„Die Technik macht’s möglich“

Zur ökologischen Apokalypse in Günter Grass‘ Roman „Die Rättin“

Von Rudolf DruxRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rudolf Drux

Im selben Jahr, in dem sich der verheerende Reaktorbrand in Tschernobyl ereignete, entwarf Günter Grass in seinem Roman Die Rättin (1986) eine komplexe Endzeitvision. Diese unterscheidet sich von den literarischen Darstellungen jener realen Katastrophe im ukrainischen Kernkraftwerk und des späteren nicht minder desaströsen, wenn auch mit höherer medialer Präsenz verfolgten Super-GAUs von Fukushima, der zwar nicht ausschließlich durch menschliches Versagen, vielmehr durch ein vernichtendes Naturgeschehen ausgelöst, aber kaum besser gemanagt wurde, in zwei wesentlichen Punkten: Erstens schien für die fiktionale Ausgestaltung einer atomaren Katastrophe noch Mitte der 1980er-Jahre die friedliche Nutzung der Kernenergie weit weniger geeignet als ein politisch motivierter, in voller Absicht ausgeführter militärischer Atomschlag. Und zweitens kulminiert in diesem die zerstörerische Entwicklung unkalkulierbarer Groß-Technologien,[1] die vereint den Zusammenbruch des gesamten Ökosystems herbeiführen.

Die Geschichte vom Untergang „des Menschengeschlechts“, dessen „Erziehung“, ein grundlegendes Postulat der Aufklärung, diesen letztlich zu verantworten habe, liefert die titelgebende „graubraune Wanderratte“, die, eigentlich als Weihnachtsgeschenk für den Ich-Erzähler gedacht,[2] sich schon bald vom „niedlichen“ Nagetier zum Unheilspropheten wandelt, der sich alle biblischen Schriften ‚einverleibt‘ hat.[3] Auf drei Aspekte seiner verhängnisvollen Vorhersagen möchte ich im Folgenden kurz eingehen.

1. „Unsere Gegenwart macht Zukunft fraglich“

Von  Anfang an ist mit der „unterm Christbaum“ platzierten Ratte in ihrem „mit Tannenzweigen“ bedeckten Käfig der theologische Kern des zwar nicht „höchsten“,[4] aber doch wohl emotionalsten Kirchenfestes, an dem die Inkarnation, die Menschwerdung des Gottessohns gefeiert wird,  ins Profane verkehrt: Die Erlösung des Menschengeschlechts wird in dem zu erzählenden Werk nicht stattfinden, ist dem Erzähler doch kein Heiland geboren, sondern eine zoologische Überlebenskünstlerin, die  mit Untergangsszenarien vertraut und immer anwesend ist, „sobald die See kleine Wellen wagt, der Wald an den Menschen stirbt oder womöglich ein Männlein bucklicht sich auf die Reise macht“ (9).

Was die Ratte dann offenbart, sind offensichtlich die Traumprojektionen des Ich-Erzählers: „Neuerdings träumt sie mir“, heißt es vor ihrer ersten Auslassung, „meine Tagträume, meine Nachtträume sind ihr abgestecktes Revier“ (10). Sie kommt auch mit trommelnden Stakkato-Sätzen sogleich zum Wesentlichen: „Schluß! Sagt sie. Euch gab es mal. Gewesen seid ihr, erinnert als Wahn. Nie wieder werdet ihr Daten setzen. Alle Perspektiven gelöscht. Ausgeschissen habt ihr. Und zwar restlos. Wurde auch Zeit!“ (10) Aber auch der Wirklichkeitsstatus ihrer Untergangsvisionen wird – wie der des mit ihr kommunizierenden Ich-Erzählers selbst – immer wieder relativiert: „Wer sagt das? Die Rättin, von der mir träumt? Oder sagte ich, was mir vorgesagt wurde? Oder sie, was ich ihr in den Mund legte? Oder sprachen im Traum die Rättin und ich synchron?“ (424)

Diese hermeneutische Unsicherheit über den Realitätsgehalt von Erzähltem und den Wirklichkeitsstatus des Erzählenden korreliert mit der Unschärfe der Bilder des Traums,[5] dessen Mechanismen (Verdichtung und Verschiebung) in gesteigerter Form auch die Endzeitsituationen prägen – nur dass diese weniger auf subjektiven Erlebnissen als auf objektiven Ereignissen beruhen, auf nachprüfbaren, von der Rättin übermittelten Daten, die sich auf harte, quantifizierbare Erzeugnisse der Technik, ihre militärische Anwendung und ökologische Auswirkung beziehen.

Darauf hatte Günter Grass bereits 1982 hingewiesen, als ihm der Feltrinelli-Preis für Erzählprosa in Rom verliehen wurde:

Unsere Gegenwart macht Zukunft fraglich, schließt sie in vielen Bereichen geradezu aus und produziert […] den einzigen Zuwachs unserer Tage: Armut, Hunger, Verhungernde, verpestete Luft, vergiftete Gewässer, hier vom sauren Regen, dort vom Kahlschlag vernichtete Wälder und sich wie selbständig aufstockende Waffenarsenale, die der vielfachen Vernichtung der Menschheit fähig sind.[6]

Und er hebt – unter Anspielung auf den Ort der Preisverleihung –  auf die Berichte des ‚Club of Rome‘ ab, die

unsere nüchterne Offenbarung [seien]. Kein von den Göttern oder dem einen Gott verhängtes Strafgericht droht uns. Kein Johannes auf Patmos schreibt seine dunklen, den Untergang feiernden Bilder nieder. Kein Buch der ‚Sieben Siegel‘ wird uns zum Orakel. Nein, sachlich und unserer Zeit gemäß schlagen zu Buche: Zahlenkolonnen, die den Hungertod bilanzieren, die Statistik der Verelendung, die ökologische Katastrophe zur Tabelle verkürzt, der ausgezählte Wahnsinn, die Apokalypse als Ergebnis eines Geschäftsberichtes.[7]

Dass sich aus den darin verzeichneten Geschäften geradewegs das Ende aller Tage, eine Welt ohne Zukunft ergibt, steht für ihn außer Zweifel. Schon in seiner auf dem Schriftstellerkongress in Lahti 1981 gehaltenen vernunftkritischen Rede über „Literatur und Mythos“ hatte Grass die Geheime Offenbarung, die „Johannes auf Patmos niederschrieb“, für unsere Gegenwart umgedeutet;

dieses Glanzstück literarischer Erhellung und Eindunkelung, dieser siebenmal versiegelte Mythos vom Weltuntergang verspricht heutzutage, platterdings eingelöst zu werden. Was heißt hier das Siebte Siegel! Der Mensch, also die Technik macht’s möglich. Wir entsiegeln alles. Uns bleibt nichts verborgen. Wir dulden keine Informationslücke.[8]

Indem sich der Mensch seinen Untergang mit Mitteln der Technik bereitet und ihn zugleich mit eben diesen (statistisch erhobenen und gesicherten Daten) enthüllt, wird die Apokalypse diesseitig. Drei ihrer Erscheinungsformen, die Grass in der Rättin beschreibt, möchte ich etwas näher betrachten: Sie sind auf dem Gebiet der Informations- beziehungsweise Medienwissenschaften, auf dem der Atomphysik sowie der Biogenetik, also gerade in den Disziplinen angesiedelt, die den technischen Fortschritt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wesentlich vorangetrieben haben.

2. „Die Technik macht’s möglich“

Was sich die Rättin ausmalt: Wenn die Summe desaströser Technologien letztlich den Untergang der Menschheit herbeiführt, wird besten- oder schlimmstenfalls in einer menschenleeren Welt noch ein unbeteiligtes High-Tech-Aufzeichnungssystem übrig bleiben, quasi die voll automatisierte Kamera, die weiterläuft und Bilder generiert, wenn der Mensch vernichtet und seine Spezies ausgerottet ist. Eine solche Situation stellt sich ein, wenn der Atomschlag, der in der Literatur der Nachkriegszeit, etwa bei Arno Schmidt, das posthumane Zeitalter einzuleiten pflegte, um den Abwurf von Neutronenbomben ergänzt wird; denn diese eliminieren zwar Lebewesen, aber verschonen die „Bausubstanz“ und damit Kulturgüter. Das greift Grass auf – und so lässt er, gerade am 107. Geburtstag der Anna Koljaiczek, der mehrfach berockten Großmutter des ehemaligen Blechtrommlers Oskar Matzerath, um fünf nach Zwölf Blitze auf die Kaschubei niedergehen,

worauf die Gäste ins Freie drängen, wo sie alle, die einen schnell und gnädig, die andern elend vergehen, krepieren, entsaftet schrumpfen; denn der Raum Matarnia, Firoga, Zokovo, Kartuzy […] ist von zwei Vernichtungssystemen, der Hitze- und Druckwelle und dem radioaktiven Fallout sowie von beschleunigten Neutronen- und Gammastrahlen betroffen. (327)

Dem allgemeinen Vernichtungsschlag trotzt die „Mattscheibe“ mit dem „Videofilm aus der Post-Futurum-Produktion“ der „auf Vorausschau spezialisierten Firma“ des Oskar Matzerath (317), der die Zukunft so genau vorausproduzierte, dass „der Prälat aus Olivia die göttliche Vorsehung und Gottes Allmacht durch das neue Medium letztlich bestätigt sah“ (327). Allerdings hat Matzerath bei aller Genauigkeit in der filmischen Antizipation des großmütterlichen Geburtstags dessen schreckliches „Ende nicht vorweggewusst“ (328), das die Rättin aufgrund ihres Instinktes, der ihr von alters her erlaubt, rechtzeitig sinkende Schiffe zu verlassen, sehr viel genauer vorausahnt als der Video-Visionär des Weltuntergangs. Immerhin betreibt er mit seinen Schreckensbildern die Enthüllung des finalen Absturzes, Apokalypse im ursprünglichen Sinn,[9] jedoch nicht mehr als geheime Offenbarung, sondern landesweit elektronisch übermittelt. Ihren tatsächlichen Vollzug erlebt nur noch der fiktive Ich-Erzähler in seiner Raumkapsel,[10] der todbringenden Erdatmosphäre entrückt, auf dass auch noch der eschatologischen Katastrophe, der Zerstörung der Welt am Ende aller Tage, ein menschlicher beziehungsweise geistbegabter Beobachter beiwohnt, der notwendig ist, damit ein desaströses Geschehen als ‚Katastrophe‘ klassifiziert werden kann.[11] Nicht den reinen „Schiffbruch“ erklärt der Philosoph Hans Blumenberg zur Metapher menschlichen Daseins, sondern den „Schiffbruch mit Zuschauer“.[12]

Während der Erzähler die Erde umkreist, fährt seine Lebensgefährtin Damroka mit ihrer weiblichen Crew auf der „Neuen Ilsebill“[13] durch die westliche Ostsee, deren „Verquallung“ sie im Auftrag des Instituts für Meereskunde in Kiel erforschen soll; eigentlich aber verfolgt sie ein ganz anderes (ihr vom Butt verheißenes) Ziel, nämlich sich auf die Suche zu begeben nach

Utopia Atlantis Vineta. Doch diese Stadt soll es wirklich als wendische Siedlung gegeben haben. […] Vineta hieß anfangs anders. Es sollen in dieser Stadt während langer Zeit die Frauen das Sagen gehabt haben, bis eines Tages die Männer mitreden wollten. Die alte Geschichte. Am Ende führten die Herren das Wort. Gepraßt wurde und goldenes Spielzeug den Kindern geschenkt. Worauf Vineta mit all seinem Reichtum unterging, auf daß die versunkene Stadt eines Tages erlöst werde: von Frauen natürlich, fünf an der Zahl, deren eine wendischen Ursprungs sei und Damroka heiße. (100)

Vom Gesang der Quallen, den nur sie vernehmen, geleitet, finden die Frauen endlich die versunkene Stadt; sie

liegt an einem Fluß, der eine Insel bildet, auf der hohe und breite Speicher hinter Fachwerk Reichtum versprechen […] geschmückte Fassaden gegiebelter Häuser [erblicken die Frauen]. Überall entdecken sie Gehäuse und Plätze, geeignet, die Frauensache auszutragen, das Frauenrecht zu wahren, ihr Frauenreich zu errichten. Wie putzsauber die Stadt ist. (319f.)

Kein Wunder also, dass die Frauen sich „rausputzen“, bevor sie ihre schmucke Traumstadt besuchen – das aber wird ihnen zum Verhängnis. Durch ihre Verschönerungsaktion, von der Auswahl der Kleider bis zum Anlegen der Schmuckstücke, verstreicht so viel Zeit, dass dem möglichen Tauchgang ins unterseeische Frauenreich der finale Atomschlag zuvorkommt, unter dessen „Druck- und Hitzewellen […] sie vergehen“. Das mutet vordergründig wie eine Satire auf eine typisch weibliche Verhaltensweise an, die die Einlösung einer feministischen Utopie verhindert.[14] Die Attacke erscheint aber eher als ein bloßes Spiel mit Klischees, die der Autor nicht ohne Selbstironie ausbreitet (geriert sich sein Ich-Erzähler doch als machohafter Liebhaber der gesamten Schiffsbesatzung); sein Spott wirkt harmlos angesichts der Unbewohnbarkeit der vom Wasser umschlossenen Stadt, die längst die Ratten in Besitz genommen haben, wie die Frauen vor ihrer Auslöschung erkennen müssen. Wie „ihnen auf dieser Welt kein Ort ist“ (324), so ist (im Kontext der Rättin) in einer durch männlichen Machbarkeitswahn und eine ungezügelte „instrumentelle Vernunft“, die die soziale Dominanz der Großtechnologien herbeigeführt und ein jederzeit abrufbares und dann unbeherrschbares Vernichtungspotenzial entwickelt hat, jegliches utopische Denken, das auf lebbare Gegenentwürfe zielt, obsolet geworden. Der hypertrophe technische Fortschritt lässt Zukünftiges gar nicht mehr zu.

3. „Was die Schöpfung versäumte, nun wird es Ereignis“

Zu klären wäre noch, ob die oszillierende poetische Fiktion, die multiple Traumbildnerei den wissenschaftlichen Fakten gewachsen ist, will doch das so sinnlich veranschaulichte Katastrophenpotenzial ernst genommen werden. Immerhin rechnet der im deutschen Feuilleton heftig attackierte und zu undifferenziert abqualifizierte Rättin-Roman mit der Irreversibilität und Unkontrollierbarkeit technologischer Komplexe wie dem Energie- und Verkehrswesen, der Informationsverarbeitung und Biogenetik ab, die letztendlich zur Vernichtung der Menschheit führen. Nach dem „Großen Knall“ der nuklearen Explosion konnten sich nur Insekten, Fische und Kriechtiere, obgleich unter radioaktiver Strahlung mutiert, sowie Tauben und Ratten in das „posthumane“ Zeitalter retten, aber auch eine genetische Züchtung des Menschen überlebte, deren Exemplare die Rättin in Anspielung auf die Entdecker der DNS-Struktur die „Watsoncricks“ nennt. Schon als der Ratte „für Verdienste auf dem Gebiet der Gen-Forschung“ und der durch ihre ständige Präsenz in den Labors „so nachhaltig erfolgreichen Gen-Manipulation“ der Nobelpreis zuerkannt wurde (190), hatte ihr Laudator erwogen, „die vornehmsten Eigenschaften beider Gattungen, das kostbarste Erbgut der Menschen und die bekannten Vorzüge der Ratte, als erwählte Gene eine Symbiose eingehen“ (194) zu lassen. Erst durch das „rattige“ Erbpotenzial ergänzt, bleibe der Mensch „lebenstüchtig“: „Es wird der Homo sapiens an der Gattung Rattus norvegicus genesen. Schöpfung verwirklicht sich. Einzig der Rattenmensch wird zukünftig sein.“ (195)

Aber dem ist nicht so; vielmehr richten sich die vom Menschen geschaffenen Watsoncricks in der posthumanen Phase selbst zugrunde, indem sie ihre „Reviergrenzen“ ausdehnen, die Rattenvölker um ihre fleißig angelegten Nahrungsvorräte bringen und dann zum „Gerste- und Maisanbau“ (478) als Knechte auf die Äcker treiben und schließlich, da es ihnen „möglich wurde, Feuer zu schlagen“, nach fleischlicher Kost gierten, die sogar durch „Mastratten“ bereichert wurde – kurzum, sie gestatten sich so viele „Rückfälle in allzu bekanntes Humanverhalten“ (486), dass sich die natürlichen Ratten gegen ihre Unterdrücker zusammenrotten und dank ihrer evolutionär gesicherten Überlebensstrategien wieder die Oberhand gewinnen. Von der Biogenetik also als Paradedisziplin postmoderner Wissenschaft ist, das zeigt Grass mit ihrer Einbindung in seine Endzeitvision, keine Hilfe für den Fortbestand des Menschengeschlechts zu erwarten, ganz im Gegenteil: „Der Mensch in verbessertem Modell“ (194) optimiert die Destruktionskräfte, mit denen er schon in der Jetztzeit seine natürliche Umwelt zerstörte – und die ihr und damit ihm selbst das definitive Ende bescheren werden, die ‚Apokalypse‘ als Folge des technischen Fortschritts.

Freilich, die Erkenntnisse der Biogenetik hatten Mitte der 1980er-Jahre noch keineswegs das Maß an technologischer Realität erreicht wie die der Kernphysik. Der markante Satz: „Denn nach dem Atomkern gelang es, den Zellkern zu spalten“ (193), bezieht sich von daher eher auf die verschiedenartigen Wirkungsbereiche als auf die realen Auswirkungen solcher Spaltungsversuche. Deshalb können sie auch, ohne dem Druck einer pragmatischen Überprüfung ausgeliefert zu sein, fiktiv ausgestaltet und der eschatologischen Schau einer menschenlosen Zukunft eingefügt werden. Allerdings sind seit Ende der 1980er-Jahre die Möglichkeiten der Reproduktionsmedizin so weit entwickelt, dass durch wissenschaftliche Unternehmungen ursprüngliche Elemente der Science-Fiction nicht nur verwirklicht, sozusagen als ‚science faction‘, sondern realiter überboten werden – und zwar ganz ohne biogenetische Eingriffe:[15] Auf einem Foto beispielsweise posieren auf dem Schoß ihrer Mutter eineiige Zwillinge, die im Abstand von zwei Jahren zur Welt gekommen sind; oder farbige Eheleute klagen gegen die Ärzte einer Klinik, weil ihnen als Resultat einer künstlichen Befruchtung ein hellhäutiges Retortenbaby beschert wurde; oder ein Embryo, kurz vor dem Unfalltod seiner Mutter in vitro gezeugt, wird zwei Jahre später von seiner biologischen Tante ausgetragen. Das sind drei dpa-Meldungen aus den 1990er-Jahren über unabweisbar reale Vorgänge,[16] die Grass wie die meisten Schriftsteller um das Orwell-Jahr 1984 herum noch nicht voraussehen konnte. Indem er aber seine fantastischen „Rattenmensch“-Chimären in den universellen Untergang ‚hineinträumt‘, verleiht er mit diesen biogenetisch manipulierten grotesken Reitern einer säkularisierten Apokalypse seiner Skepsis Ausdruck, dass die moderne Wissenschaft einen heilsamen Beitrag zur Rettung der Welt liefern könne.

Dieser Artikel geht auf einen noch nicht veröffentlichten Vortrag zurück, den Rudolf Drux im September 2012 auf einer vom Evangelischen Kirchenverband Köln ausgerichteten Tagung über „Religiöse Motive bei Günter Grass“ gehalten hat.

Anmerkungen:

[1] Zum Begriff der ‚Megatechnologie‘ vgl.  R. D.: Zwischen Störfall und Weltuntergang. Einleitende Bemerkungen zur Vermittlung von Technik-Katastrophen. – In: Entfesselte Kräfte. Technikkatastrophen und ihre Vermittlung. Hrsg. von R.D. u. Karl R. Kegler, inklings. Jahrbuch für Literatur und Ästhetik 25. Moers 2008, S. 12–36.

[2] Grass, Günter: Die Rättin. Darmstadt, Neuwied 1986, S. 7 (Die eingeklammerten Zahlen im Text beziehen sich auf die Seiten dieser Ausgabe).

[3] Explizit wird zudem ein Bezug zu Jean Pauls virtuos-visionärem Anhang zum Siebenkäs hergestellt: „Wahrlich, ihr seid nicht mehr! Höre ich sie verkünden. Wie einst der tote Christus vom Weltgebäude herab, spricht weithallend die Rättin vom Müllgebirge: Nichts spräche von euch, gäbe es uns nicht“ (14).

[4] Diese für die christlich-bürgerliche (Klein-)Familie grundlegende Ansicht, die wohl auch der Ich-Erzähler in seinem geradezu religiösen Verhältnis zur „Weihnachtsratte“ vertritt, greift Frank Brunssen: Das Absurde in Günter Grassʼ Literatur der achtziger Jahre. Würzburg 1997, S. 92, auf, wenn er von einer „radikale[n] Profanierung des höchsten christlichen Festes“ spricht; desgleichen Dieter Stolz: Günter Grass zur Einführung. Hamburg 1999, S. 163.

[5] Vgl. Brunssen: Das Absurde (wie Anm. 4), S. 104-109, und Stolz: Grass (wie Anm. 4), S. 165f.

[6] Grass, Günter: Essays und Reden III. 1980–1997 (Werkausgabe. Hrsg. von Volker Neuhaus und Daniela Hermes. Bd. 16). Göttingen 1997, S. 57.

[7] Ebd.

[8] Ebd., S. 20.

[9] Dass der Begriff heute im Allgemeinen als Synonym für ‚Weltuntergang‘ gebraucht wird, hat die medienträchtige Diskussion über die Prophezeiung der Maya im Dezember 2012 eindrucksvoll belegt.

[10] Das seit Arno Schmidts Schwarze Spiegel (1951) auch in der deutschen Literatur eingebürgerte Motiv des/r letzten Überlebenden oder übrig gebliebenen Einzelnen geht bei Thomas Glavinic mit einem radikalen Medienwechsel einher: Jonas, der Protagonist seines Romans Die Arbeit der Nacht (2006), der an einem Sommermorgen im völlig menschenleeren Wien erwacht, hält seine Situation und ihre Wahrnehmung nicht in Schriftzeichen fest, sondern zeichnet sie mit der Videokamera auf.

[11] Der Philosoph Rüdiger Bubner: Katastrophen und Katastrophenbewußtsein. In: Katastrophe: Trauma oder Erneuerung? Hrsg. von Horst Dieter Becker u.a. Tübingen 2001, S. 41–56, hier S. 43, bezeichnet ein desaströses Ereignis sogar nur dann als Katastrophe, wenn ihm „ein Beobachter beiwohnt, der den Umschlag [so die Lehnübersetzung des gr. peripéteia, Peripetie] auch registriert. Eventuell ist der Beobachter die ganze Menschheit und aus dem Beobachter kann leicht, mitunter auf unerwartete Weise, ein Betroffener werden. Die Rolle des Beobachters, der eventuell Betroffener wird, konstituiert das Bewusstsein von Katastrophen. Nicht finden die Ereignisse allein für sich in ihren natürlichen Dimensionen [und technologischen Systemen] statt. Sie wirken zugleich elementar auf Menschen, die den faktischen Umschlag als plötzliche und bedrohliche Katastrophe empfinden“.

[12] Blumenberg, Hans: Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher. Frankfurt a.M. 1979.

[13] Zur ausführlichen Geschichte und Umrüstung dieses „stählerne[n] Besanewer[s] mit Holzboden, […] der mehrmals seinen Eigner und Heimathafen gewechselt“, vgl. Grass: Rättin, S. 18–22.

[14] Vgl. Irmgard Elsner Hunt: Utopia ist weiblich: Der utopische Gedanke in deutschsprachigen Prosatexten der achtziger Jahre. In: Wandlungen des Literaturbegriffs in den deutschsprachigen Ländern seit 1945. Hrsg. von Gerhard P. Knapp, Gerd Labroisse. Amsterdam 1988, S. 321–341, hier S. 335–337.

[15] Das habe ich anhand der folgenden Beispiele ausführlicher in R. D.: Bestrafte Grenzüberschreitung oder Frankensteins Ende. Zur narrativen Gestaltung moralischer Urteile über Experimente mit dem Leben. In: Hybris und Heil. (Bio)ethische Fragen in phantastischer Literatur. inklings. Jahrbuch für Literatur und Ästhetik 26. Hrsg. von Dieter Petzold. Moers 2008, S. 84–98, dargestellt.

[16] Weiteren „absonderlichen Folgen“ der Anstrengungen um ein Retortenkind spüren Johann Grolle und Beate Lakotta: Heerscharen auf Eis. In: Der Spiegel 26/2003, S. 208, nach. Vgl. auch die „Polemik“ gegen die „Schamanen“ der Molekularbiologie und Genetik von Hans Magnus Enzensberger: Putschisten im Labor. Über die neuste Revolution in den Wissenschaften. In: Ders.: Die Elixiere der Wissenschaft. Seitenblicke in Poesie und Prosa. Frankfurt a.M. 2004, S. 160–178.