Zwischen Schmunzeln und Schaudern

Auch in der neuen Übersetzung von Horace Walpoles „Das Schloß Otranto“ versucht das Übernatürliche den heutigen Leser zu gruseln

Von Katharina RauschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Katharina Rausch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Horace Walpole (1717–1797) bedarf sicherlich keiner weiteren Einführung mehr, denn längst gilt er als Begründer der gothic novel. Der C.H. Beck Verlag rückt mit seiner textura-Reihe Walpoles maßgebliches Werk, den Roman Das Schloß Otranto (1764), wieder in das Licht der Aufmerksamkeit. Gleichzeitig behält er Altes bei: Die Vorrede und die Titelblätter zur ersten und zweiten Auflage hat der Verlag für die neue Ausgabe übernommen. Für Leser, denen das als Hintergrundwissen um das Schloss Otranto noch nicht genug ist, hat Norbert Müller in seinem Nachwort Fakten rund um den Autor und dessen Roman gesammelt, die mit Abbildungen ergänzt werden. Dies verschafft interessante Einblicke in den Entstehungsprozess des Romans, der genauso faszinierend ist wie der Inhalt selbst.

„Soll ich dir gestehen, was der Ursprung dieser romanhaften Geschichte gewesen ist?“, schreibt Walpole an seinen Jugendfreund William Cole. „Ich erwachte eines Morgens zu Anfang des vergangenen Juni […] aus einem Traum, von dem ich nur so viel zurückbehalten habe, daß ich mich in einem alten Kastell wähnte […] und daß ich dabei auf dem obersten Geländer eines mächtigen Treppenhauses eine riesenhafte, gewaffnete Hand ausruhen sah.“ Durch diesen Traum inspiriert, setzt sich Horace Walpole 1764 in seinem neugotischen Herrenhaus mit dem Namen „Strawberry Hill“ an seinen Tisch und beginnt zu schreiben. Die Geschichte „wächst“ unter seinen Händen und nährt sich von Walpoles eigenen vier Wänden – Strawberry Hill wird auf dem Papier zu dem italienischen Schloss Otranto aus dem 12. Jahrhundert. In diesem fürchtet der Schlossherr Manfred eine alte Prophezeiung, nach der der rechtmäßige Eigentümer von Otranto wiederkehren wird, wenn dieser „zu groß“ geworden ist. So versucht Manfred mit allen Mitteln, seine Erbfolge aufrechtzuerhalten. Dies gestaltet sich als durchaus schwierig, denn sein Sohn wird am Tag der Trauung von einem riesigen, mysteriösen Ritterhelm erschlagen, seine Ehefrau ist zeugungsunfähig und seine Schwiegertochter in spe, die Manfred nun mit allen Mitteln selbst ehelichen will, flüchtet vor ihm. Was darauf folgt, ist eine Jagd durch das unterirdische Labyrinth des Schlosses, ominöse Begegnungen mit blutenden Statuen und wandernden Bildern und die langsame, aber deutlich voranschreitende Erfüllung der Prophezeiung, die durch übernatürliche Mittel die rechtmäßige Thronfolge von Otranto einläuten will.

Walpole selbst erklärt in seiner Vorrede zur zweiten Auflage, er habe in seinem Roman versucht, zwei Typen von Geschichten miteinander zu verbinden: die phantastischen und die auf Realismus basierenden. Und nach dieser Idee lässt Walpole seine Figuren niemals ein unheimliches Phänomen hinterfragen. Zuweilen lässt sie dies für einen heutigen Leser unglaubwürdig erscheinen. Wer würde schon ungefragt einem plötzlich hüpfenden und winkenden Wandgemälde folgen? Generell: So sehr Das Schloß Otranto ein Klassiker der Schauerliteratur ist, so schwer mag es für den heutigen Leser sein, sich während der Lektüre zu gruseln. Elemente wie blutende Statuen, stöhnende Ahnenbilder, ein sprechendes Skelett in einer Mönchskutte und überdimensional große, nickende Ritterhelme erscheinen in unseren Tagen trivial und regen höchstens zum Schmunzeln statt zum Schaudern an.

Hinzu kommt, dass das Unheimliche im Roman eine andere Dimension einnimmt als bei nachfolgenden Autoren des Genres. Bei Walpole ist das Unheimliche keine dämonische Kraft, sondern eine Macht, die versucht, die eigentliche Herrschaftsordnung, die durch einen Giftmord von Manfreds Familie usurpiert wurde, wiederherzustellen. Damit entpuppen sich die übernatürlichen Erscheinungen als Verfechter der Gerechtigkeit. Der Unterschied zu ‚moderneren‘ Horrorautoren wie H.P. Lovecraft ist offensichtlich – steht bei Lovecraft meist eine unerklärbare, unsinnige Macht, die willkürlich über die Protagonisten hereinstürzt, im Zentrum des Geschehens, hat Walpole eine schier göttliche Macht der Gerechtigkeit erschaffen. Dies treibt der Autor sogar so weit, dass er den Geist von Alfonso, ein Ahnenherr von Otranto, in einem „helllichten Glorienschein“ in den Himmel auffahren lässt. Gruselig ist das nicht gerade. Auch lässt sich das Böse nur schwer in den Figuren wiederfinden. Manfred mag zwar hinsichtlich seines Temperaments wie der Schurke wirken, der der armen Unschuld hinterherjagt, bei genauerer Betrachtung fällt aber auf, dass er nur Opfer seiner Vorfahren ist, die durch einen Mord die Herrschaft von Otranto erworben haben. Manfred versucht lediglich, seinen Status quo zu erhalten.

Liest man den Roman jedoch aus einem literaturhistorischen Interesse, so wird man schnell feststellen, dass sich der Besuch des Schlosses gelohnt hat. Walpoles Verdienst ist die Schaffung eines neuen Genres: der Schauerliteratur. Er legt hierbei den Grundriss für Elemente, die das Genre später charakterisieren werden: Ein Schloss als Handlungsraum und das Hereinbrechen des Übernatürlichen, des Unheimlichen, was sich in geisterhafte Erscheinungen und mit beweglichen Objekten kleidet.

Titelbild

Horace Walpole: Das Schloß Otranto. Schauerroman.
Mit einem Nachwort von Norbert Miller.
Aus dem Englischen von Hans Wolf.
Verlag C.H.Beck, München 2014.
182 Seiten, 16,95 EUR.
ISBN-13: 9783406659942

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