Altbekannte Geschichten im neuen Gewand

Ein kleiner Blick auf den Meister der ‚Variationen des Immergleichen‘, Josef Winkler

Von Thomas StachelhausRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Stachelhaus

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer glaubt, Josef Winkler habe seine Geschichte längst – oder ein für alle Mal – auserzählt, der darf sich immer wieder eines Besseren belehren lassen. Seit seinem Debüt 1979 schreibt der Meister der ‚Variation des Immergleichen‘ an seiner Lebensgeschichte – oder besser – an  seinem Lebenswerk.

Auf diese Weise fristet er nicht nur ein eigenwilliges Dasein in der aktuellen deutschsprachigen Literatur, sondern huldigt auch einem Anachronismus, der seinesgleichen sucht. Zu keinem Autor der deutschsprachigen Literaturgeschichte dürfte die Kategorie Wiedergelesen im Sinn des schon einmal so gelesen besser passen als zu Josef Winkler.

Beständig erzählt er – in nunmehr immerhin über 20 Werken – vom omnipräsenten Katholizismus im bäuerlich geprägten Kärntner Hinterland, vom Tod sowie von der Unterdrückung und Züchtigung durch den Vater, all das in üppiger, rauschhafter, eindringlicher und metaphorisch aufgeladener, in barock-expressiver Sprache, wie es im Feuilleton seither gebetsmühlenartig heißt. Immer wieder wird er als Rebell bezeichnet, denn er verweigere sich den konventionellen und gattungsspezifischen Erzähltraditionen. Gemessen an gängigen Wertungsmodellen, dominieren in Winklers Werk formal-ästhetische Abweichungen; dies ist auch nicht verwunderlich, sind doch Winklers Erzählungen gerade zu Beginn seines Schaffens besonders verrätselt, weil wenig linear und chronologisch, dafür umso komplexer und brüchiger. Auf diese Weise werden immer wieder Sinnzusammenhänge dekonstruiert, was vom Lesepublikum hohe Aufmerksamkeit verlangt; ein selbstreferenzielles System, das man sich erschließen muss.

Erst die jüngeren – wenn nicht gar jüngsten – Texte kommen leiser, geordneter, weniger wutgeladen, rebellisch, sprachgewaltig und subversiv daher; sie lassen jene Radikalität und Besessenheit vermissen, für die Winkler 2008 zurecht mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet wurde. In der Laudatio hieß es: „Die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung verleiht den Georg-Büchner-Preis 2008 Josef Winkler, der schonungslos und mit unerhörter Radikalität die Katastrophen seiner katholischen Dorf-Kindheit und die seines Ausgesetztseins in einer mörderischen Welt in barock-expressive, rhythmische Prosa von dunkler Schönheit verwandelt hat.“

Auf der Suche nach dem ‚Ur-Winkler‘ lohnt sich ein Blick auf den Veröffentlichungsursprung, und das vor allem deshalb, weil eben diesem Erstlingswerk mit dem Titel Menschenkind (1979) auch jene Urszene der Unterdrückung vorangestellt ist, eine Miniatur homosexuellen Begehrens, auf die sowohl im Gesamtwerk als auch in der Rezeption des Winkler’schen Schreibens fortan immer wieder Bezug genommen wird. Hier handelt es sich um den Doppelselbstmord von männlichen Jugendlichen mit einem Kalbstrick, der eben nicht nur Geburts-, sondern auch Todes- und Peinigungswerkzeug ist – wie in Winnetou, Abel und ich zu sehen ist und es dem Leser in Winklers Erzählkosmos fortlaufend begegnet. Das Debüt Menschenkind beginnt mit den Worten: „Am 29. September 1976“ – Winkler ist mittlerweile über 20 – „stiegen in meinem Heimatort Kamering […] der 17jährige Mechanikerlehrling Jakob Pichler und sein gleichaltriger Freund, der Maurerlehrling Robert Ladinig, mit einem drei Meter langen Kalbstrick über eine Holzleiter des Pfarrhofstadels zu einem Trambaum hinauf. Sie schlangen das Seil um ihn und verknoteten die beiden Seilenden hinter ihren linken Ohren. Der Nerv des Stricks zuckte. Ihre Hände flochten sich zu einem Zopf ineinander, immer schneller im Kreis sich drehend wirbelten sie wieder auseinander und kamen vor ihren blutunterlaufenen Augen zum Stehen“.

Die Szene enthält, metaphorisch überdeterminiert, den gesamten Unterdrückungsapparat, dem der Autor ausgesetzt war und auf den er – komplex verwoben und künstlerisch arrangiert – seit jeher in seinem Werk hinzuweisen bemüht ist: die patriarchale und phallische Gewalt, das Aufbegehren gegen Repressionen sowie die libidinöse und suizidale Bindung von jungen Männern im bäuerlich- katholisch geprägten Kärntner Dorfland. In der Winkler-Rezeption wird diese Szene gar zur Chiffre. Ina Hartwig schreibt: „Von diesem Schock wird Winklers erster Roman ‚Menschenkind‘ angestoßen, immer wieder kommt er darauf zurück: Die Erhängten, ihre Hände ineinander verschlungen, die Augen blutunterlaufen, sind ein Bild des Schreckens [und] zugleich eine homosexuelle Ikone des Todes!“

Hiervon angetrieben, arbeitet sich Winkler an seinem Heimatland, seinen Gegenspielern, der Kirche, vor allem aber an seinen Eltern, ab – widmet seiner Mutter (Mutter und der Bleistift) und dem Vater einen eigenen Band (Roppongi – Requiem für einen Vater) –, schreibt sich so durch und um sein Leben: „Ich musste […] die Texte schreiben, um meinen Selbstmord Zeile für Zeile aufschieben zu können“. Die Arbeit am Werk rettet Winkler gleichsam das Leben und wird zum Lebenswerk. Die psychologische Theoriebildung kennt die Formen der erinnernden Wiederholung von Ereignissen als ‚Wiedererleben‘, ‚Nachhallerinnern‘ oder ‚flash back‘. Im Literaturbetrieb ist die Wiederholung einer anderen Logik unterworfen: Hier wird der permanente Rekurs zur einer möglichst absatzfördernden Publikationsstrategie.

Erst langsam, mit dem Tod der eigenen Eltern, wird Winklers Schreiben zwar ruhiger, indes aber nicht weniger rückwärts- oder, anders gewendet, nicht stärker zukunftsgewandt, wie denn auch seine jüngsten Beiträge zeigen: Mit Abschied von Vater und Mutter erschien 2015 zwar ein Band mit zwei Texten aus der Konservenbüchse – eben jene Abrechnungen mit den Eltern, zusammengebunden und bei Suhrkamp erneut herausgegeben – mit Winnetou, Abel und ich ein Jahr zuvor ein Band, in dem das Lesepublikum mit Winkler wieder einmal in die Kindheit zurückreist. Jedes noch so kleinste fehlende Mosaiksteinchen scheint Winkler als Erzählanlass für einen ganzen Band zu genügen, wie sich hier aufs Neue zeigt.

Winnetou, Abel und ich ist dem „Lektüregott“ seiner Kindheit, Karl May gewidmet, der hier, wie wir erfahren, durch den Akt des (sic!) Wiederlesens zum entscheidenden Erzähl- und –  dies ist Gegenstand der ersten, autobiografischen Erzählung – Leseantrieb wird. Ganz beiläufig wird hier mitgeteilt, dass es eben nicht die ihn und sein Schreiben später maßgeblich prägenden Rebellen und Außenseiter Jahnn, Sartre oder Genet waren, die den jungen Kärntner zum besessenen Leser machten, sondern vielmehr Mays Indianergeschichten und deren Adaptationen. Tatsächlich stand keineswegs die Winnetou-Lektüre an erster Stelle: Der junge Erzähler erlebt das erste Winnetou-Abenteuer im Kino und beginnt anschließend, um den ersten Band zu betteln – vergebens, weshalb er sich schließlich, von Verzweiflung getrieben, das Geld für die Bände zusammenklaut. Winnetou, Abel und ich ist erneut eine Hommage – diesmal indes eine wahre Liebeserklärung an einen Autor, der ihm das Leben im repressiven Österreich der 50er Jahre vor allem dann erträglicher machte, wenn ihm mal wieder eine „Hitlerjungenfrisur“ geschnitten wurde oder er aus „aus Angst“ vor weiteren Schlägen auf der Toilette „mit [s]einem Geschlecht“ spielte und „das Vaterunser“ sprach. Durch die Verbindung von Lektüreerfahrung und Lebensgeschichte – natürlich darf auch hier der Kalbstrick nicht fehlen, „mit dem sich die Dorfjugend […] erhäng[e]“ – beweist Winkler einmal mehr, dass seine („Indianer-“)Kindheit scheinbar nie gänzlich (aus-)erzählt werden kann und sich sein intertextuelles Repertoire niemals erschöpfen dürfte. Überdies sind es ausgerechnet die May’schen Abenteuergeschichten, die beim Erzähler eine Lesesucht initiieren, jene Texte also, in denen einst Arno Schmidt (Sitara und der Weg dorthin, 1963) mittels seiner Etym-Theorie, die sich an Freuds Studien anlehnt, subtextuell verwobene Sexualsymboliken erkannte und so auf die latente Homosexualität Mays schloss – die im Übrigen auch Winkler immer wieder zugeschrieben wird. Zeichnungen Sascha Schneiders (Illustrator der Einbände Mays), die im Band Winklers ebenso abgedruckt werden und zuhauf nackte Männerkörper zeigen, legen diese Lesart ebenfalls nahe.

Mehr aber noch als dies zeigt sich hier, dass Winkler nicht nur ein grandioser Erzähler, sondern eben auch – und das bewies er schon einmal eindrücklich vor über zwanzig Jahren mit dem Zöglingsheft des Jean Genet – ein hervorragender Nacherzähler und Arrangeur ist, der ausschweifende und vor allem äußerst schwulstige Geschichten wie die von May auf den Kern zu reduzieren und für seine erzählerischen Zwecke nutzbar zu machen weiß. Die Erzählungen zwei bis fünf des Bandes sind folglich geraffte Darstellungen der Bände Winnetou I-III und Weihnacht; liebevoll inszeniert und vor allem linear angelegt – für Winkler ganz untypisch, aber angesichts der Liebesbotschaft an Karl May auch nur konsequent.

‚Erinnern‘ heißt für die Figuren in Winklers Texten zurückkehren in die gefürchtete Heimat; und hiervon wird seit jeher erzählt. Dass vieles, aber eben auch nicht alles schlecht war, beweist dann Winnetou, Abel und ich – eine seltene, aber doch auch beruhigende Erkenntnis beim Blick auf das Œuvre eines Ausnahmeschriftstellers, der in altbekannten Geschichten immer wieder Neues zu erzählen weiß.

Teile dieses Beitrags (gem. mit Alexandra Pontzen) erschienen bereits in: Arteel, Inge/Krammer, Stefan (Hrsg.): In-Differenzen. Alterität im Schreiben Josef Winklers. Tübingen 2016.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Josef Winkler: Das wilde Kärnten: Menschenkind. Der Ackermann aus Kärnten. Muttersprache. Drei Romane.
Suhrkamp Verlag, Berlin 1995.
849 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-10: 3518389777
ISBN-13: 9783518389775

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Josef Winkler: Roppongi. Novelle.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2007.
164 Seiten, 14,80 EUR.
ISBN-13: 9783518419212

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Titelbild

Josef Winkler: Das Zöglingsheft des Jean Genet.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2010.
116 Seiten, 6,00 EUR.
ISBN-13: 9783518461693

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Titelbild

Josef Winkler: Winnetou, Abel und ich.
Mit Bildern von Sascha Schneider.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2014.
142 Seiten, 18,95 EUR.
ISBN-13: 9783518424483

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Titelbild

Josef Winkler: Abschied von Vater und Mutter.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2015.
254 Seiten, 10,00 EUR.
ISBN-13: 9783518465929

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