Wir raten ins Blaue

Christa Holtei inszeniert eine auditive Sonntagsfahrt ins Mittelalter

Von Benedikt KleinRSS-Newsfeed neuer Artikel von Benedikt Klein

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Setting ist treffend gewählt: die schönste Zeit des Jahres trifft auf die verklärteste Zeit unserer Geschichte. Weihnachten im Jahre des Herrn 1390. Weihnachten im Mittelalter. Und wer wollte nicht einmal an solch einem Ereignis teilhaben, am besten gleich mit der ganzen Familie? Die Hörbuch-Version von Christa Holteis Mitratekrimi Das Zeichen des fremden Ritters scheint dies zu ermöglichen – zumindest für die Dauer eines Nachmittags. Und da die Zielgruppe sonntags notorisch freihat, spricht natürlich nichts dagegen, den obligatorischen Ausflug einmal mittels der heimischen Stereoanlage zu unternehmen. Das spart übrigens auch Benzin, das es im Mittelalter ohnehin nicht gab. Leider müssen die ganz Kleinen aber besser zu Hause bzw. in der Gegenwart bleiben: das empfohlene Mindestalter für Mitreisende liegt nämlich bei acht Jahren. Dieser Umstand ist jedoch nicht den für Krimis üblichen Schock- oder Spannungselementen, auch nicht den für historische Settings üblichen Blutkaskaden oder der erotischen Freizügigkeit geschuldet, er begründet sich vielmehr durch einen komplexen Spannungsaufbau sowie einen beachtlichen Bildungsanspruch, der historisches Hintergrundwissen nicht nur liefert, sondern teilweise auch fordert. Waschechte Sonntagsfahrer können also beruhigt wieder einen Gang höher schalten: das Hörbuch ist vollkommen jugendfrei. FSK 0 gewissermaßen. Sogar wenn am Höhepunkt einer vermeintlich gewaltsamen Auseinandersetzung Protagonisten auch mal eine Beule am Hinterkopf davon tragen müssen. War eben ein raues Leben damals. Und ganz nebenbei: die Verschränkung der Erfolgsgattungen Krimi und Historischer Roman ist ebenfalls treffend gewählt.

Nachdem nun alle Sicherheitsvorkehrungen getroffen sind, kann es endlich losgehen. Auch der Reiseführer ist wiederum treffend gewählt. Im sonoren Duktus großväterlichen Wohlwollens wird die Geschichte langsam vorgetragen und nur gelegentlich von mittelalterlich anmutenden Klängen unterbrochen. Im Zentrum der Handlung stehen vier Kinder unterschiedlicher Herkunft. Sie betätigen sich als Detektive und versuchen das geheimnisvolle Auftauchen eines mysteriösen Fremden aufzuklären. Und bald wird zumindest den älteren Mitfahrern deutlich, was immer auch unter dem Schlagwort Krimi landläufig subsummiert werden mag, hier haben wir es ganz konkret mit einem klassischen Detektivroman zu tun. Der Fokus liegt klar auf der Rekonstruktion des Tathergangs und dem analytischen Aufdecken des Motivs, was sukzessive während des Erzählvorgangs geschieht. Und genau hier liegt der Hase im Pfeffer: um die Ausflügler zur Mit-Rekonstruktion anzuregen, wird die Erzählung an zahlreichen Stellen mit Fragen an die Hörer unterbrochen. Das mag zwar per se keine schlechte Idee sein, funktioniert aber in unserem Fall ganz und gar nicht: die Antworten lassen sich aus dem Erzählkontext grundsätzlich nicht erschließen und sollen wahrscheinlich nur zum eigenen Fabulieren anregen. Häufig sind die Fragen so unspezifisch gewählt, dass die Antwort alles und nichts sein könnte und die muntere Raterei vollauf ins Blaue geht.

Wenn die Vermarktungsstrategie nicht suggerieren würde, dass sich das Mitraten auf die Lösung des Kriminalfalles bezieht, wäre ja alles in Ordnung. Leider entstehen so aber enttäuschte Erwartungshaltungen und es drängt sich schnell der Verdacht auf, es könnte sich bei unserem Sonntagsausflug weniger um einen Mitratekrimi als um eine pädagogische Maßnahme zur Schulung der kindlichen Phantasie handeln. Dazu kommt der Frust, wenn der ambitionierte Rätselknacker zum wiederholten Male nur ins Blaue raten kann. Betrachtet man die interrogativen Eskapaden jedoch als Fiktionsstörungen und überhört diese geflissentlich, kommt wieder alles ins Lot. Geliefert wird eine handwerklich gut gemachte Detektivgeschichte ohne logische Brüche. Die Reise ins Mittelalter funktioniert. Realistisch entwirft Holtei einen Schauplatz vom Burgleben Ende des 14. Jahrhunderts. Sogar medizinische Themen wie Aderlass und politische Themen wie die Erzfeindschaft Frankreichs mit England bleiben nicht ausgespart. Und dass mit dem Iwein Hartmanns von Aue weiterhin einer der prominentesten Artusromane des Hochmittelalters nicht nur erwähnt, sondern auch inhaltlich referiert wird, lässt das Herz zumindest jedes Literaturwissenschaftlers schneller und höher schlagen und sogar verzeihen, dass die ständeübergreifende Liebe zwischen zwei Kindern einer eigentlich unvereinbaren Herkunft einem eher modernen Verständnis entspringen mag.

Realismus hin oder her, die Autorin ist eben auch nur ein Mensch. Und was ist menschlicher, oder besser: romantischer, als wenn sich zarte Bande zwischen sozialer Ungleichheit knüpfen? Druckfehler im Klappen- und Innentext und sind es jedenfalls nicht. Aber vielleicht will ja der Verlag auch nur damit zu einer weiteren Raterunde einladen? Bereits vor dem Hören. Als Appetizer sozusagen. Ist Erlenburg der Handlungsschauplatz oder findet die Geschichte womöglich doch in Eulenburg statt? Sollen wir einfach mal ins Blaue hinein raten? Nein, diese Frage könnte sogar die einzige sein, die sich adäquat beantworten lässt. In diesem Sinne: gute Fahrt!

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Christa Holtei: Das Zeichen des fremden Ritters. Ein Ratekrimi aus dem Mittelalter.
wbg – Wissen. Bildung. Gemeinschaft, Darmstadt 2014.
2 CDs, 19,00 EUR.
ISBN-13: 9783654604039

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