Eine Unvollendete

Karl Ernst Laage gewährt mit seinem Bericht zur „Sylter Novelle“ Einblicke in Theodor Storms Schaffen

Von Miriam StriederRSS-Newsfeed neuer Artikel von Miriam Strieder

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Theodor Storms spätes Novellenwerk wird förmlich in den Schatten gestellt von seinem Meisterstück, dem „Schimmelreiter“, der die Forschung nun schon seit vielen Jahren in Bann hält und immer wieder neue Ansatzpunkte bietet. Andere späte Novellen wie „Die Chronik zu Grieshuus“, „Ein Fest auf Haderslevhuus“ oder auch „Renate“ sowie „Ein Bekenntnis“ werden zwar immer wieder en passant betrachtet, konnten aber nie die gleiche Aufmerksamkeit auf sich ziehen wie die letzte vollendete Novelle Storms. Daher ist es kaum verwunderlich, dass das Fragment der „Sylter Novelle“, die ohnehin erst seit etwas weniger als 50 Jahren publiziert ist, kaum in den Blickpunkt der Forschung und breiten Rezeption gerückt ist. Umso erfreulicher ist es, dass sich der renommierte Storm-Forscher Karl Ernst Laage, dem wir in Zusammenarbeit mit Dieter Lohmeier auch die „Sämtlichen Werke“ verdanken, sich nun dieses Stiefkindes der Forschung angenommen und die „Sylter Novelle“ mit einem schmalen, aber höchst informativen Bändchen bedacht hat.

Laage nimmt Storms späte Reise im Jahr 1887 auf die Insel Sylt zum Anlass, eine Spurensuche einzuleiten, die den Leser nicht nur in das Leben Storms in seinen letzten Jahren und gar Monaten mitnimmt, sondern dank zahlreicher zeitgenössischer Fotografien und Zeichnungen auch Sylt vor dem Touristenboom und die Anfänge des Badebetriebs in den Blick nimmt. Immer wieder kommt Storm selbst durch Tagebucheinträge oder Briefe an seine Familie, seine Frau und an Bekannte und Freunde zu Wort, wodurch ein authentisches Bild nicht nur einer Sommerfrische, sondern auch eines Schaffensprozess entsteht, der letztlich in der Schreibtischschublade versanden wird.

Auch wenn das Augenmerk Laages klar auf Storm und dessen Schaffen liegt, kommt er nicht umhin, immer wieder auf die Alltagskultur der beliebten norddeutschen Insel zu verweisen. Dabei liefert er eine interessante und vergnügliche Mischung aus historisch-politischen Fakten und kulturwissenschaftlichen Beobachtungen, die das Bild von Sylt bereichern. 

Storms „Sylter Novelle“ wird von Laage als Atempause vom „Schimmelreiter“ beschrieben und ist tief in der Sylter Sagenwelt und Alltagskultur verwurzelt. Daher ist es umso erfreulicher und nützlicher für eine weitere Auseinandersetzung mit der unvollendeten Novelle, dass Laage dem Bändchen nicht nur die Abdrucke von fünf Sagen aus der Mühlenhoff‘schen Sammlung mitgegeben hat, die offensichtlich Einfluss auf das Fragment genommen haben, sondern auch den erhaltenen Text abdruckt, sodass dieser nun nach 1969 erstmalig wieder zur Verfügung steht.

Neben diesen Bonbons für Sylt-Liebhaber und Storm-Enthusiasten liefert Laage eine schlüssige und höchst informative Einordnung der Novelle, ihrer Motive und ihrer Handlung, sodass sich der gesamte Band wie ein Werkstatt-Bericht aus der Storm‘schen Novellenproduktion liest: Es wird berichtet, wie dem Autor der Stoff für die „Sylter Novelle“ förmlich auf dem Silbertablett geliefert wird, wie seine Tagebuchnotizen seine Überlegungen zu Lokalkolorit und Authentizität widerspiegeln, wie er Schauplätze für seine Novelle nicht nur aufsucht, sondern sie regelrecht in seinen Entwurf einarbeitet und ihm damit den starken lokalen Bezug gibt, der für sein Werk so typisch ist. Vor den Augen der Leser wird der Schaffensprozess des Dichters aufgerollt. Damit bietet sich eine einmalige Gelegenheit, Storms methodisches und akribisches Recherchieren und Zusammenführen der Details nachzuvollziehen. Laages Hinweise und Kommentare, in denen er Bezug nimmt auf die Briefe und Tagebuchnotizen sowie auf den Novellenentwurf selbst, sind dabei eine große Hilfe.

Aber auch das Fragment der „Sylter Novelle“, der Storm eine kreative Unterbrechung von der Arbeit am „Schimmelreiter“ verdankt, wird immer wieder von diesem beeinflusst: Alle Erläuterungen und Hinweise kommen nicht ohne Bezug auf das späte Meisterwerk aus, dessen Schaffensprozess sich als schwierig und immer wieder von Schreibpausen unterbrochen darstellt.

Insgesamt ist Laages Bändchen zum Fragment der „Sylter Novelle“, seine Darstellung der Syltreise Storms mit vielen Abbildungen, Karten und Originaldokumenten sowie Brief- und Tagebuchausschnitten eine große Bereicherung. Wünschenswert wäre eine im Anhang untergebrachte Zeitleiste oder Chronologie der Reise, der Aufenthaltsorte und der (angenommenen) Schaffensprozesse gewesen, aber das kann den überaus positiven Eindruck dieses informativen und unterhaltsamen Buchs nicht schmälern – ein ähnliches Werk für die „Armesünderglocke“ wäre zu wünschen.

Titelbild

Karl Ernst Laage: Theodor Storm auf Sylt und seine ‚Sylter Novelle‘.
Boyens Buchverlag, Heide 2015.
83 Seiten, 9,00 EUR.
ISBN-13: 9783804214125

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