Ein literarischer Vermittler zwischen Alter und Neuer Welt und zugleich ein Wegbereiter der Moderne

Zum 100. Todestag von Henry James ist eine Biografie von Hazel Hutchinson erschienen

Von Manfred OrlickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Orlick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Henry James (1843–1916) war einer der bedeutendsten und einflussreichsten Schriftsteller im englischsprachigen Raum. Sein vielschichtiges Werk überspannt eine große Epoche der amerikanischen und europäischen Geschichte – so entstanden seine ersten Geschichten noch vor dem Ende des Amerikanischen Bürgerkrieges und seine letzten Texte während des Ersten Weltkriegs. James schrieb Erzählungen, Romane, Reiseberichte und Theaterstücke. Neben dieser schriftstellerischen Vielfalt ist auch die literaturhistorische Spannweite enorm – von der viktorianischen Erziehungsgeschichte über den amerikanischen Realismus bis hin zur literarischen Moderne. Seine feinsinnigen Romane sind zwar arm an äußerer Handlung, zeichnen sich aber durch eine detaillierte Beschreibung der menschlichen Psyche aus. Diese Erzählweise machte ihn zum Begründer des psychologischen Realismus und letztlich zu einem modernen Schriftsteller.

Henry James wurde am 15. April 1843 in New York als Spross einer wohlhabenden Familie geboren. Der ruhelose Vater nahm die Familie auf mehrere ausgedehnte Reisen quer durch Europa mit. Kaum ein Jahr verging, in dem nicht irgendwo die Zelte abgebrochen wurden. (James blieb später selbst ein Pendler, verbunden mit häufigen Wohnungswechseln, zwischen der Neuen und Alten Welt.) Der despotische Vater erzog vor allem die Söhne Henry und William (später ein bekannter Psychologe und Philosoph) mit überfürsorglichen Maßnahmen. Schließlich nahm Henry 1862 ein Jurastudium an der Harvard Law School auf, stellte jedoch schnell fest, dass seine Neigungen mehr der Literatur galten. So verließ er Harvard nach zwei Semestern und kehrte ins Elternhaus zurück.

James begann Artikel für verschiedene Zeitungen zu schreiben und schickte seine erste Kurzgeschichte „A Tragedy of Error“ ein, die auch ohne Namensnennung veröffentlicht wurde. 1869/71 weilte James in Europa, wo er mit zahlreichen Künstlern (unter anderem George Sand, John Ruskin oder Dante Gabriel Rossetti) zusammentraf. Darüber hinaus hatte er später auch Kontakt mit Gustave Flaubert, Oscar Wilde, George Bernard Shaw, Emile Zola oder Edith Wharton – vor allem mit Iwan Turgenjew verband ihn eine enge Freundschaft. Zurückgekehrt in Amerika erschien sein erster Roman „Watch an Ward“ als Fortsetzungsroman in „The Atlantic Monthly“, wo James selbst über Jahre hinweg Mitarbeiter war. Die Geschichte von einem Mann, der ein zwölfjähriges Mädchen adoptiert und sich in es verliebt, war noch ganz dem Genre der domestic novel verhaftet.

Im Jahr 1872 ging James wieder nach Europa, wo er sich als Gesellschafts- und Reisekorrespondent vor allem in Italien und Paris aufhielt, ehe er nach diesen unsteten Jahren 1876 endlich in England so etwas wie sesshaft wurde. In einer ersten großen Schaffensperiode entstanden die großen Romane „The American“ (1875), „Daisy Miller“ (1878), „The Portrait of a Lady“ (1881) und „Washington Square“ (1881), in denen sich James vorwiegend mit dem Thema „Amerikaner in Europa“ auseinandersetzte und nach Möglichkeiten einer Befreiung der kulturellen Bevormundung durch Europa suchte. Immer wieder gestaltete er dabei auch die Unmöglichkeit von Liebesbeziehungen zwischen amerikanischen Frauen und europäischen Männern.

In seiner „mittleren Periode“ wandte sich James vom Gesellschaftsroman ab und dem Sozialroman eines Emile Zola zu: Beispielhaft dafür sind „The Bostonians“ (1886) oder auch „The Princess Casamassima“ (1886), in denen er die politischen Bewegungen seiner Zeit reflektierte. Beide Romane, wie auch sein Versuch, sich Anfang der 1890er-Jahre als Dramatiker zu etablieren, waren jedoch Misserfolge. Diese Krise führte schließlich zur Rückbesinnung und zum Spätwerk mit den großen Romanen „The Wings of Dove“ (1902), „The Ambassadors“ (1903) und „The Golden Bowl“ (1904). Hier griff James erneut die Unterschiede zwischen der amerikanischen und europäischen Gesellschaft auf. Nach dieser späten Schreibphase widmete er sich intensiv der Überarbeitung seiner Werke, die als 24-bändige New Yorker Edition unter dem Titel „The Novels and Tales of Henry James“ 1907/09 erschien. Freunde rieten ihn zwar von der „Revision“ seiner früher so erfolgreichen Bücher ab, aber James verteidigte unbeirrt sein Vorgehen mit der Forderung, dass ein Schriftsteller das Recht habe, zu entscheiden, wie er von der Nachwelt gesehen werden wolle. Und tatsächlich blieb der kommerzielle Erfolg aus.

Henry James starb am 28. Februar 1916 in seinem Landhaus in der Küstenstadt Rye (Sussex). Ein paar Monate zuvor war er noch britischer Staatsbürger geworden. Sein anspruchsvolles Gesamtwerk umfasst 20 Romane, über 100 Erzählungen und rund ein Dutzend Theaterstücke, acht Reisebücher sowie eine beträchtliche Anzahl von literaturtheoretischen und -kritischen Arbeiten.

In Deutschland wurde Jamesʼ Werk in den letzten Jahrzehnten nur selten verlegt. Dem deutschen Leser waren Stendhal, Gustave Flaubert, Fjodor Dostojewski, Leo Tolstoi, Emile Zola oder Charles Dickens als internationale Schriftsteller des 19. Jahrhunderts stets vertrauter (und sind es wohl noch immer). Im Vorfeld des 100. Todestages von Henry James gab und gibt es nun eine Fülle von Neuerscheinungen, wobei vor allem der Manesse Verlag zu erwähnen ist, der sich schon in der Vergangenheit um die Verbreitung von Jamesʼ Werk im deutschen Sprachraum (meist mit Neuübersetzungen) verdient gemacht hat. Die jetzige Henry-James-Renaissance wird durch eine kompakte Biografie von Hazel Hutchison ergänzt, die im Berliner Parthas Verlag erschienen ist. Die schottische Literaturwissenschaftlerin, die als ausgewiesene Kennerin der Literatur des späten 19. Jahrhunderts und speziell des Werkes von James gilt, zeichnet auf knapp 200 Seiten ein facettenreiches Bild des Menschen und Schriftstellers Henry James, das sie geschickt mit knappen Inhaltsangaben seiner wichtigsten Werke koppelt. Ihr gelingt es damit, das  Lektüreinteresse des Lesers zu wecken.

Hutchison breitet die einzelnen Lebensstationen von James bildhaft und detailliert vor dem Leser aus und macht auf biografische Bezüge in seinem Werk aufmerksam. Die Übersetzerin Ute Astrid Rall hat der Biografie einen umfangreichen Anhang angefügt mit Erläuterungen zu Personen aus Jamesʼ Umfeld, einer Kurzbiografie, einem Personenregister und einer soliden Bibliografie. Außerdem komplettieren zahlreiche historische Abbildungen die Biografie, die ein idealer Einstieg zu Henry James ist.

Titelbild

Hazel Hutchison: Henry James. Biografie.
Übersetzt aus dem Englischen und mit einem Anhang versehen von Ute Astrid Rall.
Parthas Verlag, Berlin 2015.
224 Seiten, 24,80 EUR.
ISBN-13: 9783869640976

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