Fundgrube für die deutsche Literaturgeschichte im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts
Gottfried August Bürgers „Briefwechsel“ wird neu ediert
Von Alexandra Pontzen
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseGäbe es die Ballade Lenore nicht, ihren sensationellen Erfolg und ihren nachhaltigen Ruhm, wäre Gottfried August Bürger beim großen Publikum wohl so gut wie vergessen. Ein anderes populäres Werk, zu dem er Wesentliches beigesteuert hat, die Wunderbaren Reisen [ … ] des Freiherrn von Münchhausen wird als literarisches Allgemeingut wahrgenommen und selten mit seinem Namen verbunden. In diesem Fall ist „Popularität, die einzige ächte poetische Seeligkeit“ (Bürger in einem Brief an Johann Heinrich Voß), dem Autorenruhm abträglich geworden. Auch wird seine Volkstümlichkeit nicht immer als ästhetischer Wert begriffen: So hat z. B. der Bänkelsangton seiner noch einigermaßen bekannten Ballade Des Pfarrers Tochter von Taubenhain dieser nicht unbedingt Achtung eingetragen; anders wäre die Mahnung unnötig, sie trotz ihrer gedanklichen Schlichtheit nicht zu verachten, sondern als handfestes Stück Literatur zu respektieren (ausgesprochen in Peter von Matts Buch Liebesverrat).
Doch wie auch immer: Es ist festzuhalten, dass Bürgers Popularität programmatisch gewollt ist und keineswegs unreflektierter Naivität entspringt. Er war ein Volksschriftsteller, aber auch ein poeta doctus. Letzteres bezeugen seine Bemühungen um fremdsprachige Literaturen: Er übersetzte aus dem Griechischen, dem Lateinischen, dem Italienischen und Englischen und war gegen Ende seines Lebens als ̶ unbesoldeter ̶ Göttinger Professor Lehrer und Anreger A. W. Schlegels, also eines Literaturkritikers, den Intellektualität und das Streben nach Universalität charakterisieren.
Bürgers Intellektualität und seine Vielseitigkeit, außerdem seinen Witz und seinen Humor bezeugen seine Briefe in angenehmer Lebhaftigkeit. Er hatte das, was Fontane „talent épistulaire“ nannte. Die literaturgeschichtliche Relevanz seiner Korrespondenz ist früh erkannt worden. Schon 1874 wurde sie von Adolf Strodtmann in einer um Vollständigkeit bemühten, vierbändigen Ausgabe ediert: Briefe von und an Gottfried August Bürger, Ein Beitrag zur Literaturgeschichte seiner Zeit (Berlin 1874), die sich als so dauerhaft nützlich erwies, dass 1970 ein fotomechanischer Nachdruck veranstaltet wurde. Die vorliegende Ausgabe betritt also kein Neuland, sondern muss sich mit Ergänzungen und Verbesserungen begnügen. Hinzugekommen ist eine philologisch überaus korrekte Textpräsentation und eine Kommentierung, die in ihre Genauigkeit und Ausführlichkeit ̶ an einigen Stellen ist man versucht, von Pedanterie zu sprechen ̶ weit über Strodtmanns Erläuterungen hinausgeht.
Bereits Bürgers erste überlieferte Briefe, an den Altphilologen Christian Adolf Klotz, seinen Professor in Halle, demonstrieren Gelehrsamkeit: Sie sind lateinisch geschrieben und werden natürlich ebenso beantwortet. Selbst wenn dann Deutsch zur Sprache der Briefe wird, setzen sie wegen der vielen Zitate und Allusionen beim Adressaten gute Kenntnis der antiken und europäischen Literatur sowie der klassischen Mythologie voraus, von der notwendigen Bibelfestigkeit ganz zu schweigen. Dem heutigen Leser, bei dem es damit hapern mag, kommt der Kommentar zu Hilfe und erleichtert es, den anspielungsreichen und teilweise parodistischen Einschlag vieler Briefstellen zu erkennen. Auch die Sprache der Jurisprudenz wird von Bürger, im Brotberuf Jurist und Amtmann mit richterlichen Aufgaben, gern parodiert. Im fünften Band der Ausgabe sollen der Ankündigung nach seine juristischen Briefe und Schriftstücke gesondert abgedruckt werden.
Für die deutsche Literaturgeschichte der letzten drei Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts ist der Briefwechsel eine Fundgrube, besonders in Bezug auf den Göttinger Hain, dem Bürger zwar nicht regelgerecht beitrat, dem er jedoch derart nahe stand, dass er durchaus als zugehörig gelten kann. Sein in diesem Zusammenhang wichtigster Briefpartner war Heinrich Christian Boie, Herausgeber des Göttinger Musenalmanachs und kommunikatives Zentrum des Hainbunds. Durch die Briefe von ihm und an ihn sind wir über die Entstehungsgeschichte der Lenore, die im Herbst 1773 im Göttinger Almanach für 1774 erschien, bis hin zu Varianten genau unterrichtet, und die Begeisterung, die sie auslöste, nicht zuletzt beim Dichter selbst, ist bestens belegt: „Gottlob! nun bin ich mit meiner unsterblichen Lenora fertig! ruf‘ [ … ] ich in dem Taumel meiner noch wallenden Begeistrung Ihnen zu. Das ist dir ein Stück, Brüderle! ̶ Keiner, der mir nicht erst seinen Batzen giebt, solls hören. Ists möglich, daß Menschen Sinne so was köstliches erdenken können? Ich staune mich selber an, und glaube kaum, daß ichs gemacht habe. [ … ] Wahrlich! Cose dette mai ne in prosa ne in rime.“ Das italienische Zitat ̶ „Dinge, noch nie in Prosa oder in Versen gesagt“ ̶ bezieht sich ursprünglich auf Ariosts Orlando furioso und zeigt, wie Bürger selbst im Taumel der Begeisterung von seiner Belesenheit Gebrauch zu machen weiß.
Neben Boie ließen sich weitere wichtige Korrespondenten auflisten, ohne dass man der Vielfalt der Informationen und der Gesichtspunkte auch nur annähernd gerecht werden könnte. Zudem kann man eine auf fünf Bände projektierte Ausgabe nicht hinreichend vorstellen, solange nicht mehr vorliegt als der erste Band. Es sei nur der berühmteste Briefpartner herausgegriffen: Im Februar 1774 war es Goethe, der den Kontakt suchte, indem er die zweite Auflage seines Götz von Berlichingen an Bürger schickte und dazu schrieb: „Ich thue mir was drauf zu gute, dass ich’s binn der die Papierne Scheidewand zwischen uns einschlägt. Unsre Stimmen sind sich offt begegnet und unsre Herzen auch. Ist nicht das Leben kurz und öde genug? sollen die sich nicht anfassen deren Weeg mit einander geht.“ Die Begegnung der Stimmen ist fast wörtlich zu nehmen: In Dichtung und Wahrheit erzählt Goethe, dass er Bürgers Lenore gern und erfolgreich rezitiert hat.
Das Geschenk des Götz war nicht nötig, um Bürger zu einem enthusiastischen Bewunderer des Stücks zu machen. Er hatte es schon in einer früheren anonym erschienenen Ausgabe gelesen und war begeistert gewesen: „[ … ] mag doch der LesePöbel [ … ] bey dem Arschlecken den Rüssel verziehn! Solches Gesindel mag diesem Verfasser im Arsche lecken. / O Boje wissen Sie nicht wer er ist? Sagen Sie, sagen Sie mirs! daß ihm meine Ehrfurcht einen Altar baue. [ … ] Dieser Götz von Berlichingen hat mich wieder zu 3 neüen Strophen zur Lenore begeistert.“ Der Sprung vom Götz zur Lenore kommt überraschend, verdeutlicht jedoch gerade deswegen, dass Bürger von einer Gattungsgrenzen überschreitenden Wesensverwandtschaft zwischen seinem und Goethes Dichtertum ausgeht.
Nach der Lektüre des Werther schrieb er dem Autor einen Brief, in dem sich bombastischer Sturm und Drang mit empfindsamer Mitteilsamkeit verbindet: „Laß dich herzlich umarmen, oder, da du mir zu hoch stehst, deine Knie umfassen, du Gewaltiger, der du, nach dem großmächtigsten Shakespeare, fast allein vermagst, mein Herz von Grund aus zu erschüttern und diese trocknen Augen mit Thränen zu bewässern! Gestern Abend erst hab ich Werthers Leiden gelesen. Du bist mir diese Nacht im Traum erschienen, und ich habe ̶ mein Weib hats gehört ̶ in deinen Armen überlaut geschluchst [ … ]“. Goethe antwortete herzlich, aber knapp und vielleicht nicht ohne Ironie: „Gott seegne dich lieber Bruder mit deinem Weibe, und wenn Du an ihrem Herzen wohnst, dencke mein und fühl dass ich dich liebe.“
Aber allmählich verlor sich der hochgestimmte Freundschaftston. Das auf keiner persönlichen Begegnung beruhende Duzen, lediglich das Spezifikum einer zeitlich und personal eng begrenzten literarischen Briefkultur, wurde fallengelassen, wahrscheinlich zuerst von Goethe; ihm dürfte die Freundschaft mit Bürger, der mit seiner Lebens- und Berufssituation haderte, problematisch geworden sein.
Der Kontakt schlief ein und drehte sich schließlich nur noch um den von Wieland und Goethe geförderten Plan Bürgers, die Ilias in deutsche Jamben zu übersetzen. Im Zusammenhang damit druckt die Ausgabe die im Teutschen Merkur erschienene Abhandlung Bürger an einen Freund über seine teutsche Ilias als undatierten Brief Bürgers an Wieland ab, obwohl die Einkleidung in Briefform eindeutig fiktional ist und Wieland überhaupt nicht genannt wird. Die Übersetzung blieb unvollendet, und darüber, ob Bürger die 51 Louisdor, die ihm Goethe seitens des Weimarer Subskribentenkreises geschickt hatte, zurückerstattete, gibt vielleicht der Kommentar des nächsten Bandes Auskunft.
Vorweggenommen sei jedoch die einzige persönliche Begegnung zwischen Bürger und Goethe; sie führt die Kluft zwischen der sogenannten „Geniezeit“ und der Weimarer Klassik anschaulich vor Augen. Als Bürger sich im April 1789 in Weimar aufhielt, besuchte er auch Goethe. Dieser empfing ihn so betont förmlich, dass der Besucher seiner Enttäuschung in verbitterten Versen Luft machte:
Mich drängt‘ es in ein Haus zu gehn,
Drin wohnt‘ ein Künstler und Minister.
Den edlen Künstler wollt‘ ich sehn
Und nicht das Alltagsstück Minister.
Doch steif und kalt blieb der Minister
Vor meinem trauten Künstler stehn,
Und vor dem hölzernen Minister
Kriegt ich den Künstler nicht zu sehn.
Hol ihn der Kukuk und sein Küster!
Der kalte Empfang durch den, der ihm einst dauerhafte Gemeinsamkeit angeboten hatte, war eine narzisstische Kränkung, die der Gekränkte zu mildern sucht, indem er sie aus dem sozialen Gefälle herleitet, das sich zwischen ihnen mittlerweile ergeben hatte.
Das sah Goethes natürlich anders, vor allem in der Altersrückschau, und beanspruchte für sich sittliche Überlegenheit, wenn auch verklausuliert. „Bürger“, sagte er gegenüber Eckermann, „hatte zu mir wohl eine Verwandtschaft als Talent, allein der Baum seiner sittlichen Kultur wurzelte in einem ganz andern Boden und hatte eine ganz andre Richtung. Und jeder geht in der aufsteigenden Linie seiner Ausbildung fort, so wie er angefangen. Ein Mann aber, der in seinem dreißigsten Jahre ein Gedicht wie die ‚Frau Schnips‘ schreiben konnte, mußte wohl in einer Bahn gehen, die von der meinigen ein wenig ablag.“ Eckermanns Aufzeichnung ist zuverlässig, denn ganz Ähnliches schrieb Goethe an Zelter. Übrigens hatte er schon 1791 Schillers Rezension Über Bürgers Gedichte zustimmend gelesen, in welcher der Bürgerschen Muse ein zu sinnlicher, oft gemeinsinnlicher Charakter bescheinigt wird, weil es dem Dichter nicht gelungen sei, die eigene Individualität zu veredeln.
Die von Goethe als Ärgernis empfundene Frau Schnips ist die Übersetzung einer scherzhaften Ballade, auf die Bürger in Percys Reliques of Ancient English Poetry gestoßen war, The Wanton Wife of Bath: Einer Frau, die liederlich gelebt hat, wird nach ihrem Tod der Einlass in den Himmel verwehrt. Aber sie verschafft ihn sich dadurch, dass sie auf biblische Sünder und Sünderinnen verweist, die bereits dort sind, u. a. Lot, David, Judith und Maria Magdalena, und somit vom Heiland Vergebung auch für sich selbst erwirkt. Der Übersetzung hat Bürger eine „Apologie“ angehängt, in der er die „Zeloten“ unter seinen Zeitgenossen auffordert, das Gedicht nicht zu verdammen. Demnach hielt er den Text, der heute so hausbacken wirkt wie eine Büttenrede, für brisant.
Die Brisanz dürfte sich weniger aus allgemeinen Moralvorstellungen erklären, vielmehr lag sie in einem naheliegenden autobiographischen Bezug. Bürger führte ein „skandalöses“ Liebesleben, wobei hauptsächlich an den ménage à trois mit seiner ersten Frau und deren Schwester zu denken ist, und hatte einen entsprechend schlechten Leumund. Beispielsweise wurde A. W. Schlegel, bevor er zum Studium nach Göttingen ging, vor dem Umgang mit Bürger gewarnt. Nur wenige waren so verständnisvoll wie Leopold Friedrich Goeckingk, Anakreontiker aus dem Gleim-Kreis, der ebenso wie Bürger seine Schwägerin liebte. Die gleiche erotische Konstellation machte die Freundschaft zwischen ihm und Bürger offenherzig; in einem Brief an Goeckingk lässt Bürger sogar dessen „Harem“ grüßen, was offenbar möglich war, ohne Irritation zu wecken.
In seinem Brief vom Februar 1790 an seine spätere dritte Frau, in dem Beichte und Apologie einander durchdringen, schreibt Bürger: „Übrigens kann ich nicht bergen, daß man mich für einen ziemlichen Libertin hält, und leider! nicht ganz Unrecht hat.“ Wenn der Brief im dritten oder vierten Band dann an der Reihe ist, dürfte dieser Satz und, was ihm folgt, näher erläutert werden. Denn die Herausgeber wollen sich dem Vorwurf der „Unterrockschnüffelei“ getrost aussetzen und mit ihrer Ausgabe „in rücksichtsloser Ehrlichkeit einen Zugang zu den lebensweltlichen und kultur-, rechts-, sozial-, mentalitäts- und dichtungsgeschichtlichen Verhältnissen des 18. Jahrhunderts an einem sehr prägnanten (wiewohl eklatanten) Beispiel […] schaffen.“
Dass die Ausgabe nicht nur der Literaturgeschichte dienlich ist, beweisen u. a. die vielen Briefe an Ernst Ferdinand Listn, einen Vorgänger Bürgers auf der Amtmannsstelle. Sie haben mit Literatur wenig zu tun; behandelt werden Alltagsfragen, vor allem Geldgeschäfte, die einem Leser, der ausschließlich literarisch interessiert ist, schwer durchschaubar bleiben. So viel jedoch scheint sich zu erschließen: Mit Geld wusste Bürger nicht umzugehen, was sich verallgemeinern lässt zu der Feststellung, dass es ihm an Lebensklugheit überhaupt fehlte – ein Defizit, das dazu führte, dass er gegen Ende seines Lebens den Eindruck eines Gescheiterten machte. Auch das unterscheidet ihn von Goethe.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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