Wer war der Richter Jesu?
Zwei mögliche Antworten: Pontius Pilatus in Michail Bulgakows „Der Meister und Margarita“ und Friedrich Dürrenmatts „Pilatus“
Von Annika Saß
Der Name „Pontius Pilatus“ ist in unserem Kulturkreis wohl jedem Menschen bekannt und das, obwohl der römische Prokurator in Judäa historisch eine äußerst unbedeutende Rolle spielte. Auch in unserer Sprache ist Pilatus fest verankert – man denke nur an die Sprichwörter „von Pontius zu Pilatus“ oder „ich wasche meine Hände in Unschuld“. Verantwortlich für seinen zweifelhaften Ruhm ist die Rolle, die Pilatus bei der Kreuzigung Jesu Christi gespielt hat. Auch heute noch erwähnen Christen aus aller Welt regelmäßig seinen Namen im Glaubensbekenntnis, in dem es heißt: „gekreuzigt unter Pontius Pilatus“. Was genau seine Rolle bei der Kreuzigung war, lässt sich historisch nicht mehr genau rekonstruieren, denn die Quellenlage ist sehr dünn und viele historische Dokumente über ihn wurden vermutlich im Nachhinein verändert.
Dass es so wenige gesicherte Informationen über Pilatus gibt, ist für viele Schriftsteller vielleicht ein Anreiz gewesen (und ist es noch), diese Leerstellen auszufüllen: In der Literatur gibt es Pilatus-Figuren mit unterschiedlichen Persönlichkeiten, Problemen, Gedanken und schließlich mit sehr verschiedenen Motiven, das Todesurteil über Jesus zu verhängen.
Friedrich Dürrenmatt zum Beispiel zeichnet in seiner 1951 erschienenen Erzählung Pilatus ein sehr spezielles Bild des Prokurators und auch Jesu. Sein Text ist geprägt von düsteren Bildern und bedrohlichen Szenen und konzentriert sich auf die sehr bildhafte Darstellung der Innenwelt eines Individuums. Ohne den Titel und ohne Kenntnis der biblischen Geschichte wäre die Handlung der Erzählung schwer zu verstehen, so wenig wird über das Geschehen berichtet. Dafür werden die Erlebenswelt Pilatusʼ, seine Wahrnehmung und seine Gefühle ausführlich beleuchtet. Sein ganzes Erleben ist in der Erzählung geprägt von Angst. Er sieht vor sich einen Menschen, der von einer aufgebrachten Menge zum Verhör zu ihm gebracht wird, und weiß sofort, dass es sich um einen Gott handelt. Woher er das weiß, wird nicht klar, das Wissen scheint einfach da zu sein.
Pilatus hat ein genaues Bild von Göttern, er kennt die römischen Götter, die mit Menschen spielen wie mit Schachfiguren, sie willkürlich quälen und belohnen. Er ist davon überzeugt, dass dieser Gott gekommen sei, um ihn zu vernichten. Jesus wird in der ganzen Erzählung nicht „Jesus“ genannt, sondern „ein Gott“, „der Gott“ oder einfach nur „Gott“. Er zeichnet sich besonders durch seine Passivität aus, und diese macht Pilatus besonders große Angst. Er versucht mit allen Mitteln, „dem Gott“ eine Reaktion zu entlocken: Er lässt ihn foltern, schickt ihn zu Herodes, der ihn verspottet und verurteilt ihn schließlich zum Tod am Kreuz. Sehr bildhaft beschreibt Dürrenmatt Pilatus‘ Panik: „Zusammengekrümmt wie ein Tier vor Entsetzen lag er irgendwo ohne Schlaf zwischen den kahlen Wänden seiner Gemächer, an denen sich die Flamme der Öllampe spiegelte“. „Der Gott“ ist für Pilatus ein existenziell persönliches Problem. Politisch besteht für ihn überhaupt nicht die Möglichkeit, anders zu handeln, als er es tut, beziehungsweise stellt er sich diese Frage gar nicht. Für Dürrenmatt waren die Eindrücke und Gefühle von Pilatus interessant, die in der Bibel überhaupt nicht zu finden sind. Die politischen Konflikte, die die ganze Geschichte erst hervorrufen, sind ihm egal. Er möchte den Menschen Pilatus entwerfen, von seinen ganz intimen, persönlichen Problemen und Gefühlen berichten. Alles rationale, sogar die Entscheidungsfindung von Pilatus, wird konsequent ausgeblendet. Hier wird nicht, wie in den Evangelien, verkündet oder die Wahrheit berichtet. Pilatus sieht sich in die Zwickmühle gedrängt von einem übermenschlichen Wesen, von dem er überzeugt ist, dass es ihn vernichten möchte. Der römische Pilatus versteht die christliche Botschaft nicht, da er nur Götter kennt, die mit Menschen wie mit Schachfiguren spielen und denen die Menschen egal sind (so wie auch Pilatus die Juden, die Menge, egal sind). Am Ende der Erzählung, nachdem „der Gott“ gekreuzigt und begraben wurde, erhält Pilatus einen Bericht, dass das Grab leer sei. Pilatus reitet selbst hin, um das leere Grab zu sehen. Die letzten Sätze der Erzählung zeigen Pilatus vor dem leeren Grab durch die Augen eines seiner Sklaven: „Ein Sklave aber stand hinter ihm, und der sah dann des Pilatus Gesicht: Unermeßlich war es wie eine Landschaft des Todes vor ihm ausgebreitet, fahl im frühen Lichte des Morgens, und wie sich die beiden Augen öffneten, waren sie kalt.“ Als Pilatus merkt, dass er Recht hatte, dass es sich bei dem Gekreuzigten um einen Gott gehandelt hat, der nun wieder auferstanden ist, bekommt der Leser nicht mehr seine Gedanken und Gefühle, seine Eindrücke zu lesen, sondern nur noch mit den Augen des Sklaven einen Blick „von außen“ auf sein lebloses Gesicht und seine kalten Augen. Durch dieses Ende wird nicht klar, wie es mit Pilatus weitergeht. Wie schon vorher in der Erzählung sind Äußerlichkeiten, beispielsweise seine Karriere, nicht wichtig. Was wichtig ist, ist wieder die innere Entwicklung von Pilatus: Seine Augen sind kalt, wie tot. Er ist an der Begegnung mit dem ihm unbegreiflichen Gott zerbrochen.
Dürrenmatt, der Pfarrerssohn, der in seinem eigenen Glauben oft unsicher war, beschreibt die Begegnung eines Menschen mit etwas ihm Unbekannten, Göttlichen. Wie kann ein Mensch mit einer Gottheit umgehen, die ganz anders ist, als er es erwartet? Die nicht mit ihm kommuniziert, nicht auf seine Rückfragen antwortet? Dürrenmatt verwendet die Begegnung zwischen Pilatus und Jesus, um einen ganz persönlichen Konflikt eines einzelnen Menschen zu zeigen.
Ein anderer Autor des 20. Jahrhunderts, Michail Bulgakow, verarbeitet die Geschichte auf ganz andere Art – sein Pilatus hat keine Begegnung mit einem Gott, denn sein „Jesus“ (Jeschua) ist ein menschlicher Prediger, der Pilatus durch seine Worte beeindruckt und nicht durch seine bloße Anwesenheit, wie in Dürrenmatts Erzählung. Im Roman Der Meister und Margarita, den Michail Bulgakow zwischen 1929 und 1940 schrieb, ist Pilatus ein von Migräne geplagter Mann, der dem politischen Druck durch den jüdischen Hohepriester nachgibt und die Jesusfigur zum Tode verurteilt, dies aber später bitter bereut. Die Erzählung von Pilatus ist ein Roman im Roman und erstreckt sich über vier Kapitel von Der Meister und Margarita. Der Pilatus-Roman ist das Werk des Meisters, eines in Moskau lebenden Künstlers, der stark unter der Zensur zu leiden hat und aufgrund seines Romans in ein Lager verschleppt wird. Weil seine Geliebte, Margarita, einen Pakt mit dem Teufel eingeht, befreit der Teufel ihn und stellt auch seinen Pilatus-Roman wieder her (den der Meister vorher verbrannt hatte) – mit dem berühmten Satz „Manuskripte brennen nicht“. Wie der Pilatus-Roman in Der Meister und Margarita war auch Bulgakows Werk selbst stark von der Zensur betroffen. Bulgakow wusste das und versuchte zu seinen Lebzeiten gar nicht, ihn zu veröffentlichen. Der Roman konnte in Russland erst nach seinem Tod veröffentlicht werden, nämlich1966 und 1967 in zwei Teilen und stark zensiert in der Literaturzeitschrift Moskva.
Im Pilatus-Roman des Meisters wird die Kreuzigungsgeschichte aus der Sicht von Pontius Pilatus berichtet. Dieser leidet unter starker Migräne und wünscht sich nichts mehr, als das Verhör mit Jeschua (der Jesus-Figur) hinter sich zu bringen und sich mit seinem Hund in sein Schlafgemach zurückzuziehen. Zunächst erscheint ihm Jeschua wie ein ganz gewöhnlicher Jude, einer von zahlreichen selbsternannten Propheten, die es zu der Zeit in Jerusalem gab. Als er ihn nach seiner Botschaft befragt, sagt Jeschua, dass ein Reich der Wahrheit kommen werde, in dem keine Gewalt mehr notwendig sei. Pilatus, mit den Gedanken woanders, fragt: „Was ist Wahrheit?“ und Jeschua antwortet: „Die Wahrheit ist, dass dich der Kopf schmerzt.“ An dieser Stelle wandelt sich das Gespräch, es wird von einem Routine-Verhör zwischen Prokurator und Gefangenem zu einem persönlichen Gespräch, bei dem auch die Kopfschmerzen verschwinden. Pilatus ist fasziniert von Jeschuas Botschaft und möchte ihn unbedingt weiterhin um sich haben. Deswegen wehrt er sich dagegen, das vom jüdischen Hohen Rat geforderte Todesurteil zu verhängen und bittet in einem persönlichen Gespräch den Hohepriester Kaiphas, ihn Jeschua begnadigen zu lassen. Kaiphas jedoch droht ihm mit politischen Konsequenzen und so sieht sich Pilatus gezwungen, Jeschua zu verurteilen. Diese Entscheidung raubt ihm jedoch später den Schlaf: Er quält sich und bedauert seine Feigheit, wiederholt immer wieder den Satz „Feigheit ist die schlimmste aller Sünden“. Im fantastischen Epilog des Romans treffen der Meister und seine Figur aufeinander – der Meister befreit Pilatus nach 2000 Jahren von der Buße und der Reue, die dieser erleiden musste und Pilatus wird wieder vereint mit dem Wanderprediger Jeschua.
Bulgakows Pilatus-Figur ist ein untergeordneter Machthaber eines totalitären Staates, der aus Angst um seine Karriere Entscheidungen trifft, die er persönlich nicht gutheißt und funktioniert als Bild für das russische Regime 2000 Jahre später. Jeschua, der (wie der biblische Jesus) von Frieden, Wahrheit und Gerechtigkeit spricht, steht in starkem Kontrast zu ihm, ist aber am Ende des Buches klar die überlegene Figur. Liest man Pilatus als eine Allegorie für einen sowjetischen Funktionär, muss man Jeschuas Utopie eines Reiches der Wahrheit und Gerechtigkeit, in dem keine Gewalt mehr nötig ist, als Utopie für Russland lesen.
Die Texte von Friedrich Dürrenmatt und Michail Bulgakow wurden sehr zeitnah geschrieben und veröffentlicht und erzählen beide vom gleichen Ereignis: der Begegnung zwischen Pontius Pilatus und Jesus von Nazareth, dem Gerichtsurteil und der Kreuzigung. Dennoch sind beide Texte sehr unterschiedlich in der literarischen Umsetzung dieses Ereignisses: während bei Bulgakow Pilatus nicht nur in den historischen Kontext gesetzt wird, sondern sein Handeln auch noch in Beziehung mit ganz anderen historischen Begebenheiten gesetzt wird, steht bei Dürrenmatt das individuelle Erfahren von Pilatus im Vordergrund. Die beiden Texte eignen sich zu einem Vergleich eben gerade, weil sie die gleiche Figur auf grundsätzlich unterschiedliche Art und Weise behandeln.
Bibliographische Angaben:
Bulgakow, Michail: Der Meister und Margarita. Übers. aus dem Russischen von Thomas Reschke. München, Luchterhand 2006.
Dürrenmatt, Friedrich: Pilatus. Erzählung. Zürich, Verlag ‚Die Arche‘ 1952.
Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz