Unsere gebildete, unsere dekadente Irrelevanz
Amélie Nothombs neuer Roman „Le crime du comte Neville“ ist ein antikes Familiendrama in Endzeitstimmung
Von Emily Jeuckens
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseHätte es der mitunter kritisch beäugte Begriff „Fräuleinwunder“ über die Grenze in den romanischen Sprachraum geschafft, so fiele allen voran die belgisch-japanische Erfolgsschriftstellerin Amélie Nothomb in diese Kategorie: Jung, öffentlichkeitswirksam inszeniert und von Feuilletons gefeiert, diese Attribute machten aus der 1999 mit dem Grand Prix du roman der Académie francaise ausgezeichneten Autorin einen Publikumsliebling. Seit 23 Jahren veröffentlicht die als Liebhaberin exzentrischer Hüte bekannte Nothomb nun jährlich mindestens ein Prosawerk – dies stets Anfang September, wenn in Frankreich und Belgien La rentrée gefeiert wird: der Beginn des Schuljahres sowie des neuen Semesters, die Rückkehr des Parlaments, die Wiedereröffnung von Galerien und Museen, und nicht zuletzt die belletristischen Veröffentlichungen des Herbstes.
In diesem Jahr legt Nothomb mit Le crime du comte Neville die Neuinterpretation einer Novelle Oscar Wildes vor – einen kurzen Roman von nur 180 Seiten, der dafür jedoch mit Referenzen auf die europäische Literaturgeschichte und autofiktiven Details gespickt ist. Griechische Mythologie trifft hier auf Décadence-Literatur, Shakespeare-Zitate komplementieren alttestamentarische Dramen und der Leser ist eingeladen, jedem dieser Wege durch die spannende Erzählung zu folgen.
Protagonist ist der titelgebende Graf Henri Neville, ein pensionierter Anwalt, der mit seiner Familie auf einem baufälligen Anwesen in den Ardennen lebt. Wie so viele belgische Adelsfamilien ist auch die seinige von Verarmung bedroht: Das Dach des Schlosses leckt, die schnellen Autos wurden veräußert und in wenigen Tagen wird der Graf den alten Landsitz, Le Pluvier (dt.: „Der Regenpfeifer“), an einen unbekannten Investor verkaufen. Doch zuvor soll, wie in jedem Jahr, eine schillernde Gartenparty gefeiert werden, um ein letztes Mal der verhängnisvollen Familientradition zu folgen – koste es, was es wolle –, Champagner und Macarons an gut betuchte Gäste auszuschenken. Schon einmal haben die Exzesse der Elterngeneration ein Leben gefordert: Nevilles geliebte ältere Schwester verstarb im Teenageralter an den Folgen einer drastischen Unterernährung und der Kälte im zugigen Schloss, während trotz der Armut für das alljährliche Gartenfest gespart wurde. Nun, im Oktober 2014, laufen die Vorbereitungen für die scheinbar letzte Extravaganz der adligen Familie, als eine Hellseherin deren jüngste Tochter bei einem Mondscheinspaziergang vor dem Kältetod bewahrt. Dem schockierten Grafen und Vater der schweigsamen Jugendlichen legt sie nahe, psychologische Hilfe zu suchen und offenbart ihm ungefragt, dass er im Laufe seiner Gartenparty einen der Gäste töten wird.
Für metaphysische Visionen zunächst wenig zu begeistern, kehren Henri und Sérieuse (dt.: „die Ernsthafte“), so der sprechende Name der Jugendlichen, auf das Anwesen zurück, wo Ehefrau beziehungsweise Mutter Alexandra wartet, die Konflikte im Übrigen gern mit dem Hinweis auf den drohenden Untergang der Stadt Venedig beendet. Die älteren Geschwister, wunderschöne, gelinde stupide Menschen namens Orest und Elektra öffnen allein durch ihre Namen das Feld griechischer Mythologie, die sich als Motiv durch den Roman ziehen wird. Auf den Namen seiner Jüngsten angesprochen, antwortet Henri, er habe sie nicht Iphigenie nennen können, da er Vatermord akzeptieren könne, nicht aber Kindsmord – eine Prophezeiung, die es nun zu widerlegen gilt.
Denn nach einigen zwischen Satire, Skurrilität und Ernsthaftigkeit schwebenden Gedankenspielen, an welchem seiner teils ungeliebten Gäste er die Drohung der Prophezeiung denn exerzieren könnte, wird Henri in einer schlaflosen Nacht von Sérieuse aufgesucht. Die mondsüchtige, streitlustige junge Frau bittet ihn eindringlich, ihr die Rolle des unglückseligen Gastes zukommen zu lassen, der die Gartenparty nicht überleben wird. Ein Machtspiel um Schuld, Willensstärke und Grausamkeit entspannt sich zwischen Vater und Tochter. An den drei Tagen, in denen sich die restliche Familie mit dem Polieren von Gläsern und mit falsch versendeten Blumengestecken beschäftigt, liefern sich die beiden ein Wortgefecht, das immer neue Haken schlägt und in seiner thematischen Gewalt doch nie emotional wird.
Nothomb bietet eine große Auswahl möglicher Zugänge zu ihrem kleinen Familiendrama, ohne dem Leser je die selbstgefällige Freude zu lassen, diese selbst zu entdecken. Die Erfolgserlebnisse, die an die Decodierung versteckter Anspielungen in Schlüsselromanen allgemein geknüpft sind, opfert diese Erzählung zugunsten spitzfindiger Einschübe. So erkennt Henri zeitgleich mit seinem Publikum die Parallelen seines Schicksals zu Oscar Wildes Novelle Bunbury or The importance of being earnest – ebenso die Ähnlichkeit des Namens seiner Tochter Sérieuse im Hinblick auf Wildes Komödie. Auch die griechische Mythologie, die mit der Orestie Modell für das Schicksal der verarmenden Familie Neville steht, hat auf nahezu jeder Seite ihre Spuren hinterlassen. Namen und Motive reihen sich aneinander, während die Protagonisten über deren Einfluss auf ihr Leben debattieren. So treffen die gezielt gesetzten Anspielungen auf die europäische Literatur- und Kulturgeschichte auf Figuren, die sich in Wortgefechten aus deren Schatten gleichsam zu befreien zu suchen.
Wer nicht Mystik, sondern eine Auseinandersetzung mit dem Alten Testament zwischen den Zeilen einer Novelle sucht, kann Henri bei der kritischen Hinterfragung des Buchs Hiob verfolgen, während seine Tochter versucht, diesem mit Beethoven-Partituren zu widersprechen. So macht sich der Erzähler eine Freude daraus, die Seiten der Novellen mit referentiellen Perlen aus mehreren Jahrtausenden zu spicken, nimmt dem Leser durch den steten Verweis auf deren explizite Verwendung jedoch die Möglichkeit, deren Wirkung autark zu interpretieren. Dies mag als Manko, als Bevormundung eines sich empört in Frage gestellten Lesers erscheinen und kann doch als ein doppelbödiges Spiel des Erzählers verstanden werden. Die stete Intertextualität scheint auf den ersten Blick keine Wünsche offen zu lassen: Große Namen des westlichen Literaturkanons werden nonchalant erwähnt, bereichert um die klassische Musik- und Philosophiegeschichte – und doch schmeckt die Komposition im Nachgang schal. Es ist das süffisante Plastikeuropa einer von Sekt betrunkenen gebildeten Oberschicht am Abgrund, welches dem Leser präsentiert und zugleich entrissen wird. Nothomb überträgt nicht einfach Sujets der Wilde-Novelle ins Jahr 2014, sie verwandelt vielmehr die Dekadenz des ausgehenden 19. Jahrhunderts in die Angst vor dem Bedeutungsverlust einer sich stets ihrer Kultiviertheit rückversichernden Elite im belgischen Niemandsland. So gewinnt die trockene Erzählstimme eine neue Fähigkeit zur Selbstironie, die dem Leser in die Gesellschaft der Bohème einführt und gleichzeitig deren pedantischen Bildungssnobismus enttarnt.
Der „Nothomb 2015“, wie das Werk mitunter in der französischen Literaturkritik genannt wird, bietet auch psychologisch Stoff für Grübeleien: Der Verfall des Protagonisten, dem die Differenzierung zwischen seiner moribunden Tochter und seiner verstorbenen Schwester mitunter nicht recht gelingt, ist ein düsteres, erschreckendes Lesevergnügen. Gleichzeitig ist es Nothomb wie schon in früheren Werken gelungen, die intensiven Dialoge ihrer Figuren noch zu verschärfen. Weniger klar dagegen wird die spezifisch gegenwärtige Zeit- Einordnung. In Anlehnung an Bunbury mag eine möglichst genaue Rekonstruktion des verarmten Landadels gelungen sein; und doch bleibt schleierhaft, warum die porträtierte Familie scheinbar hermetisch von technischen und sozialen Entwicklungen abgeschlossen in der Narrativik des 19. Jahrhunderts gefangen ist. Die am Ende der 1960er Jahren verhungerte Schwester mag das drastischste, aber keineswegs einzige Beispiel für eine mitunter bizarre zeitliche Verwirrung im Hause Neville sein. Dies könnte eine an die Décadence erinnernde Endzeitstimmung hervorrufen, die den Adel in seinen allerletzten Atemzügen im neuen Jahrtausend überkommt; jedoch bleibt die Verwendung der exakten Datierung längst überholter Motive unklar.
Ob sich nun die Prophezeiung der geschwätzigen Hellseherin am Ende dieser atemlosen Novelle erfüllt, sei an dieser Stelle nicht verraten – doch es sei versichert, dass das Finale, ein Schubert-Konzert am Seeufer des verfallenden Anwesens, dem Motto des Romans treu bleibt: „Der Monströse ist nicht unbedingt würdelos.“ Freunde dieses skurrilen, brutalen und anspruchsvollen Prosawerkes werden glücklicherweise nicht lange warten müssen: Spätestens zur nächsten Rentrée ist wohl mit einem neuen Text Amélie Nothombs, die dem Label „Fräuleinwunder“ weniger denn je zu entsprechen scheint, zu rechnen.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
|
||