In der Welt der Hieroglyphen

Edith Wharton schildert in „Zeit der Unschuld“ eine Gesellschaftsform, die bereits zur Zeit der Veröffentlichung des Romans längst überholt war

Von Paula BöndelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Paula Böndel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

New York der 1870er-Jahre: Newland Archer, ein junger Rechtsanwalt aus gutem Haus, steht kurz davor, sich mit der schönen May Welland, ebenfalls aus einer angesehenen Familie, zu verloben. Da betritt die exotische, unkonventionelle Gräfin Ellen Olenska, eine Cousine von May, die in Europa aufgewachsen und nach gescheiterter Ehe mit einem polnischen Grafen nach New York zurückgekehrt ist, unerwartet das gesellschaftliche Parkett. Solange sich Ellen den geltenden Konventionen beugt, kann sie auf die Unterstützung ihrer Verwandtschaft zählen. Als sie aber beschließt, sich scheiden zu lassen, schaltet die Familie aus Angst vor einem Skandal Mr. Letterblair, den Seniorpartner von Archer, ein, der ihm die Aufgabe überträgt, die Gräfin von ihrem Entschluss abzubringen. Im weiteren Verlauf der Geschehnisse droht jedoch ein ganz anderer Skandal: Archer und Ellen Olenska verlieben sich ineinander. Aus Pflichtgefühl hält Archer an seinem Heiratsversprechen fest und stellt sich auf ein Leben mit der naiven, aber gesellschaftsfähigen May ein. Eine Zeit lang erscheint die Gräfin in seiner Erinnerung nur als „der elegischste, ergreifendste Geist in einer ganzen Reihe von Geistern“; bei einer erneuten Begegnung flammt seine Liebe zu ihr aber wieder auf. Da Ellen nicht bereit ist, ein Verhältnis mit Archer einzugehen – dies wäre ein Verrat an May –, bietet sie ihm an, eine Liebesnacht mit ihm zu verbringen, um danach zu ihrem Mann zurückzukehren. Dazu kommt es jedoch nicht, und auch Archers Plan, der Gräfin nach Europa zu folgen, wird durchkreuzt. Inzwischen davon überzeugt, dass Archer und Ellen bereits ein Liebesverhältnis miteinander haben, trifft die Familie hinter den Kulissen Vorbereitungen, um das Paar zu trennen, wobei die scheinbar ahnungslose May mit manipulativem Geschick agiert, um die Familienordnung wiederherzustellen. 26 Jahre später begleitet Archer seinen Sohn Dallas nach Paris. Dallas weiß von der unglücklichen Liebe seines Vaters und arrangiert ein Treffen mit der Gräfin Olenska. Obwohl May inzwischen verstorben ist und Ellen nicht wieder geheiratet hat, weicht Archer dem Treffen aus, „aus Furcht, auch dieser letzte Schatten von Wirklichkeit könnte seine Kontur verlieren“.

Edith Wharton schildert in ihrem Roman „Zeit der Unschuld“ die Dreiecksgeschichte vor dem Hintergrund einer Gesellschaft, mit der sie bestens vertraut war. Aufgewachsen in einer alteingesessenen New Yorker Familie, genoss sie die Privilegien der gesellschaftlichen Oberschicht und litt gleichzeitig unter deren repressiven Konventionen. Nur gegen große innere Widerstände vermochte sie, ein Leben als Schriftstellerin zu verwirklichen, und erst nach über 25 Jahren löste sie sich endgültig aus einer gesellschaftlich angesehenen, aber unglücklichen Ehe. Als sie 1921 für „The Age of Innocence“, wie der Roman im Original heißt, als erste Frau mit dem Pulitzer Prize ausgezeichnet wurde, lebte sie bereits seit längerer Zeit in Frankreich. Zwei Jahre später wurde ihr – ebenfalls als erster Frau – die Ehrendoktorwürde der Yale University verliehen.

Pflichterfüllung, Wahrung des Scheins, festgelegte Riten, doppelte Moral und die damit verbundene Heuchelei: In „Zeit der Unschuld“ erweist sich Wharton als genaue Beobachterin einer Gesellschaft, die penibel darauf achtet, ihre verkrusteten Strukturen zu verteidigen, und sich entschlossen allem, was an den Grundpfeilern ihrer Tradition rüttelt, entgegenstellt. Als Stilmittel der Darstellung wählt die Autorin das Prinzip der ironischen Kommentierung, mit der sie auch den Gegensatz von Möglichkeit und Realität akzentuiert. An Newland Archers Konflikt wird jedoch erkennbar, dass es für ihn nur scheinbar um eine realisierbare Möglichkeit geht. Die Begegnung mit Ellen Olenska führt ihm die Beengtheit seines Daseins vor Augen, sodass er glaubt, mit ihr ein erfüllteres Leben führen zu können. Aber Archer ist der Tradition, in die er hineingeboren wurde, dergestalt verhaftet, dass ihr zu entfliehen gleichsam eine Trennung von einem Teil seines Ichs bedeutete. Der Schluss liegt nahe, dass für ihn, auch wenn er sich dessen nicht bewusst ist, ein Leben außerhalb dieser Tradition nur ein imaginiertes Leben sein kann, das beim Kontakt mit der Wirklichkeit in sich zusammenfallen muss.

Unterschwellig vermittelt wird dies durch ein Netz von Verweisen. Schon im ersten Kapitel wird über den Protagonist berichtet: „Oft verschaffte es ihm subtilere Befriedigung, sich ein bevorstehendes Vergnügen nur vorzustellen, als es tatsächlich zu erleben.“ Später wird Ellen zu einem „Traumbild“, und wenn er an sie denkt, dann so, „wie man an eine Fantasie-Geliebte aus einem Buch oder Gemälde denkt“. Am Ende des Romans erfährt der Leser, dass es für Archer „wirklicher“ ist, auf dem Platz vor dem Haus, in dem die Gräfin wohnt, sitzen zu bleiben, als seinen Sohn in ihr Appartement zu begleiten, wo er ihr begegnen würde. Phantasie und Erinnerung erweisen sich als die Bereiche, in denen Archer das erleben und aufbewahren kann, was ihm in der Wirklichkeit verwehrt bleibt. Angesichts dessen entbehrt der Umstand, dass die Familie alle Hebel in Bewegung setzt, um ihn in seine Schranken zu verweisen, nicht einer gewissen Ironie.

Ironisch ist auch der Titel des Romans, „Zeit der Unschuld“, geht es doch um durchaus verschiedene Formen von Unschuld. So bedeutet „Innocence“ auch Ahnungslosigkeit, und ahnungslos ist am Ende nicht die ‚naive‘ May, sondern Archer. „In Wirklichkeit lebten sie alle in einer gewissermaßen hieroglyphischen Welt, in der die wahren Dinge weder gesagt noch getan oder auch nur gedacht wurden, vielmehr wurden sie lediglich durch eine Anzahl willkürlicher Zeichen angedeutet.“ Im Verlauf der Zeit vermag Archer aber nicht mehr, den Code, „in dem sie beide geschult worden waren“, richtig zu entziffern: Von den Machenschaften der Familie erfährt er nichts, während May alles durchschaut, ohne dies zu erkennen zu geben. Auch schätzt er nicht realistisch ein, wie begrenzt seine Möglichkeiten tatsächlich sind. Es ist die unorthodoxe Ellen Olenska, die ihm die Konsequenzen eines Bruchs mit dem herrschenden gesellschaftlichen Kodex vor Augen führt.

„Zeit der Unschuld“, von der Kritik als Gesellschaftssatire par excellence gepriesen, ist gleichwohl viel mehr. Wharton war genug ‚Insider‘, um ein präzises Bild der New Yorker Oberschicht bis in die Details der Architektur und Wohnaccessoires entstehen zu lassen, und genug ‚Outsider‘, um den seelischen Konflikt auszuloten, den ein Ausbruchsversuch aus dieser Gesellschaft zur Folge hat. So wird das Sittengemälde der damaligen Zeit um eine archetypische Dimension erweitert: Der Kampf des Einzelnen um Selbstverwirklichung gegen die Restriktionen einer kollektiven Umwelt, der auch die Frage der Autonomie des Individuums angesichts überindividueller, internalisierter Determinanten miteinbezieht.

Edith Wharton begann 1919 „Zeit der Unschuld“ zu schreiben. Zuvor, während des Ersten Weltkriegs, engagierte sie sich in Frankreich für Flüchtlinge, Verletzte und Waisen, was ihr später die Ernennung zum Chevalier de la Légion d‘honneur einbrachte. Die Erfahrung der völligen Auflösung einer bestehenden Ordnung mit den daraus resultierenden katastrophalen Folgen veranlasste sie, auf die rigiden gesellschaftlichen Strukturen ihrer Kindheit zurückzublicken. Dies scheint der Grund zu sein, weshalb Whartons distanziert-ironische Erzählweise jeglicher moralischer Verurteilung entbehrt. Am Ende des Romans zieht Newland Archer ein Resümee: Er hatte „die Krone des Lebens“ verfehlt, aber „[w]enn er sich so umsah, fand er seine eigene Vergangenheit durchaus anerkennenswert, und er trauerte ihr nach. Die alten Lebensformen hatten schließlich auch ihr Gutes“.

Der Grundakkord des Lebens der gesellschaftlichen Oberschicht ist Monotonie. Wharton überträgt dies auf die stilistische Ebene des Romans, sodass manche Passagen eine gewisse Langatmigkeit aufweisen. Diesem Erzählstil steht das Spannung erzeugende Spiel mit dem Unausgesprochenen gegenüber. Die Ereignisse des Romans werden zum großen Teil aus der Sicht von Archer geschildert; zusätzlich wird ein allwissender Erzähler eingeschaltet, um dem Leser Zusammenhänge aufzuzeigen, die von den handelnden Figuren nicht angesprochen werden können, oder um die Ansichten von Archer infrage zu stellen. Mal erhält der Leser einen Wissensvorsprung, mal wird er in Unsicherheit gelassen, da manches in der Schwebe bleibt oder nur in Andeutungen ausdrückt wird. Dem Leser wird überlassen, diese ‚Hieroglyphen‘ für sich zu entschlüsseln.

„Zeit der Unschuld“ gilt als der bedeutendste Roman von Edith Wharton und diente als Grundlage für ein Theaterstück und drei Filme. Martin Scorseses werkgetreue Verfilmung von 1993 erweckte neues Interesse an dem Werk. Dem Manesse Verlag ist es zu verdanken, dass der auch heute noch sehr lesenswerte Roman jetzt in einer gelungenen Neuübersetzung von Andrea Ott und mit einem aufschlussreichen Nachwort von Paul Ingendaay der deutschsprachigen Leserschaft vorliegt.

Titelbild

Edith Wharton: Zeit der Unschuld. Roman.
Übersetzt aus dem amerikanischen Englisch von Andrea Ott.
Manesse Verlag, Zürich 2015.
394 Seiten, 26,95 EUR.
ISBN-13: 9783717523505

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