht sich darüber hinaus dem in der Forschung immer wieder geforderten Gesamtbild mittelalterlichen Glossierens anzunähern und dabei die Resultate der bereits vorhandenen Einzelstudien miteinzubeziehen.
Aus dem Blickwinkel funktional-pragmatischer Ansätze der Textlinguistik legt der Autor den Fokus auf die systematische Darstellung der unterschiedlichen Funktionen, in denen im Frühmittelalter glossiert wurde. Dabei definiert er die verschiedenen Kontexte des Textstudiums innerhalb der klösterlichen Gemeinschaft als Rahmen, in dem die einzelnen glossierten Handschriften zu verorten seien.
Das rund 380 Seiten umfassende Werk Schieggs ist in einen theoretischen und einen praktischen Teil gegliedert. Der theoretische Teil beschäftigt sich zunächst mit der Skizzierung des untersuchten, ostfränkischen Kommunikationsraumes, der anschließend anhand des Modells des konzeptuellen Kontinuums auf seine diachrone Entwicklung bis ins Hochmittelalter hin untersucht wird. Im Anschluss an die darauffolgende Vorstellung zweier zentraler bis heute rezipierter Vorstellungen zum Althochdeutschen — einerseits der Annahme einer althochdeutschen Hochsprache und andererseits des Stufenmodells althochdeutschen Übersetzens — leistet der Autor mit dem eindringlichen Hinweis auf die in der Forschung teilweise bis heute rezipierten Konsequenzen teleologischer Vorstellungen eine längst überfällige Kritik. Den althergebrachten Forschungsmethoden stellt Schiegg die funktionale Perspektive auf Glossierungspraktiken gegenüber (Kapitel 2). Mit einem Rückgriff auf die Theorien der Textlinguistik macht sich der Autor dann an die Entwicklung einer Methode, die die differenzierte Erfassung der Formen, Funktionen und Kontexte des Glossierens ermöglicht, und stellt sich im Zuge dessen der Frage nach der Textualität von Glossen. Auf Grundlage der auf diese Weise gewonnenen Erkenntnisse entwickelt Schiegg sodann ein funktional-pragmatisches Modell zur textlinguistischen Analyse von Glossen. Dabei wird die formale Seite des Glossierens im Komplex der Kotextualität zusammengefasst, die funktionale Seite dem der Paratextualität zugeordnet und die situativ-kontextuelle unter dem Begriff Kontextualität subsumiert (Kapitel 3). In den folgenden drei Kapiteln werden diese drei Komplexe der Textualität frühmittelalterlichen Glossierens eingehend beleuchtet.
Im praktischen Teil findet die zuvor eruierte heuristische Methode an der Handschrift 6 des Archivs des Bistums Augsburg Anwendung. Der Verfasser begründet die Auswahl des Codex mit der dichten Glossierung und Kommentierung, die verschiedene Typen von sekundären Eintragungen aufweise und somit eine große Bandbreite an Funktionen und Kontexten erwarten lasse. Zudem weist er auf die unzureichende Editionslage des aus dem 9. bis 11. Jahrhundert stammenden Evangeliars hin. Zusätzlich zu den vereinzelten Neueditionen der Glossen leistet Schiegg einen wichtigen Beitrag zur Grundlagenforschung der mittelalterlichen Neumengeheimschriften, indem er zehn Glossen eingehend untersucht, die auf diese Weise notiert sind. Dabei wird die Überlieferungslage dieses Schriftsystems beschrieben und das verwendete Zeicheninventar tabellarisch zusammengestellt. Auf dieser Grundlage war es dem Autor möglich, Vergleiche mit aus vier anderen Codices bereits bekannten Neumengeheimschriften anzustellen und Möglichkeiten im Hinblick auf ihre Provenienz zu diskutieren. Mit der Edition der Neumen der Handschrift 6 des Archivs des Bistums Augsburg und zweier als einzige ebenfalls dem selben geheimschriftlichen System zugehörigen Neumen im Clm 3860a behandelt Schiegg das Phänomen der Neumengeheimschrift umfassend. Der Fokus liegt hierbei nicht nur auf den althochdeutschen Glossen, denn der Verfasser hat es sich zur Aufgabe gemacht, anhand der Betrachtung der zahlreichen lateinischen Glossen und Scholien in direkter Umgebung eine ganzheitliche Betrachtungsweise zu etablieren.
Schiegg kann in seiner Arbeit zeigen, dass die Verschriftung der Volkssprache durch die Diglossie-Situation im untersuchten östlichen Frankenreich gefördert wurde, wobei die althochdeutschen Dialekte als Sprachen der Nähe und das Lateinische als Sprache der Distanz funktionierten. Im Dienste einer seines Erachtens wünschenswerten objektiveren Sicht auf die Volkssprache müsse eine genaue Positionierung der einzelnen überlieferten Quellen dementsprechend auf einer sprachlichen Analyse von Nähe- und Distanzparametern aufgebaut werden, auch wenn dies in vielen Fällen schwierig erscheine. Zudem sei die textlinguistische Relevanz der Glossen in der Forschung bisher kaum beachtet worden.
Einen wichtigen methodischen Anknüpfungspunkt für die weitere Forschung liefert Schiegg mit seiner Kategorisierung der Funktionalität des Glossierens. Auf einem relativ großen Glossenkorpus basierend richtet sie das Augenmerk auf die ganze funktionale Breite volkssprachiger Glossen. Auch die Erarbeitung der fünf Kontexte, in denen glossiert wurde, bietet einen wichtigen systematischen Ansatz zur weiteren Erforschung mittelalterlicher Schriftlichkeit. Unter Bezugnahme auf pragmatische Fragestellungen ist es dem Verfasser gelungen, neue Perspektiven auf die Vielfalt der Eintragungstypen zu eröffnen. Schiegg geht in seiner Studie neue Wege und entspricht damit der inhaltlichen Bestimmung seiner Arbeit – der Annäherung an ein Gesamtbild volkssprachigen Glossierens – vollumfänglich.
Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg
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