Dichterphilosophen und philosophische Dichter

Ilja Karenovics leuchtet in seiner Untersuchung Entwicklungsbedingungen und Besonderheiten der russischen Philosophie aus

Von Volker StrebelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Strebel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die „Russische Philosophie“ stellt eine eigenständige Ausprägung in der Denkwelt dar und ist nicht zuletzt durch diese Selbstreflexion gekennzeichnet. Die gut zweihundertjährige Diskussion in Russland über die Wechselbeziehung zwischen einem eigenen authentischen Charakter und von außen übernommenen Anstößen bleibt bis in die heutige Zeit hinein offen und wird es aufgrund des Frageansatzes auch bleiben müssen.

Wenn im Zusammenhang mit Russland und der russischen Kultur das Stichwort „Philosophie“ fällt, werden bezeichnenderweise in erster Linie die Romane russischer Schriftsteller wie etwa Lew Tolstojs oder Fjodor Dostojewskijs angeführt. Die Parabel vom „Großinquisitor“ in Dostojwskijs Roman „Die Brüder Karamasow“ bildet theologisch-philosophische Diskurse ab, ohne jedoch als genuin philosophische oder theologische Abhandlung im schulphilosophischen Sinne zu gelten.

Damit wird bereits an eine russische Spezifität gerührt, deren Gründe den besonderen historischen Umständen geschuldet sind. Die Entfaltung und Entwicklung einer akademischen Philosophie war seit ihren Anfängen den skeptischen Einschätzungen der orthodoxen Geistlichkeit und zugleich auch strikter staatlicher Repression unterworfen. Somit war die Ausprägung eines philosophischen Denkens kulturellen Besonderheiten ausgesetzt, die es in dieser Weise in Europa nicht gegeben hatte.

In zehn differenzierten Kapiteln hat sich Ilja Karenovics der komplexen Aufgabe unterzogen, die Umstände der Entstehung einer originären Philosophie in Russland aufzuhellen. Er möchte den, wie er es nennt, „Quellpunkt“ dieser Entwicklung herausarbeiten und beschäftigt sich daher mit dem Kreis der ‚Ljubomudry‘, einer überschaubaren Gruppe junger Adeliger, die sich für wenige Jahre in konspirativer Weise trafen, um sich ihrer Leidenschaft für philosophisches Denken zu widmen. ‚Ljubomudry‘, also ‚Weisheitsliebe‘, entspricht der genauen Übersetzung des Begriffs `Philosophie´. Der Kreis der ‚Weisheitsfreunde‘ entsprach den städtischen Erscheinungen von Salonkulturen und Geheimgesellschaften, die vor allem in der kulturpolitischen Epoche der Romantik in ganz Europa zusammenfanden. Auch in St. Petersburg und Moskau versammelten sich zumeist junge Gebildete vornehmlich aristokratischer Herkunft, um Gedichte, Schriften und Texte gemeinsam zu studieren und sich darüber auszutauschen. Dabei ging es zwar in erster Linie nicht um kritische Implikationen gegenüber der autokratischen Herrschaft, aber Querverbindungen waren nicht auszuschließen.

Wenn in Übersichten über die Geschichte der russischen Philosophie Auskunft gegeben wird, erschöpfen sie sich in der Regel im Hinweis auf die ‚Weisheitsfreunde‘ als einer wichtigen Gruppierung für die Ausrichtung philosophischen Denkens in Russland. Mit Recht hat Karenovics an dieser reduzierten Auskunft Anstoß genommen. So kurzlebig die lose Gruppierung der ‚Weisheitsfreunde‘ war – 1825 hatten sie sich bereits nach wenigen Jahren aus Furcht vor drohender Verhaftung im Zuge des gewaltsam niedergeschlagenen Dekabristenaufstands selbst aufgelöst –, so entscheidend waren dennoch die von ihnen ausgelösten Anstöße. In unterschiedlicher Weise haben Persönlichkeiten wie Dmitrij Venevitinov, Nikolaj Rožalin, Vladimir Titov, Vladimir Odoevskij, Nikolaj Mel’gunov und Ivan Kireevskij zur kulturellen Öffnung und Weitung in ihrer Heimat beigetragen.

Karenovics’ Aufhellungen erweisen sich als umso ergiebiger, da er neben biographischer Recherche der beteiligten Mitglieder der ‚Weisheitsfreunde‘ zugleich das ideengeschichtliche Umfeld wie auch landeskundliche Erträge in seine Untersuchung einbezogen hatte. Zudem zeigt er plausibel auf, dass Ideen und Konzeptionen der ‚Weisheitsfreunde‘ bis in die unmittelbare Gegenwart des russischen Denkens nachwirken.

Die ‚Weisheitsfreunde‘ legten nachdrücklich den Akzent auf die Vermittlung philosophischen Denkens. Eine unmittelbare Anregung war von der Rezeption deutscher idealistischer Philosophen, allen voran der Schriften von Friedrich Wilhelm Schelling ausgegangen, dessen philosophischer Ansatz jenseits positivistischer Festlegungen und trockener Überprüfbarkeit der russischen Denkmentalität entgegen kam. Der ungestüme Bildungshunger der ‚Weisheitsfreunde‘ bezog sich auf die Rezeption und Weiterverarbeitung literarischen, philosophischen wie auch wissenschaftlichen Denkens. Ihre Anstrengungen verstanden die jungen Dichterphilosophen und philosophischen Dichter, denn beides wurde in einer produktiven Spannung aufgefasst, nicht zuletzt als wertvollen Dienst an der russischen Heimat.

Da sich bei den ‚Weisheitsfreunden‘ Patriotismus und Weltoffenheit in produktiver Weise ergänzten, konnten aus ihrem Kreis Anstöße für die weitere philosophische Entwicklung im Russland des 19. Jahrhunderts ausgehen. Dies bezog sich sowohl auf die sogenannten „Slawophilen“, die eher eigenen Traditionen verhaftet blieben, als auch auf die „Westler“, welche ihre Akzente in einer Angleichung jenseits der eigenen Grenzen suchten. Von einer russische Wagenburg-Mentalität gegenüber Europa konnte jedenfalls auch bei den Slawophilen keine Rede sein, denn sie waren gebildet genug, um zu wissen, dass die Liebe zur Weisheit Grenzen überwindet und das Denken auf Dialog angewiesen ist.

„Löscht den Geist nicht aus!“ – mit diesen Worten beschwor einst der Philosoph Nikolaj Berdjajew aus dem europäischen Exil seine russische Heimat angesichts des atheistischen Kommunismus in der Sowjetunion. Karenovics’ Untersuchung des historischen Kapitels der ‚Weisheitsfreunde‘ ist gerade in heutigen Zeiten von eminenter Bedeutung. Wenn im modernen Russland Stalin-Porträts von Georgsbändchen gerahmt werden, fehlen offensichtlich sämtliche historischen Grundlagen, die einen wahren russischen Patrioten ausmachen.

Titelbild

Ilja Karenovics: Weisheitsfreunde. Der Kreis der ›Ljubomudry‹ 1820–1830 und die Entstehung der russischen Philosophie.
Ripperger & Kremers Verlag, Berlin 2015.
368 Seiten, 34,90 EUR.
ISBN-13: 9783943999075

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch