Performativität des Handelns
Hannah Arendts Werk zwischen totgeschwiegener Vergangenheit und großer Zukunft in Worten und Taten
Von Maria Behre
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseAnnette Vowinckels Darstellung ist erstmals 2006, anlässlich Hannah Arendts 100. Geburtstags, in der Reihe „Grundwissen Philosophie“ bei Reclam Leipzig veröffentlicht. Eine zweite Auflage erscheint jetzt zu ihrem 40. Todestag, „durchgesehen und ergänzt“, in Reclams Universal-Bibliothek. Es sind nur drei Literaturangaben ergänzt: das Arendt-Handbuch, herausgegeben von Wolfgang Heuer u. a. bei Metzler von 2011, Rahel Jaeggis Beitrag in der Reihe „Wie weiter mit?“ von 2008 und Kurt Sontheimers Gesamtdarstellung von 2006; außerdem steht der Hinweis auf den Hannah-Arendt-Newsletter nicht mehr unter den Periodika, sondern einzeln als Internet-Publikation.
Ein Blick auf den Stand der vorliegenden Hinführungen zum Werk sei erlaubt: Hauke Brunkhorsts wissenschaftliche Einführung in der „Beck‘schen Reihe Denker“ (1999) aus der Perspektive der Soziologie und Ingeborg Gleichaufs sehr anschauliche, auf „Leibhaftigkeit“ zielende quellen- und rezeptionsreiche Darstellung im „dtv-portrait“ (2000) sind vergriffen. Karl-Heinz Breiers Einführung bei Junius (2001) mit der Akzentuierung einer „Bürgerwissenschaft“ bei Arendt ist durch Grit Straßenbergers völlig anderen Ansatz auf der Basis einer narrativistisch-performativistischen Neudeutung Arendts 2015 ersetzt worden.
Vowinckels Einführung ist unbedingt auch ohne Vorkenntnisse zu empfehlen, sie führt in einer übersichtlichen und dennoch profunden Kenntnis in das gesamte Werk ein. Gleich zu Anfang benennt sie Arendts Methode der „Präferenz für das perspektivische Denken und eine von Pluralität bestimmte Welt“. Die Argumentation geht dahin, die Vorbehalte der akademischen Philosophie gegenüber Arendt zu entkräften und damit abzubauen. Erst nach dem Mauerfall und dem damit gegebenen Klärungsbedarf in Bezug auf eine Totalitarismus-Theorie, die Nationalismus und Stalinismus respektive ideologischen Marxismus gleichermaßen umfasst, sowie durch die intellektuelle Biographie Elisabeth Young-Bruehls (1982) sieht Vowinckel das Einsetzen einer Rezeption, die von der Verbindung zwischen der europäischen und der amerikanischen Kultur lebe, so wie Arendt gegenüber Jaspers als Aufgabe und Anspruch formulierte, den Deutschen „einen Sinn für Politik“ und den Amerikanern „einen kleinen Dunst auch nur für Philosophie“ nahezubringen. Vowinckel empfiehlt diesen Briefwechsel, ohne selbst auf die Korrespondenz und das Denktagebuch Arendts eingehen zu wollen und zu können.
Letzteres ist sehr bedauerlich, speziell auch wegen der Textsorte ‚Gedicht‘, aber dem beschränkenden Konzept der Einführung geschuldet, denn Vowinckel ist eine der ersten, die klar das Innovative Arendts benennt: „die Performativität des Handelns“. Vowinckel erkennt in Arendts Argumentation einen für das Werk „typischen Erzählstil“ und wendet diesen selber an, wenn sie die Chronologie der Werkschau immer wieder auf Leitfragen und Grundthesen wie den „Austausch von Standpunkten“ nach der Kantischen „erweiterten Denkungsart“ des Perspektivenwechsels aufzeigt. Arendt leitet dieses Prinzip von Rahel Varnhagen her, deren Biographie ihre Habilitation sein sollte, ein Leben unter der Maxime, es wie ein Kunstwerk leben zu wollen. Es stellt sich aber die Frage, ob Arendt durch die Zeitläufe – Flucht aus Deutschland, Exil in Paris und Emigration nach Amerika – einen „endgültigen Wechsel von einer philosophisch-literarischen zu einer politisch-historischen Perspektive“ vollzogen hat.
Sicher ist die Schrift Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft Arendts Entrée in die scientific community, aber ihre besondere philologische Methode der destruktiven Begriffskritik und konstruktiven Begriffsgenese ist doch auch dort vorhanden. Arendt widerlegt dadurch Vorurteile in dialektischer Weise bei allen drei Faktoren der Entstehungsgeschichte des Totalitarismus. In Bezug auf den ersten Faktor, den Antisemitismus, erweist sie: „Nicht der Besitz der Macht [im Sinne von Herrschaftseinfluss], sondern die Weigerung, sie zu ergreifen, machte die Juden verdächtig.“ Am Beispiel der Familie Rothschild, deren fünf zusammenarbeitende Brüder fünf Nationen angehörten, offenbart Arendt das Fehlen von politischen Interessen im Sinne einer unterstellten Weltherrschaft. In Bezug auf den zweiten Faktor, den Imperialismus, erkennt Arendt die klare Vorhut des „Verwaltungsmassenmordes“ in den Kolonialherrschaften in Südafrika und Indien. In totalitären Systemen, dem dritten Faktor, schließlich funktioniert Gewalt nicht nur vom Führer aus, der äußerst wankelmütig reagiert, sondern die Untergebenen handeln im Sinne des Führers bzw. des Führerprinzips, gleichsam nach einem sechsten Sinn, eher karrieregetrieben als ideologisch motiviert; es ergibt sich also eine Argumentation im Sinne der Funktionalisten wie Hans Mommsen und nicht der Intentionalisten. Dennoch geht Arendt hier auf Augustinus‘ Anthropologie, ihr Dissertationsthema, zurück: Der Mensch könne immer einen Neu-Anfang setzen, er sei nicht Rädchen im Getriebe, sondern habe Freiheit und könne dadurch Hoffnung auf Überwindung des Totalitarismus gestalten, was angesichts des Veröffentlichungsdatums 1951 für die Analyse der Stalin-Sowjetunion als zukunftsweisend-hellsichtig gelten muss. Arendts Leitworte: Natalität, Spontaneität und Pluralität, gehören zusammen mit kommunikativ entfalteter Reflexion und Kritik. Der Widerstandsgeist ist eine Frage der conditio humuna. Arendts Werk ist deshalb bis heute ein Klassiker, da es gegen den Fatalismus einer Geschichte als Geschick und gegen marxistisch-ökonomische Faschismus-Theorien argumentiert.
Die Fundierung der Geschichtsforschung in der Anthropologie, der Weiterführung der Zeitgeschichte in eine politischen Theorie (Claudia Althaus), im „Totalitarismus“-Buch weist auf die noch folgenden Werke voraus: die Unterscheidung der Tätigkeiten von Arbeiten, Herstellen und Handeln liegt in der Totalitarismus-Analyse von Bürokratie als gewalttätiger Verwaltung bereits phänomenologisch und begrifflich vor, ein Herstellen durch den homo faber bzw. homo rapiens statt sapiens, in dem der Zweck jedes Mittel rechtfertigt, eine Aufhebung von Pluralität und Kommunikativität. In der Schrift Vita activa erscheint eine Zivilisationskritik, die die Rückverwandlung des zṓon politikón in ein animal laborans der Jobholder-Society klar beschreibt. Umso deutlicher wird aber auch hier die Grundlinie des Philosophisch-Literarischen in Arendts Werk, wenn das politische Handeln in Gruppen, als „angewandte Liebe zum Leben“, als eine „Enthüllung der Person in Handeln und Sprechen“, entfaltet wird, mit dem Blick auf „das Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten und die in ihm dargestellten Geschichten“ – im Bewusstsein der „Zerbrechlichkeit menschlicher Angelegenheiten“ und der Chance, im „Prozeßcharakter des Handelns“ Vergangenheit und Zukunft zu gestalten: „die Unwiderruflichkeit des Getanen“ mit der „Macht zu verzeihen“ und „die Unabsehbarkeit der Taten“ mit der „Macht des Versprechens“ auszugleichen. Poetischer als in diesem fünften Kapitel zum „Handeln“ lässt sich Politik nach dem Modell der Polis wohl nicht ausdrücken, dabei sind die Metaphern der „Performativität des Handelns“ noch gar nicht zitiert: „[D]er griechische Ausweg aus den Aporien des Handelns“ durch das Drama als den „politischen Bereich“, die „immerwährende Bühne“, das „vor anderen In-Erscheinung-Treten“, „dies ‚Publikum‘ in einem Zuschauerraum, in dem aber ein jeder zugleich Zuschauer und Mithandelnder ist“ (aus der Vita activa), Sichtbarwerden auf der „Bühne der Welt“ durch „die einmalige Gestalt des Körpers“ sowie den „nicht weniger einmaligen Klang der Stimme“ (aus der Vita activa, auch von Vowinckel zitiert).
Arendt formuliert hier einen neuen, aus der antiken Polis des Aristoteles ohne Griechen-Nostalgie gewonnenen Politik-Begriff, der sich von Carl Schmitts Definition des Politischen als einer Freund-Feind-Beziehung abgrenzt. Damit argumentiert Arendt gegen den vorherrschenden Historismus eines Eric Hobsbawm, wenn sie genau das will, was dieser an ihr kritisiert, ein Statement auf dem Niveau einer historischen Phänomenologie als einer dichterischen Konstruktion: „a line in an intellectual drama“. Vorbild für Arendts Methode ‚storytelling‘ als ‚history‘ ist Homer, der die Erfahrung von Krieg und Gewalt durch die Kunst des Erzählens als Haltung nach dem Krieg ausgleicht. In Arendts Anthropologie sind ihr Menschenbild und emphatischer Politikbegriff dargelegt, ohne deren Kenntnis als „philosophischer Subtext“ die Kontroversen sowohl um ihren Bildungsbegriff („Little Rock“) als auch Gewissensbegriff (Eichmann in Jerusalem) nahelagen, so Vowinckels Analyse der virulenten Arendt-Rezeption. Arendt hält dabei in den beiden bekanntesten Kontroversen das Ideal der Differenz gegenüber dem Erziehungsziel sozialer Gleichheit und das Ideal des Widerstandes gegenüber der falschen Furcht vor einem fürchterlich Gedankenlosen, eines Verbrechers aus verantwortungslosem Nicht-Denken, hoch und verletzt dadurch Betroffene. Dies kann Vowinckel in sehr überzeugender Weise aufklären, außerdem leitet sie aus der an Verschwörung grenzenden Kontroverse eine fachwissenschaftlich initiierte Debatte ab, aus der produktiv die Begriffsunterscheidung von Intentionalismus und Funktionalismus hervorgehe. Arendts Kunst, Begriffsunterscheidungen zu fordern und zu initiieren, bestimmt nach Vowinckel auch die folgenden Werke: kommunikative Macht vs. stumme Gewalt (leider hier nur angedeutet); partizipatorische Räte vs. im Hohen Haus abgehobene Parteien-Demokratie; sinnstiftendes, intra- und intersubjektiv dialogisches Denken der Vernunft vs. empirisch verifizierendes Erkennen des Verstandes; Sollen vs. Wollen; bestimmende (vom Allgemeinen zum Besonderen) vs. reflektierende Urteilskraft (vom Besonderen zum Allgemeinen); Denken und Wollen vs. Urteilen als erweiterte Denkungsart nicht mit dem Instrument der Vernunft, sondern mit der Einbildungskraft; partikulare und ganzheitliche, leibliche Wahrnehmung.
Letztere kann nur durch eine Ästhetik in antiker Weise mit dem erweiterten ‚Aisthesis“-Begriff (Praxis, Poiesis/Poesie, Politik) entfaltet werden. Vowinckel beschreibt, dass Arendt an Schriftstellerinnen wie Tanja Blixen und Autoren wie Bertolt Brecht „dieses unakademische, an sich selbst abarbeitende Verhältnis zur Literatur“ schätzte. Wenn Vowinckel abschließend „Spuren unterschiedlichster Arendt-Lektüren“ nicht nur in der politischen Theorie, der Philosophie, der Soziologie, der Kultur- und Geschichtswissenschaft, sondern auch in der Literaturwissenschaft entdeckt, so ist letztere doch noch entschiedener, als in dieser herausragenden Einführung bereits geschehen, aufzufordern, Arendt als Autorin und Interpretin von Homerischen Geschichten – dazu ist unbedingt Grit Straßenbergers Hannah Arendt zur Einführung von 2015 zu lesen – und eigenen – als Textgrundlage ist hier Hannah Arendt: Ich selbst, auch ich tanze. Die Gedichte, ebenfalls von 2015, zu empfehlen – wie fremden Gedichten zu entdecken, um zu „staunen“. Mit diesem Arendt-Wort in griechischer Sprache (thaumázein) entlässt uns Vowinckel in die Arendt-Lektüre: Incipe!
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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