Migration und Literatur
Überlegungen aus komparatistischer Sicht
Von Immacolata Amodeo
Das Gedicht von Gëzim Hajdari, das hier zunächst in der Erstsprache des Dichters – Albanisch – zitiert wird, handelt von Italien:
Bie shi vazhdimisht
në këtë
vend
ndoshta ngaqë jam
i huaj.Varg i verbër
pa memorie
është trupi im
lindur në një vend të
varfër.
Der albanische Lyriker Gëzim Hajdari hat dieses Gedicht auf Albanisch und auf Italienisch zugleich veröffentlicht. Auch die italienische Fassung stammt vom Autor selbst:
Piove sempre
in questo
paese
forse perché sono
straniero.Il mio corpo
nato in un paese povero
è un verso cieco
senza memoria.
(Deutsche Übersetzung (I. A.): „Es regnet immer / in diesem / Land / vielleicht, weil ich Ausländer bin. // Mein Körper, / der in einem armen Land geboren ist / ist ein blinder Vers / ohne Gedächtnis.“)
Gezim Hajdari lebt seit 1992 in Italien. Er kann als Kronzeuge für eine der jüngsten „Literaturen der Migration“ in Europa zitiert werden, nämlich für jene, die während der letzten zwanzig Jahre in Italien entstanden ist.
Hajdaris Gedicht über ein Italien, in dem es immer regnet, konterkariert die lange – und ehrwürdige – Tradition literarischer Texte über das „Land, wo die Zitronen blühn‘“. Im Gedicht des nach Italien eingewanderten albanischen Lyrikers wird Italien zu einer radikalen, unwirtlichen Fremde, zu einem austauschbaren Ort für den Ausländer, der sich weder an den Natur- noch an den Kunstschönheiten erfreuen kann.
Italien ist bekanntlich seit Jahrhunderten ein Auswanderungsland. Vor diesem Hintergrund ist es vielleicht umso erstaunlicher, dass auch in Italien selbst inzwischen eine Literatur der Einwanderung entstanden ist.
Das sogenannte „bel paese“ ist seit einiger Zeit nicht nur vorübergehender Aufenthaltsort von Touristen, Bildungsreisenden oder kunstschaffenden Wahlitalienern, sondern es ist auch im Begriff, sich – gleichzeitig zur anhaltenden Auswanderung von Italienern – in ein Einwanderungsland zu transformieren. Die offizielle Statistik spricht von circa 6-7 Millionen Personen mit Migrationshintergrund, einschließlich jener, die inzwischen die italienische Staatsbürgerschaft angenommen haben, und ausschließlich der sogenannten „illegalen“ Einwanderer. Viele Italiener haben auf diese ‚legalenʻ und ‚illegalenʻ Einwanderer mit neuen und besorgniserregenden Zeichen der Intoleranz reagiert.
Im Zuge der ‚legalenʻ und ‚illegalenʻ Migrationen nach Italien sind seit dem letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts vollkommen neue, essentiell polyphone literarische Stimmen zu vernehmen, Stimmen, die von ungeahnten Orten kommen und auf Albanisch, Arabisch, Oromisch und natürlich auch auf Italienisch, aber nicht unbedingt auf Standarditalienisch, Gedichte, Erzählungen und Romane schreiben.
Diese nach Italien eingewanderten Autoren kommen aus Albanien (wie der bereits genannte Hajdari), sie kommen aus Südamerika (z.B. Rosana Crispim da Costa aus Brasilien) und besonders aus afrikanischen Ländern (z.B. Mohamed Bouchane aus Marokko, Younis Tawfik aus Iraq, Smari Abdel Malek aus Algerien, Mohamed Ghonim aus Ägypten), einige aus den ehemaligen italienischen Kolonien (z.B. Erminia Dell’Oro aus Eritrea; Ribka Sibhatu und Shirin Ramzanali Fazel aus Somalia).
Im Unterschied zu dieser neu entstehenden Literatur der Migration in Italien haben andere „Literaturen der Migration“ eine lange Geschichte. Teilweise haben sie eine so lange Geschichte, dass die Bezeichnung „Literatur der Migration“ gar nicht mehr auf sie passt. Neben meinem ersten Fallbeispiel Italien möchte im Folgenden noch einige Beispiele aufzeigen.
Die US-amerikanische Literatur ist weitgehend eine von Einwanderern bzw. von Abkömmlingen von Einwanderern geschriebene: von italienischen (John Fante), von russischen (Vladimir Nabokov), von polnischen (Isaac Bashevis Singer), von deutschen (Henry Miller), von afrikanischen (Alice Walker, Toni Morrison) und inzwischen von mexikanischen, arabischen, chinesischen, pakistanischen. Die Autoren der US-amerikanischen Literatur haben die unterschiedlichsten kulturellen Hintergründe, sind aber zugleich auch und vor allem Amerikaner. Die amerikanischen Autoren „mit Migrationshintergrund“ werden in einem Land, welches bereits seit Jahrhunderten ein Einwanderungsland ist – und das sich explizit als solches definiert – nicht von „einheimischen Autoren“ unterschieden, sondern sie sind die „einheimischen Autoren“, die selbstverständlich zum Kanon der amerikanischen Literatur gerechnet werden. Wir können sogar sagen, dass die amerikanischen Autoren „mit Migrationshintergrund“ den Kanon der amerikanischen Literatur konstituieren.
Zu den traditionsreichen Literaturen, die durch einen hohen Migrationskoeffizienten bestimmt sind, gehören auch die Literaturen, die in Kanada entstanden sind. Eine davon ist z.B. die italo-kanadische Literatur. Sie ist der großen Auswanderung von Italienern nach Kanada in den Jahren nach dem 2. Weltkrieg zu verdanken und fing in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts an, sich zu etablieren. Antonio D’Alfonso z.B. kann – neben Pier Giorgio Di Cicco und Joseph Privato – als typischer Repräsentant der jüngeren Autorengeneration gelten.
Wenn wir auf Europa blicken, dann finden wir in Frankreich viele Autoren, welche von außerhalb Frankreichs kommen und auf Französisch schreiben. Neben Autoren osteuropäischer Herkunft, wie z.B. dem Rumänen Eugene Ionesco und der Bulgarin Julia Kristeva, sind es vor allem Autoren, die aus den ehemaligen französischen Kolonien stammen, d.h. z.B. aus Marokko (Tahar Ben Jelloun), aus Kamerun (Mongo Beti), aus Algerien, aus Tunesien usw., die dazu beigetragen haben, dass in Frankreich in französischer Sprache eine Literatur entstanden ist, welche auch auf kulturelle Topographien, Problematiken, Kontexte außerhalb Frankreichs verweist oder die interne Heterogenität der französischen Gesellschaft zum Ausdruck bringt.
Eine Unterkategorie ist die sogenannte “littérature beure”, d.h. die Literatur der jungen Autoren mit Maghreb-Hintergrund, die einen provokanten Stil und eine eigene französische Sprache entwickelt haben, welche sich jeglichem zentralistischen französischen Sprachpurismus widersetzt.
Eine „Literatur der Migration“ in Deutschland ist zunächst im Zuge der Anwerbung von Gastarbeitern am Ende der 1950er Jahre entstanden. Durch so unterschiedliche Autoren wie Franco Biondi, Zehra Cirak, Aras Ören, José Oliver, Zafer Senocak oder Feridun Zaimoglu hat sie sich inzwischen in vielfältigen Formen und Genres entfaltet und verfügt über einen Reichtum von Themen.
Aus komparatistischer Sicht soll nun nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden der skizzierten „Literaturen der Migration“ gefragt werden. Dabei ist mein Ziel nicht, die beispielhaft genannten Literaturen – und womöglich noch weitere – tatsächlich ausschöpfend zu vergleichen. Vielmehr möchte ich – in Form eines methodologischen Impulspapiers – einige der Kriterien herausarbeiten, welche mir für einen solchen Vergleich interessant bzw. relevant zu sein scheinen.
1. Organisationsformen
Hier ließe sich fragen: Gibt es Gruppenbildungen? Warum und wie entstanden diese Gruppen? Sind sie ethnisch und sprachlich homogen? Sind sie gemischt?
Die italo-kanadischen Autoren z.B. stellen sich gerne als eine Gruppe dar. Sie repräsentieren ihre literarische Produktion als eine kollektive „Italian voice“, die eine gemeinsame „Italian tradition“ zum Ausdruck bringen soll.[1]
In Deutschland ließen sich verschiedene Gruppierungen anführen, etwa die „letteratura Gast“ aus den 1970er Jahren, die nur italienische Autoren umfasste, oder die in den 1980er Jahren darauf folgende multinationale PoLiKunst- bzw. Südwind-Gruppe und schließlich die sogenannten „Chamisso-Autoren“, die sich nie selbst als Gruppe organisiert haben, aber auf Veranlassung und Einladung der Robert Bosch Stiftung immer wieder auf irgendeine Weise zusammen gekommen sind bzw. zusammenkommen.
Die Autoren der Migration in Italien treten nicht im Kontext nationaler oder ethnischer Gruppierungen auf. Feste Organisationsverbünde fehlen ihnen. Ihr Schreiben definiert sich nicht über eine Zugehörigkeit zu einer Gruppe, weder über eine mono- noch über eine plurikulturelle, sondern reflektiert eine – oft aufgezwungene – Transnationalität, die aus dem Heimatverlust und dem Fehlen einer neuen Heimat heraus entstanden ist.
2. Autorschaft / Professionalisierung als Autor
Die Mechanismen und das Prozedere, welche dazu führen, dass ein Individuum zum Autor wird, können von einer „Literatur der Migration“ zur anderen sehr unterschiedlich sein. Auch die Wege zur Professionalisierung als Autor können variieren. In manchen Fällen ist ein Autor gezwungen, zunächst oder über längere Zeiträume hinweg ganz unterschiedliche Tätigkeiten zu übernehmen. Es fällt z.B. auf, dass in bestimmten Kontexten und in bestimmten Entwicklungsstadien einer „Literatur der Migration“ die Autoren eine Mehrfachfunktion übernehmen (müssen): Sie sind dann nicht nur Autor, sondern betätigen sich auch als Herausgeber, Organisator, Übersetzer, Multiplikator etc.
3. Themen
Bei einer Untersuchung der Themen fällt auf, dass einerseits Migration und Fremd-Sein im Mittelpunkt stehen, andererseits aber auch ganz andere Themen. Es ist interessant, diese Unterschiede im Hinblick auf unterschiedliche „Literaturen der Migration“, unterschiedliche Phasen innerhalb eines nationalen Kontextes und sogar unterschiedliche Interessen und Entwicklungen innerhalb des Werkes eines einzigen Autors herauszuarbeiten.
4. Formen
Wir stoßen in den „Literaturen der Migration“ einerseits auf formal „unauffällige“ Texte. Andererseits stoßen wir mitunter auf Texte mit formalen Charakteristika, welche den Entstehungskontext der Migration reflektieren. Dazu gehören z.B. eine nicht-lineare Erzählweise, eine mehrstimmige, rhizomatische Textstruktur, die Polyperspektivik, die Kombination von unterschiedlichen Textsorten und Gattungselementen; der Rückgriff auf das Genre des Familienromans; die Ko-Präsenz unterschiedlicher geographischer Räume.
5. Stellenwert der / Bezug auf die Herkunftskultur
Der Stellenwert der Herkunftskultur bzw. ein Bezug auf diese kann sehr unterschiedlich sein. Die Herkunftskultur kann z.B. in einer idealisierten Weise oder in einer ambivalenten oder problematischen Weise thematisiert bzw. repräsentiert werden.
Der italo-kanadische Autor Antonio D’Alfonso z.B. beschreibt den Augenblick, als er „entdeckte“, Italiener zu sein, als einen Moment der Selbstfindung und -erkennung: „1977 […] was the year I became an Italian. One is not born Italian; one becomes an Italian. […] especially when you are not born in Italy […]. I discovered […] that Italianità […] was my reality.“[2] Dabei sind etliche dieser jüngeren italo-kanadischen Autoren niemals in Italien gewesen. Italien fungiert dann auch als Projektionsfläche für die eigene Orientierungslosigkeit: „To be able to go beyond culture you need to have a culture, […] an identity which can be transcended. An Italian in Canada and Quebec cannot be transcultural or a ‚citizen of the worldʻ unless he is first an Italian.“[3]
Bei solchen Autoren beobachten wir eine Inszenierung von Ethnizität, z.B. einer „italianità“, mit literarischen Mitteln. Auch hierfür ließen sich Beispiele aus D’Alfonsos Werk zitieren: Immer wieder tauchen in seinen englisch- oder französischsprachigen Texten italienische Sprachfragmente auf.[4] Die italienische Sprache fungiert dann als eine „lingua delle origini“, als Sprache der kulturellen Wurzeln, der mythischen Rückbindung an ein verloren geglaubtes Paradies, als Sprache, die eine verborgene oder vergessene kulturelle Tradition und Verankerung ans Licht und buchstäblich zur Sprache bringen soll.[5]
Anders ist die Darstellung der Herkunftskultur bei einem Autor wie Franco Biondi in Deutschland. In seinem Roman Die Unversöhnlichen ist Italien die topographische Folie für eine Familiengeschichte, die dem schreibenden Ich entgleitet, die verschwommen ist; Italien ist Teil einer negativen Erinnerung an die Kindheit. Der Roman handelt bekanntlich von der Entfremdung eines Ausgewanderten von der eigenen Herkunft.
6. Art und Weise der Thematisierung des Ziellandes und der Zielkultur
Auf ähnliche Weise wie die Thematisierung des Herkunftslandes und der Herkunftskultur könnte natürlich das Zielland und die Zielkultur in den literarischen Texten untersucht werden: Welche Aspekte werden thematisiert? Ist die Darstellung des Ziellandes und der Zielkultur eher positiv oder negativ? Welche Unterschiede lassen sich von einem Autor zu anderen bzw. zu verschiedenen Zeitpunkten ausmachen?
7. Sprache / Sprachen
Manche Autoren schreiben in ihrer Herkunftssprache, manche in der Sprache des Einwanderungslandes; manche in einer Mischsprache, manche abwechselnd in unterschiedlichen Sprachen usw.
Manchmal übernimmt die Herkunftssprache eine Art dekorative Funktion; manchmal hat sie die Funktion, ein mythisches Anderswo zu vergegenwärtigen (das bereits erwähnte Beispiel von D’Alfonso).
Bei einem Lyriker wie Gino Chiellino z.B. veranschaulicht das in die deutschsprachigen Gedichte eingewobene italienische und kalabresische Sprachmaterial ein sprachpolitisches und sprachphilosophisches Programm, welches in das Modell der Heterogenität ohne Hierarchie mündet.
Die Frage der Sprache bzw. der Sprachen ist eine der spannendsten und verdient es unbedingt, vertieft zu werden.
8. Institutionalisierung
Die USA und Kanada haben, was ihre demographische Verfasstheit, aber auch ihre Gesetzgebung und ihr Selbstverständnis betrifft, eine lange Tradition des Umgangs mit Minoritäten (sprachlichen, ethnischen usw.). Das spiegelt sich auch innerhalb der literarischen Institutionen wider. Die auf Minderheiten basierende Struktur dieser Länder führt dazu, dass auch im literarischen Leben auf der Differenz nationaler und ethnischer Identitäten insistiert wird.[6] „Literaturen der Migration“ haben dort selbstverständlich eine Existenzberechtigung auf dem Büchermarkt.
In den USA beobachten wir aber auch, daß das moralische und politische Prinzip der political correctness auf die literarischen Institutionen übergegriffen hat. So gibt es etwa an US-amerikanischen Universitäten eine Proliferation von „ethnic“, „postcolonial“, „cross-cultural“, „multicultural studies“, die weitere Spezialisierungen wie „afro-american women studies“ nach sich ziehen. Diese Ausdifferenzierung trägt mitunter zur Zementierung des Minderheitenstatus bei und hat, wie von Kritikern wie etwa Harold Bloom festgestellt wurde, eher mit moralischen und politischen als mit literarischen Fragen zu tun.
Kanada definiert sich ähnlich wie die USA als Einwanderungsland, aber im Unterschied zu den USA eher auf der Grundlage separatistisch orientierter einzelner nationaler Gruppen. Diese Segregation spiegelt sich in Bezeichnungen wie „frankophone italo-kanadische“, „anglophone italo-kanadische“ oder „italo-quebecische Literatur“ wider. Zwar ist man hier mit Zweierkombinationen konfrontiert, aber diese reproduzieren und bestätigen deshalb nicht weniger das nationale Paradigma.
Der Blick auf die deutsche Situation ist ebenfalls interessant: Die Bundesrepublik Deutschland hat sich lange mit Entschiedenheit nicht als Einwanderungsland definiert. Der „Literatur der Migration“ in Deutschland ging es daher lange darum, die Bedingungen für Ausländer zu ändern in einem Land, in dem sie zwar dauerhaft leben, für dessen Selbstdefinition sie aber nur eine marginale Rolle spielen; diese Literatur setzte z.B. die sprachliche und literarische Staatsbürgerschaft an Stelle der (ausgebliebenen) politischen.
Inzwischen wird die Vorstellung von einer multikulturellen Gesellschaft von einigen politischen Gruppierungen als Ideal propagiert. Nicht zufällig sind innerhalb der „Literatur der Migration“ in Deutschland die Autoren „exotischerer“ Herkunft bekannter und erfolgreicher als die Autoren italienischer oder spanischer Herkunft.[7]
Die „Literatur der Migration“ in Italien ist – ähnlich wie es für jene in Deutschland lange der Fall war – bei Mini-Verlagen bzw. im Eigendruck erschienen und wird gelegentlich an Straßenecken verkauft. Sie hat ein Forum im Kontext multikultureller Initiativen, spielt aber in der literarischen Öffentlichkeit und vor allem in der Literaturwissenschaft nur eine marginale Rolle. Signifikanterweise wird sie, wenn überhaupt, eher an Universitäten außerhalb als innerhalb Italiens erforscht. Sie ist vor dem Hintergrund eines besonders strengen Einwanderungsgesetzes und einer monokulturellen Selbstdefinition Italiens zu sehen. Sein Urheber ist Umberto Bossi von der Lega Nord. Unterstützt hat ihn sein Kabinettskollege Gianfranco Fini von der postfaschistischen Partei Alleanza Nazionale (das Gesetz Nr. 189 vom 30. Juli 2002 wird in der Tat als „Legge Bossi-Fini“ bezeichnet). Man könnte sagen: In Italien sind „Literaturen der Migration“ ebenso wenig wie die Einwanderer selbst vorgesehen.
9. Repräsentation / Bezeichnungen
Jede der Bezeichnungen, die für diese Literaturen in den unterschiedlichen Entstehungsländern gefunden wurde, verweist die Autoren und ihre Texte an einen bestimmten taxonomischen Ort. Eine diskurskritische Analyse dieser Bezeichnungen kann Strategien des Ein- und Ausschlusses, Kanonisierungsprozeduren sichtbar machen. So gibt es Bezeichnungen, welche auf einer territorialen Demarkation basieren.
Z.B. basierte das inzwischen umstrittene Konzept der „Commonwealth Literature“ auf einer territorialen Demarkation. Die Commonwealth Literature umfaßte all jene Autoren, welche innerhalb des Gebietes der ehemaligen englischen Kolonien lebten oder daraus stammten, gleichgültig, ob sie Inder, Südafrikaner oder Jamaikaner waren. Die „Commonwealth Literature“ reproduzierte in gewisser Weise die kulturelle Kolonisierungslandkarte und wurde bald von neutraleren Bezeichnung abgelöst. Z.B. von der Bezeichnung „anglophone literature“, die auf einer sprachlichen Demarkation basiert.
Im französischen Kontext ist die Rede von den „littératures francophones“ („frankophonen Literaturen“) ebenfalls sehr eingebürgert. Die Frankophonie ist ein sprachlich definiertes Konzept und erlaubt, alles unter einen Hut zu bringen, was im weitesten Sinn französischsprachig ist, sei es algerisch, sei es karibisch, sei es togolesischer Herkunft. Dabei wird die Rede von einer frankophonen Literatur flankiert von der fest verankerten Überzeugung, dass es neben der frankophonen auch eine genuin französische Literatur gibt. D.h., das Konzept der Frankophonie impliziert die Existenz eines kulturellen Zentrums bzw. ist geradezu konstitutiv dafür, indem es die Aufrechterhaltung der Dichotomie Peripherie vs. Zentrum garantiert.
Die unterschiedlichen Bezeichnungen, die für die „Literaturen der Migration“ in Deutschland erfunden und verwendet wurden – angefangen von der „Gastarbeiterliteratur“ –, verwiesen diese Literatur lange an einen taxonomischen Ort außerhalb, jenseits oder neben der ,wahrenʻ und ,eigentlichenʻ deutschen Literatur. Andere Bezeichnungen wiederum trugen dazu bei, daß sie in die „deutsche Literatur“ eingeschlossen werden konnte, jedoch oft als etwas Marginales, Minderes oder Exotisches („deutsche Gastliteratur“).
Zum Themenkomplex „Migration und Literatur“ liegen inzwischen eine Reihe von Einzelstudien vor: zu einzelnen Autoren, zu Autorengruppen, zu Entwicklungen innerhalb eines Landes. Vergleichende Studien zu „Literaturen der Migration“ fehlen bisher weitgehend. Bis auf wenige Ausnahmefälle ist ein komparatistischer Blick auf „Literaturen der Migration“ (im Plural) noch nicht erfolgt. Ich habe hier einen Versuch gemacht, der freilich nur zu einem vorläufigen und partiellen Ergebnis führen konnte. Wie ich zu zeigen versucht habe, ist eine vergleichende Betrachtung von unterschiedlichen „Literaturen der Migration“ nicht nur im Hinblick auf diese Literaturen selbst aufschlussreich, sondern auch und vor allem hinsichtlich der Herausarbeitung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden, welche die Einwanderungskulturen und ihr Selbstverständnis betreffen. Die Mechanismen der Repräsentation und Institutionalisierung der „Literaturen der Migration“, ihre ästhetische Beschaffenheit und der Stellenwert der Einwanderung innerhalb der Selbstdefinition der Einwanderungsländer stehen in einem wechselseitig kausalen Verhältnis zueinander. Die Beschäftigung mit „Literaturen der Migration“ aus komparatistischer Sicht setzt somit auch eine Reflexion über die sprachlichen, kulturellen und politischen Bedingungen von Literatur insgesamt in Gang, die weit über sogenannte „Rand- und Minderheitenphänomene“ hinausgeht.
Der vorliegende Text ist die leicht veränderte Fassung des Aufsatzes Immacolata Amodeo: „Migration und Literatur: Überlegungen aus komparatistischer Sicht“. In: Jan M. Boelmann / Daniela A. Frickel (Hg.): Literatur – Lesen – Lernen. Festschrift für Gerhard Rupp. Peter Lang. Frankfurt a.M. u.a. 2013, S. 7-16.
Anmerkungen
[1] Vgl. etwa D’Alfonso: 1985, 218.
[2] D’Alfonso 1985, 210-211.
[3] Ebd., 226.
[4] Z.B. „Ghiaccio“ (ebd., 22) oder „Violare“ (ebd., 31).
[5] Vgl. hierzu auch Caccia 1985, 161: „The language of Return can thus serve as a traditional way of bringing to light the hidden aspect of cultural heritage.“
[6] Vgl. etwa D’Alfonso 1985, 229: „I am in favor of difference, both cultural difference and individual difference. It is the task of the Italian writer in Canada and Quebec to help us find these differences.“
[7] Die Autoren italienischer Herkunft sind weder so ‚frech‘ wie der eine Zeitlang als Enfant terrible wahrgenommene Feridun Zaimoglu, noch wirken sie so exotisch wie die türkische Ingeborg Bachmann-Preisträgerin Emine Sevgi Özdamar mit ihrem Karawanserei-Roman. Keiner der Autoren italienischer Herkunft hat so hohe Auflagen erreicht wie der Erfolgsautor syrischer Herkunft Rafik Schami.
Literatur
Amodeo, Immacolata (1996): „Die Heimat heißt Babylon“. Zur Literatur ausländischer Autoren in der Bundesrepublik Deutschland. Opladen.
Caccia, Fulvio (1985): The Italian Writer and Language. In: Pivato, Joseph (Hg.) (1985): Contrasts. Comparative Essays on Italian Canadian Writing. Montréal, 153-167.
D’Alfonso, Antonio (1985): The Road Between: Essentialism. For an Italian Culture in Quebec and Canada. In: Pivato, Joseph (Hg.) (1985): Contrasts. Comparative Essays on Italian Canadian Writing. Montréal 1985, 207-222.
Ramberti, Alessandro/Sangiorgi, Roberta (Hg.) (1995): Le voci dell’arcobaleno. Santarcangelo di Romagna.
Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz