Die Große Erzählung von Internierung und Disziplinierung

Mit „Die Strafgesellschaft“ erscheint Michel Foucaults Vorlesungsreihe aus dem Winter 1972/73

Von Jan-Paul KlünderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan-Paul Klünder

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Die Strafgesellschaft“ ist der Titel der dreizehn Vorlesungen, die Michel Foucault von Januar bis März 1973 am Collège de France gehalten hat. Inhaltliche Klammer der Vorträge ist „Das Strafwesen als Analysator der Macht“. Mit dieser Veröffentlichung sind nun fast alle der Vorlesungen, die der französische Philosoph und Historiker zwischen 1970 und 1984 am Collège de France gehalten hat, in deutscher Sprache erschienen. Bekanntermaßen untersagte Foucault testamentarisch postume Publikationen seiner unveröffentlichten Schriften und Aufzeichnungen, ein Umstand der zu dem juristischen Kniff führte, die zahlreichen Tonbänder der Vorträge in die Textform zu übertragen.

Der nun erschienene Band steht gemeinsam mit der Vorlesung „Theorie und Institutionen des Strafvollzuges“ (1971/72) im direkten Entstehungszusammenhang mit seiner wahrscheinlich bekanntesten Monographie „Überwachen und Strafen“. Dementsprechend begegnen dem Leser bereits in der ersten Vorlesung die bekannten Szenen der grausamen Hinrichtung von Robert Francois Damiens im Jahre 1757, die ebenfalls die ersten drei Seiten von „Überwachen und Strafen“ bestimmen. Auch der gewählte Untersuchungszeitraum beider Texte ist vergleichbar, „Die Strafgesellschaft“ möchte sich mit dem Strafsystem zwischen 1825 und 1848 befassen und geht zur Kontrastierung auf die okzidentale Strafpraxis des 17. und 18. Jahrhunderts ein, was wiederum der historischen Eingrenzung von „Überwachen und Strafen“ entspricht.

Eine weitere Gemeinsamkeit ist die Fokussierung auf die Strafpraxis im angelsächsischen Raum und in Frankreich. Beide Texte kreisen dabei um das Einkerkern als spezifisch moderne Strafpraxis, die durch neues architektonisches, soziologisches, psychologisches und kriminalistisches Wissen ermöglicht beziehungsweise von diesem flankiert wird. Das systematische Ein- und Wegsperren in Gefängnisse und die damit verbundene Disziplinierung beginnt demnach erst im 18. Jahrhundert und wird sehr schnell zur hegemonialen Strafform der Moderne. Schließlich teilen die Vorlesung und die Monographie die Zeitdiagnose, dass die Form der strafenden Disziplinierung nicht nur das Gefängnissystem bestimmt, sondern die ganze westlich-kapitalistische Gegenwartsgesellschaft. Diesen Verhängniszusammenhang hat Foucault in „Überwachen und Strafen“ pointiert am Beispiel des Panoptikums beschrieben, einer Blickinnovation, die nicht nur die universelle Überwachung im Gefängnis erlaubt, sondern ebenso in der Gesellschaft: „Nun, genau das passiert in der Moderne: Die Verkehrung des Anblickes in Überwachung.“ Die Theatersituation wird umgedreht, nicht viele Zuschauer beobachten die Wenigen auf der Bühne, sondern vom zentralen Punkt der Bühne aus wird es möglich, das ganze Publikum zu überwachen und gegebenenfalls zu bestrafen. Der Vergleich beider Texte ließe sich sicherlich fortführen, geht aber über den Rahmen dieser Besprechung hinaus. Deshalb werden im Folgenenden vor allem zwei  Aspekte näher beleuchtet: Erstens: Foucaults Anspruch und Analysestrategie Machtverhältnisse als Bürgerkrieg zu beschreiben. Zweitens: Das ambivalente Verhältnis von Macht und Ökonomie in Foucaults Argumentation herauszustellen.

Zum ersten Aspekt konstatiert Foucault: „Im Herzen der Macht herrscht mithin ein kriegerisches Verhältnis und keines der Aneignung.“ Wie er auch in diesem Text betont, kann Macht nicht von Personen oder Gruppen dauerhaft ‚besessen‘ werden, wie beispielsweise eine Immobilie. Macht bleibt unablässig mobil und damit umkämpft. Deshalb will Foucault Macht als Bürgerkrieg analysiert wissen. Wobei die Metapher des Bürgerkriegs in dieser Schrift und darüber hinaus in dieser Schaffensphase mehr ist als ein Gleichnis, der Bürgerkrieg meint hier streng genommen auch mehr als ein Analyseinstrument, er ist vielmehr eine Wesensbestimmung: Macht ist gleich Krieg. Eine Theorie der Macht wollte Foucault offiziell nicht formulieren, hält aber fest: „Macht auszuüben ist eine bestimmte Art, Bürgerkrieg zu führen, und all die Instrumente, die Taktiken, die man hier ausmachen kann, müssen in den Begriffen des Bürgerkrieges zu analysieren sein.“ Auch vermeintlich friedliche politische Verhältnisse im Staat müssten dementsprechend im Sinne eines „ständigen, universellen Krieges innerhalb der Gesellschaft“ betrachtet werden – eine These, die Foucault vor allem in der Vorlesung „In Verteidigung der Gesellschaft“ weiterverfolgt.

Krieg kann dem Staat vorausgehen oder seine Auflösung bedeuten, aber immer gibt es auch Krieg beziehungsweise Bürgerkrieg innerhalb des Staates. Staat, Politik und Macht sind somit nicht die andere, ‚friedliche‘ Seite des Krieges, sondern Foucault geht davon aus, dass „der Bürgerkrieg der Macht innewohnt, sie durchdringt, sie belebt, sich überall in ihr ausbreitet. Zeichen dafür hat man eben in Form der Überwachung, der Drohung, im Besitz einer Armee, kurz in all den Zwangsinstrumenten, die die etablierte Macht sich zu ihrer Ausübung zulegt.“ Entsprechend ist das Strafwesen, so Foucault, nur eine „Strategie“, ein gesellschaftlicher Kampfplatz im ewigen Bürgerkrieg: „Man befindet sich im Sozialkrieg, nicht im Krieg aller gegen alle, sondern im Krieg der Reichen gegen die Armen, der Besitzenden gegen die, die nichts besitzen, der Patrone gegen die Proletarier.“ Die durch diese Machtkonzeption vorgenommene Setzung von Sozialität als Konflikt bis hin zur physischen Auseinandersetzung ist bezeichnend für die Radikalität dieser Theorie – zumindest bis Mitte der 1970er-Jahre. Gleichzeitigt verdeutlicht das Zitat die (ungewollte) Nähe von Foucaults „Analytik der Macht“ zu marxistischen Geschichtskonstruktionen, denn die mit der Kriegsrhetorik einhergehende antagonistische Charakterisierung von Machtverhältnissen erweckt doch den Eindruck, Macht könne von Gruppen besessen werden, was natürlich der späteren Machtdefinition in „Der Wille zum Wissen“ diametral entgegensteht.

Gleichwohl nutzt das Bürgertum der Vorlesung zufolge seine etablierte Machtposition, um eine neue Strafpraxis durchzusetzen und um sich wiederum als Klassen- beziehungsweise Bürgerkriegspartei zu behaupten. Weil Machtverhältnisse Kriegsverhältnisse sind, entsteht im 18. Jahrhundert eine Gleichsetzung von Kriminellen mit „Feinden der Gesellschaft“. Foucaults Vergleich zeigt, dass im Mittelalter Kriminalität eine privatrechtliche Angelegenheit war, während im Zuge des 18. Jahrhunderts Kriminalität zu einer öffentlichen respektive politischen Frage wurde. Der Delinquent erscheint ab diesem Zeitpunkt als eine Person, die beispielsweise durch ein Eigentumsdelikt gegen die bestehende Gesellschaft kämpft. Und so betont Foucault explizit, dass die Stigmatisierung als „Gesellschaftsfeind“ das Kriegsinstrument der „Klasse [ist], die an der Macht ist“. Dabei fällt auf, dass der kriegerische Antagonismus und die Disziplinierungstheorie noch stark als Kontrolle und Zwang beschrieben werden, was nur bedingt mit dem späteren Insistieren auf dem produktiven Charakter der Macht vereinbar ist.

Hinsichtlich des Verhältnisses von Macht und Ökonomie erscheinen weiterhin die Überschneidungen zur marxistischen Geschichtstheorie irritierend. Zunächst ist natürlich festzustellen, dass Foucault das utopische Telos einer Aufhebung der Klassengesellschaft nirgends vertritt. Ebenso wenig propagiert er die anthropologische Bedeutung der Arbeit, sondern vielmehr die moderne Subjektivierung durch Unterwerfung. Auch die Erzählung des Klassenkampfes wird von Foucault verworfen, um den Bürgerkriegscharakter gesellschaftlicher Verhältnisse herauszustellen. Allerdings sind bestimmte Parallelen zu im weitesten Sinne marxistischen Positionen nicht zu übersehen und mehr als nur vordergründig, wie Bernard E. Harcourt in der die Vorlesungen ergänzenden „Situierung“ betont. Foucault hat es retrospektiv ebenfalls – mit Blick auf „Überwachen und Strafen“ – bestritten, aber gewisse Überschneidungen zwischen seiner Argumentation und marxistischen Geschichtsdeutungen lassen sich durchaus feststellen. So vertritt Foucault beispielsweise die These, dass das Gesetz, das Strafsystem und auch die Gleichsetzung von Kriminellen und Feinden auf die Intentionen der Bourgeoisie zurückzuführen sind: „Die Stellung der Delinquenten in Bezug auf die Produktion definiert ihn als Feind der Gesellschaft.“ Feind der Gesellschaft ist demnach, wer dem Grundsatz der Maximierung der Produktion feindlich gesinnt oder abhold ist, beispielsweise der in der Vorlesung skizzierte Sozialtypus des Landstreichers.

Es ist also nicht so sehr die Unfähigkeit des Delinquenten den idealistischen Imperativen der Aufklärung nachzukommen, als vielmehr seine Unfähigkeit den Anordnungen der ökonomischen Produktion zu entsprechen, die seine Bestrafung und Disziplinierung erklärt. Im Text dient der Landstreicher hierfür als paradigmatisches Beispiel. Landstreicherei wird im 18. Jahrhundert strafbar, weil der ständige Ortswechsel „gegenüber der Ökonomie ein Verbrechen darstellt“. In Foucaults Skizze scheint derweil eine Sympathie für die Landstreicher durch, die sich dadurch erklärt, dass sich deren unproduktives Sozialverhalten – wenigstens zeitweilig – den Zwängen des Arbeitsdiskurses verweigerte und die Arbeitskraft der kapitalistischen Gesellschaft entzog. Mit dieser Parteinahme bleibt sich Foucault insofern treu, als auch aus anderen Texten eine Vorliebe für die Ausgestoßenen und Opfer der herrschenden Verhältnisse herauszulesen ist, beispielsweise für die ‚Wahnsinnigen‘, ‚Anormalen‘ et cetera. Allerdings trennt diese Parteinahme Foucault wiederum von der marxistischen Idealisierung des Proletariats und seines Arbeitsethos, doch erhofft er sich auch keine Aufhebung des kriegerischen Antagonismus.

Die Argumentationen gleichen sich wieder beim geschichtlichen Verhältnis von Struktur und Individuum beziehungsweise von Sein und Bewusstsein. So schreibt Foucault: „Durch die Macht des Faktischen, durch die Installierung des Grundpfeilers der kapitalistischen Ökonomie sind die unteren Schichten, indem sie von Handwerker in die Arbeitnehmer übergehen, gleichzeitig gezwungen, vom Betrug zum Diebstahl überzugehen.“ Eine solche Entsprechung zur marxistischen Geschichtstheorie findet sich ebenso in der Überwachung der „Arbeiterklasse, so dass man Ende des 18. Jahrhunderts Verhältnisse hat, die dafür sorgen, dass sich die Kontrolle global von einer sozialen Klasse auf die andere erstrecken wird“. Vom umgekehrten Verhältnis, einer Kontrolle, das heißt Machtausübung durch die Proletarier schweigt der Text. Diese Belege zeigen, auf welche Weise Foucaults Argumentation schwankt und an bestimmten Stellen wieder hinter eigene Positionen und Einsichten zurückfällt.

Fraglich ist außerdem, welchem Zweck die strafenden Machttechniken dienen, zumal Foucaults Aussagen auch hierzu nicht eindeutig sind: Sind ökonomische Erwägungen Mittel oder Zweck der Machtausübung? „Gefängnis, Kolonie, Armee, Polizei: all das waren lauter Mittel, um den Illegalismus des Volkes zu durchbrechen und zu verhindern, dass seine Techniken auf den bürgerlichen Besitz angewendet werden.“ Aber nicht nur „Gefängnis, Kolonie, Armee, Polizei“ sind Instrumente der Macht, das heißt derjenigen, die die Macht in dieser historischen Situation ausüben, konkret die herrschenden Klassen, also „Leuten, die mit der Macht in Verbindung stehen: Kaufleute, Aristokraten“. Auch die Zeit selbst wird von der Macht instrumentalisiert, um Subjekte zu schaffen die den kapitalistischen Produktionsbedingungen entsprechen. Die im Gefängnis ausgeübte Kontrolle und Disziplin der Zeitabläufe wird – nach Foucault – auf die Gesamtgesellschaft ausgedehnt, um eine kapitalistische Produktion zu ermöglichen und zu optimieren. Individuen werden durch disziplinar Techniken zu kapitalistisch-intelligiblen Subjekten, die pünktliche, zuverlässig, fügsam, flexibel und konform arbeiten und leben.

Offiziell geht es Foucault zweifellos darum, die Eigenlogik der Machtverhältnisse zu analysieren, aber wie bestimmte Formulierungen nahelegen, gehorcht die Logik der Macht ökonomischen Zwecken. So bleibt die Frage, warum die Macht bestimmte Strategien und Taktiken anwendet? Variante A: Weil die Macht ein Mittel ist, ökonomische Ziele zu verwirklichen. Variante B: Weil ökonomische Effizienz ein Mittel ist, das dem Ziel dient, die Macht zu erhalten und zu erweitern. Entscheidet man sich für A, erscheint Foucault als Wiedergänger des historischen Materialismus ohne Utopie. Wählt man B, wird Macht zum Selbstzweck und Machtverhältnisse erscheinen als anonyme Kräfteverhältnisse, die in der Lage sind, „Strategien“ und „Taktiken“ zur Selbsterhaltung anzuwenden und damit quasi die klassische Rolle des Subjektes in dieser Theorie übernehmen. Je nachdem, wie man die Aussagen in „Die Strafgesellschaft“ gewichtet, lässt sich beides belegen, aber vielleicht ist die Genealogie der Macht gar nicht mit einem solchen monokausalen Modell zu fassen.

Gerade deshalb lohnt sich die Lektüre dieser Primärquelle für alle an Foucault Interessierten. Die Vorlesungen gewähren einen Einblick in den Entstehungszusammenhang von „Überwachen und Strafen“ und stellen einen entscheidenden Aspekt in der Genealogie der „Analytik der Macht“ dar. So finden sich Einsichten in moderne Machtverhältnisse, wie deren produktiver und amorpher Charakter, die Foucault in anderen Texten weiterverfolgen wird. Gleichzeitig bestechen die Texte ebenso durch Positionen, die Foucault später aufgeben wird, wie die Gleichsetzung von Macht mit Bürgerkrieg und die einseitige Assoziation von Macht mit Zwang, Fremdkontrolle und Disziplin. Die Vorlesungen sind spannend und nur zu empfehlen, vor allem für diejenigen, die bereits mit Michel Foucaults Schriften vertraut sind und die die permanenten Umgestaltungen und Modifikationen seiner Machtkonzeption nachvollziehen wollen.

Titelbild

Michel Foucault: Die Strafgesellschaft. Vorlesungen am Collège de France 1972–1973.
Aus dem Französischen von Andrea Hemminger.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2015.
444 Seiten, 44,00 EUR.
ISBN-13: 9783518586211

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