Ersehnen der Sehnsucht

In „Rucksackkometen“ von Stefan Ferdinand Etgeton wird die Bewegung selbst zum Eigentlichen

Von Jana FuchsRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jana Fuchs

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Die Völker Europas sind entschlossen, auf der Grundlage gemeinsamer Werte eine friedliche Zukunft zu teilen, indem sie sich zu einer immer engeren Union verbinden. In dem Bewusstsein ihres geistig-religiösen und sittlichen Erbes gründet sich die Union auf die unteilbaren und universellen Werte der Würde des Menschen, der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität. Sie beruht auf den Grundsätzen der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit.“ So jedenfalls steht es in der Präambel der im Dezember 2000 proklamierten „Charta der Grundrechte der Europäischen Union“.

Für den Erzähler von „rucksackkometen“, der von Thomas Andre im Hamburger Abendblatt als „neueste […] Version der berühmten Figur des Taugenichts und Müßiggängers“ bezeichnet wird, scheinen sich die europäischen Werte der Solidarität, der Würde des Menschen und der Freiheit jedoch verflüchtigt zu haben. Lediglich die Rechtsstaatlichkeit hat ihre Stellung nicht eingebüßt, sondern ist sogar zum alles durchdringenden Prinzip avanciert.

Mit dieser Entwicklung wollen Etgetons Protagonisten brechen. Sie wollen „rütteln am diktat der rationalität und moralischen wie profanen überreglementierung des daseins“ und begeben sich hierfür auf einen Roadtrip durch Osteuropa, um schließlich in Griechenland –  dem Land, in das Zeus, als Metamorphose eines Stieres, die schöne Europa entführte – an den Parthenon zu pinkeln. Es geht für Fiete und Jan Spille vor allen Dingen darum, zu verhindern, „dass sie unsere gefühle irgendwann wegrationalisieren“ und so stellt Thomas Andre ganz richtig fest, dass Etgetons Helden Humanisten ganz eigener Art sind: Allen Menschen, die ihnen auf ihrer Reise durch Staaten wie Serbien, Bulgarien und die Ukraine begegnen, treten sie so distanzlos und grenzüberschreitend wie möglich gegenüber: „ich wollte aber sehr wohl alles verknoten und mich selbst verknoten in die wolken und wollte treiben und wollte holunderbüsche durchstreifen und wollte leute anrempeln und behaupten, dass ich sie mag, ohne sie zu kennen“.

Wenn die Entwicklung Europas sich auf die Verherrlichung des Prinzips der Ratio zubewegt, dann versuchen Fiete und Jan Spille dem entgegenzuwirken, indem sie der „[einimpfung] von egoismus und regeln und privateigentum und […] totale[n] rationalität i[m] europäischen denken“ eine radikal unmittelbare Bezugnahme auf die Welt entgegenstellen. Sie wollen sich „nicht länger vom bass durch die gegend scheuchen lassen“, sondern „eintauchen in eine weltumspannende whirlpoolstruktur“.

Der Klaus-Michael Kühne-Preis ging nicht an Stefan Ferdinand Etgeton, wohl aber gewann er beim MDR-Literaturwettbewerb den Jury- und Publikumspreis; und zwar völlig zu Recht. Denn auch wenn der Vergleich mit „On the road“ von Beat-Autor Jack Kerouac wohl etwas zu hoch gegriffen ist, so ist „rucksackkometen“ dennoch ein ganz besonderer Debütroman. Er ist dies insbesondere aufgrund des vorwärtstreibenden Rhythmus´ der Sätze und der Kunst, jene Sehnsuchtsstimmung einzufangen, die uns hinaus in die Welt ziehen lässt, um die Mängel auszugleichen, die jede menschliche Existenz unterlaufen. Dass sich diese Leerstelle des menschlichen Daseins nicht füllen lässt, da sie sich, um sich des lacanianischen Sprachduktus zu bedienen, in einer metonymischen Bewegung stets aufs Neue reproduziert, und dass somit die Sehnsucht nie gestillt werden kann, wird deutlich, wenn Etgeton seinen Erzähler resümieren lässt: „wir hatten keine große erkenntnis gewonnen außer der, dass uns niemals starrsinn weitergeholfen hatte“.

Nach der Lektüre des Romans erscheinen einem Großbuchstaben als felsige Gebirgskämme, die weite Ebenen durchtrennen, einen Bruch in die Sätze reißen und das Fließen der Wörter erschweren. So hat diese einfache und zunächst wenig außergewöhnlich wirkende Abweichung vom Gewohnten, nämlich die an Internet- oder Handysprache erinnernde konsequente Kleinschreibung aller Wörter, doch einen starken ästhetischen Effekt.

Während manche Vergleiche so klingen als hätte zu viel Mettinger Kräuterbrand ihre Existenz begründet („ich hatte so ein verlangen, josie zu zerreißen oder mich von ihr gestückelt in die lottomaschine des lebens werfen zu lassen, oder dachte, wir könnten ein riesiger verladebahnhof für rohe liebe sein“), sind andere von einer solchen Lebendig- und Natürlichkeit durchdrungen („eine totale zerkaputtsprengung alt-normativer zwangsmatrizen“) – vielleicht gerade aufgrund der Ausrichtung auf die Mündlichkeit des Sprachgebrauchs –, dass man sich von ihnen gerne auf den Roadtrip von Fiete und Jan Spille mitnehmen lässt: mitten hinein in die Idee von einem Europa, das auf den Pfeilern der Liebe, der Vergänglichkeit, der Kunst und der Subjektivität gebaut wird.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Stefan Ferdinand Etgeton: Rucksackkometen. Roman.
Verlag C.H.Beck, München 2015.
271 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783406682056

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