Ein Verzicht, Dunkelheit und Distanz zu überwinden

Martin Amis’ Roman „Interessengebiet“ will eine Identifizierung mit seinen Figuren gar nicht erst bieten – auf Kosten echter Auseinandersetzung mit ihnen

Von Gunnar KaiserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gunnar Kaiser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es gibt Werke, die aufklären, und solche, die verdunkeln. Es gibt Werke, die Nähe ermöglichen, und solche, die Distanz schaffen. Martin Amis’ neuer Roman „Interessengebiet“ bringt sicherlich kein Licht ins Dunkel und auch Nähe zu seinen Figuren und den Ereignissen will er kaum zulassen. Angesichts seines Settings – das KZ Auschwitz in den Jahren ab 1942 – garantiert das fast schon seine Lesbarkeit. Denn ein literarisches Werk, das mit dem Anspruch daherkäme, über Zweck, Gründe und Hintergründe des Holocaust aufzuklären, wäre wohl schon von der ersten Seite an zum Scheitern verurteilt. Die Frage nach dem Warum trotzdem immer neu zu stellen und immer neu vor der Aporie zu stehen, die die Vergangenheit uns aufgegeben hat, ist schon Aufgabe genug. Sich den einfachen Antworten und Erklärungen zu verweigern, ebenso.

Aber wie ist es mit der Nähe? Können wir guten Gewissens einen Roman lesen, der uns Identifikation mit dem Unerklärlichen bieten will? Der Einfühlungsvermögen da bemüht, wo das Einfühlen schon an der Grenze zum moralisch Verwerflichen wäre? Auch dies kann und will Amisʼ neuer Roman nicht gewährleisten. Da ist es nur konsequent, wenn wir mit den Protagonisten von „Interessengebiet“ zwar längere, aber immer doch distanzierte Bekanntschaft machen. Und wenn ihre Geschichte uns eigentlich gleichgültig sein könnte. Angelus „Golo“ Thomsen, Verbindungsoffizier in den Buna-Werken, verliebt sich in Hannah Doll, die junge Frau des Lagerkommandanten. Der, ein Säufer und Ehebrecher, selbst- und gewaltverliebt, geht seinen Geschäften nach, führt gewissenhaft Buch über Tablettengebrauch und Stuhlgang und „kümmert“ sich um die von ihm geschwängerte Lagerinsassin Alisz Seisser. Eine weitere Geschichte erzählen die beiden in der Rückschau auf Hannahs ehemaligen Geliebten, den Widerstandskämpfer Dieter Krüger.

Der Roman wird abwechselnd aus drei verschiedenen Perspektiven erzählt – aus Golos, Pauls und derjenigen des jüdischen Häftlings Szmul. Dessen Rolle als „Sonderkommandoführer“, als der er die dreckigsten Aufgaben erledigen muss, die im KZ anfallen, macht ihn zum Vertreter der „anderen Seite“, ohne die der Roman vielleicht tatsächlich zu dem Skandal geworden wäre, für den sein Autor ihn gerne hält. Mit ihm, und das scheint die einzige Funktion seiner Anwesenheit zu sein, erhält der Roman ein Gleichgewicht, das angesichts der geschilderten Ereignisse nicht angebracht zu sein scheint. Den Mut, den ein Jonathan Littell hatte, als er in seinem Roman „Die Wohlgesinnten“ auf 1400 Seiten einen SS-Offizier seine Sicht der Dinge erzählen ließ, besitzt Amis nicht.

Golos und Pauls teils memoirenhafte, teils monologisierende Berichte, ihre Erinnerungen an die Zeit im „Kat Zet“ dienen vor allem der Beleuchtung der Charaktere, die sich in einem solchen System herausbilden – oder die ein solches System gar benötigt. Denn neben der Frage nach dem Grund ist es ja vor allem die Frage danach, wie Menschen sein müssen, um an den Verbrechen des Holocaust aktiv zu partizipieren. Und auch diese Frage, so unbeantwortbar auch sie sein mag, zu stellen, erfordert einen gewissen Mut, wenn man sie ehrlich angeht und keine Tabus scheut.

Amis’ Methode ist es nun, die KZ-Ebene konsequent mit dem Bereich Männlichkeit, Lust und Sex zu verbinden. Damit bringt er eben diesen Mut auf. Der Nazi erscheint – wie könnte es bei Amis anders sein – ganz als typischer Mann, als Schwein und Chauvinist, der selbst in seinen besten Momenten sein Gegenüber bloß als Mittel zum Zweck, nämlich dem des Lustgewinns und der Selbstbestätigung sehen kann. Gemeinhin schockiert uns der Gedanke, dass Menschen, die abgrundtief Böses tun, dies aus ganz banalen, ja menschlichen Gründen tun können. Banal sind die Täter, weil sie auch Familienväter sind, Bier mögen und den Urlaub in Berchtesgaden verbringen. Dass das Böse aber banal ist, wird uns bei nichts so deutlich wie bei der Vorführung der Triebhaftigkeit der Täter, die in ihrer ganzen Armseligkeit, Niveaulosigkeit, fast bemitleidenswerten Durchschnittlichkeit eben wieder so menschlich-männlich wirken, dass man sich beim Lesen stellenweise gruselt. Golos Schürzenjägerei, seine moralische Indifferenz gegenüber den Inhaftierten, Pauls kaltblütige Berechnung in seinem Umgang mit seiner Frau und dem Sinti-Mädchen Alisz – all das zeigt Amis auf der Höhe der Kunst, für die er seit dem „Rachel-Tagebuch“ und „Gierig“ berüchtigt ist.

Eine nur geringe Rolle spielt hier die mit Tätern wie Adolf Eichmann verbundene Befreiung von persönlicher Verantwortung, wie er sie unter einem fälschlicherweise als kantianisch verstandenen Pflichtbegriff zu rechtfertigen gesucht hat. Nur Befehle befolgt zu haben, nur seine Pflicht als Deutscher erfüllt zu haben, dies galt solchen Menschen als Ausweis ihrer Tugendhaftigkeit. Doch zu rechtfertigen suchen die Täter im Roman hier wenig bis nichts – teilweise sind sie sich der Immoralität ihrer Taten, ihrer gesamten Existenz bewusst, teilweise blenden sie sie wohlweislich aus.

Damit werfen sie die Frage auf, ab wann unsere Beschäftigung mit den gruseligen Gestalten der Geschichte zu bloßem Voyeurismus, selbstgerechtem noch dazu, verkommen ist. Dieser Voyeurismus, der auch bei dem Schauer vor der Beschreibung des schrecklichen Schicksals Szmuls oder Aliszʼ nicht immer Halt macht, wird befeuert von der gesamten Anlage des Romans, der so deutlich als wohlbedachte Provokation daherkommt. Das „Darf man das?“, das die Lektüre begleitet, ist oft nicht mehr als die ein wenig selbstgefällige Lust nach Sensation und Ärgernis, das Grenzen-übertreten-Wollen um jeden Preis. In diesen Momenten kommt „Interessengebiet“ nicht über den Status einer literarischen Empörungsrequisite hinaus, die dem Autor wieder einmal zu ein paar aufgeregten Zeilen in den Spalten des Klatschfeuilletons verhelfen soll.

Die internationale Einheit für solch berechnende Provokation auf dem Feld des modernen Romans ist seit den 1970er-Jahren der Amis. „Interessengebiet“ hat jedoch nur einen Amis von höchstens 0,5. Der französische und der deutsche Verlag, die Martin Amis’ Werke in der Vergangenheit veröffentlicht haben, wollten „Interessengebiet“ nicht verlegen. Nach der Lektüre ist man sich nicht sicher, ob es die moralische Fragwürdigkeit des Spiels mit Tabus ist, die zu der Ablehnung geführt hat, oder der Mangel an literarischer Qualität, der sich dem Roman durchaus vorwerfen lässt, oder doch einfach nur Amisʼ horrende Honorarforderungen.

Dabei ist „Interessengebiet“ an vielen Stellen gelungen satirisch; die spröde, teils sarkastische Sprache passt zu den gescheiterten Figuren, die sie sprechen – wenn man einmal von Szmul absieht, der eine Abgeklärtheit an den Tag legt, die man angesichts seiner Situation für nicht sehr plausibel hält. Die Banalität der Figuren und die Abgedroschenheit ihrer Sprache bildet geradezu deutliche Gegensätze zum Inhalt ihrer Erinnerungen, ihres Small Talks und ihrer oft unerträglichen Auslassungen über den Krieg, das „Wesen der Juden“, die Vorgänge der Sortierung an der Rampe und der Funktionalität der Gaskammern. Ein Gegensatz, der in seiner Geschmacklosigkeit zur Ausstattung eines jeden Romans gehört, der heute noch Schockpotenzial haben will. Ein wenig schwierig wird es für den deutschen Leser, der die im englischen Roman in einem recht seltsamen Deutsch stehenden Begriffe und Sätze, die Amis als eine Art Authentizitätsgarant einfügt, nicht eindeutig als solche identifizieren kann. Der Übersetzer, Werner Schmitz, ist hier nicht zu beneiden. Die (beabsichtigte) Fehlerhaftigkeit des Originals beizubehalten, sie für den deutschen Leser jedoch nicht zum Ärgernis zu machen, ist eine kaum befriedigend zu lösende Aufgabe. Auch die seltsame Namensgebung, das beinahe holzschnittartige „Wagnerisieren“ deutscher Figuren mit ach so typischen Namen wie Frithuric, Suitbert, Romhilde oder Baldemar, die Tatsache, dass die Frau des Lagerkommandanten einen jüdischen Vornamen trägt, die oft unbeholfen daherkommenden historischen Verortungen, bei der sich der allwissende Erzähler mit seinem angelesenen Geschichtswissen meldet und die in der Rede der Figuren oft unnötig, unplausibel wirkt – all das trägt zu einer Art Verfremdungseffekt bei, der dem Roman nicht immer gut tut. 

Der Schweizer Verlag Kein & Aber hat den Roman mit einem Nachwort versehen, in dem Amis Auskunft über die Hintergründe seiner Beschäftigung mit dem Thema sowie über historische Darstellungen und Quellen gibt. Hier finden sich die landläufigen Zitate von W. G. Sebald, Primo Levi und anderen. Sie dienen vor allem der Absicherung und Selbstbestätigung: „Vielleicht kann man das Geschehene nicht begreifen, ja darf es nicht begreifen.“ (Levi) Interessant ist, dass man dieses Nachwort mit wenigen Änderungen hinter jedes zweite belletristische Werk setzen könnte, das sich mit dem Nationalsozialismus und der Judenverfolgung ‚beschäftigt‘. Das Begreifverbot, will sagen: die nur zu gern in Anspruch genommene Lizenz zum Nichtverstehen des Holocaust steht einer echten, teilnehmenden Auseinandersetzung im Weg.

Daran wird deutlich, wie austauschbar das Setting doch ist. Die Frage, ob uns die Geschichte interessieren würde, wenn sie nicht in Auschwitz spielte, lastet bleischwer auf dem Roman. Einsicht darin, wie Menschen beschaffen sein müssen, die bei der geplanten millionenfachen Ermordung mitgemacht und von ihr profitiert haben, verschafft er uns nicht; am ehesten noch die Einsicht, dass die Protagonisten bis in höchste Stellen selber keine Antwort darauf hätten liefern können.

Die Geschichte, von der ein im Nachkriegsdeutschland spielender Epilog mehr ablenkt als dass er sie erklärt, ist schnell erzählt und im Grunde die alte: Ein Jüngling liebt ein Mädchen, die hat einen andern erwählt … Holocaust-Kitsch ist das sicherlich noch nicht, dazu schreibt sich Amis zu geschickt an den herkömmlichen Stereotypen vorbei. Auch die Charaktere sind allesamt mehr oder weniger konturenlos, wie es sich gehört. Denn wahre Identifizierung, entweder mit Tätern oder mit Opfern, wäre das wahrhaft Schreckliche, etwas, was wir durch alle künstlerische Verfremdung hindurch nicht aushalten würden. Das „Ihr seid nicht besser“, das der SS-Offizier Dr. Max Aue in Jonathan Littells „Wohlgesinnten“ formuliert, begleitet den Roman auf jeder Seite. Hier jedoch können wir uns mit dem behaglichen Gefühl abwenden, dass das Gegenteil wahr ist. Auch die Unterscheidung zwischen Gut und Böse fällt, trotz aller menschlichen Züge, nicht schwer. Stets wissen wir, auf wessen Seite unsere Sympathie zu liegen hat. Vielleicht macht es uns Amis damit zu einfach. 

Es gibt Leser, die Aufklärung suchen und Nähe zu dem, was sie nachvollziehen wollen. Es gibt aber auch solche, denen Dunkelheit und Distanz nicht nur reicht, sondern ganz genehm ist. Die werden in „Interessengebiet“ ein Werk finden, das von vornherein darauf verzichtet, Dunkelheit und Distanz zu überwinden.

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Martin Amis: Interessengebiet.
Übersetzt aus dem Englischen von Werner Schmitz.
Kein & Aber Verlag, Zürich 2015.
425 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783036957241

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