Achtung, Alliterationen!

Ein sprachgewaltiges Debüt von Jan Snela

Von Minou TrieschmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Minou Trieschmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Jan Snelas Debüt Milchgesicht, ein rund 180 Seiten langes Konvolut an Erzählungen, mit deren erster er 2010 den 18. open mike-Literaturwettbewerb gewann, ist laut Untertitel ein Bestiarium der Liebe. Das Cover wird von einem Einhorn im Arm eines Mädchens geschmückt, einem Gemälde des italienischen Malers Domenichino (1581–1641). Das lässt Klasse zwischen den Buchdeckeln erwarten und ein bisschen Phantastisches, was sich gut in die Fantasy-Sparte von Klett-Cotta einfügen würde. Hier stünde Jan Snela immerhin in einer Linie mit Tolkien, Williams und Rothfuchs. Der Untertitel reiht die Kurzgeschichtensammlung außerdem in die Höhenkamm-Literatur der Bestiarien ein. Die französische Vorlage hierzu, der Bestiaire d’amour des Gelehrten und Dichters Richard de Fournival (1201–1260), war das erste weltliche Bestiarium, das sich inhaltlich vor allem der Anbetung einer Herzensdame und nicht nur der sonst üblichen mittelalterlichen Tierdichtung widmete. Die allegorischen Legenden und Dichtungen rund um (Fabel-)Tiere dienten dazu, im moralischen wie im religiösen Sinne zu belehren. Meist waren sie überdies aufwändig illustriert.

Die Anlehnung ans Bestialische lassen sich auch in Milchgesicht finden. Das Buch ist eine Sprach-Bestie, die sich von Alliterationen und Wortspielen speist: „[Sie wirkt] als Renomméestrategin bei Frans & Frantz, der Frottee-Firma, als gält’s den Weltball warmzurubbeln fürs kratzig Vintageliche versteifter Stoffe.“; außerdem: „Er ist im Freien. Flink flitzen Fingerspitzen über die Tastensteppe jäher Unendlichkeiten. [Er ist einer,] der über Wiesen purzelt, durch die die Wörter wieseln.“ – Diese und andere Wortbestien streunen in Milchgesicht durch insgesamt zehn Erzählungen und lassen durch ihr massiges Auftreten den LeserInnen nur wenig Raum zum Nachdenken. Dabei kann das eine oder andere gefunden werden, das der vom Feuilleton bereits angepriesenen „Sprachlust“ (FAZ) und der „tiefgründige[n] Sprachpoesie“ (Klappentext) des Autors gerecht wird: „Wieder klirrt er mit Gläsern, smalltalkt mit Mitbewohnern, zahnzerrt an Spearrippresten, schreckschießt mit Knarren, spürt Schwingtür um Schwingtür ihm kühle Luft zufächeln.“ Jan Snela, der Komparatistik, Slawistik und Rhetorik studierte, hat zweifellos große Freude an Sprache, doch in seiner Freude schießt er mitunter über das Ziel hinaus. Statt bedacht eingesetzter Sprachspiele reihen sich in Milchgesicht meist satzweise Alliterationen aneinander. Dabei hat Snela schon einige Texte in Anthologien und Literaturzeitschriften veröffentlicht. Mögen diese sprachlichen Raffinessen isoliert in einem einzelnen Text noch erfrischend anders wirken, wird bei der Lektüre mehrerer Erzählungen ein Muster deutlich, das vor allem in der Masse sehr gewollt und in Folge dessen wie eine Sammlung an ausgefeilten Sätzen und sprachlichen Bildern erscheint.

Da es sich um ein Bestiarium der Liebe handelt, darf dieses Thema auch nicht zu kurz kommen. Der Blick der zumindest in den Liebesgeschichten immer männlichen Protagonisten entblößt stereotype Frauenfiguren. Da gibt es die „Schwarzhaarige, Geschminkte“; eine, die „geradezu quengelnd“ fragt und „‘[m]eine‘ Kleine“ mit „filigranen Fingern und mit konisch geformten Brüsten im saturierten Mieder“; da gibt es Frauen, die sich „raffiniert reserviert“ geben oder die, die „nur nach Regeln spielen“; dann wiederum gibt es Frauen, die ausschließlich durch das Attribut  „schön“ oder „scharf“ gekennzeichnet werden. In Snelas Geschichten treffen diese Figuren auf ‚Doktoranden Dandys’, die sich kurz nach der Verlobung in ein Wiesel verlieben und ihre animalische Seite ausleben, auf Dachdeckerlehrlinge, die sich komplett für die studierende Freundin aufopfern, die allerdings nur Augen für einen ihrer Kommilitonen hat. Das Stereotype und Klischeehafte schadet dem Text, der dadurch inhaltlich an Wert verliert. Durch individuellere Beziehungsbilder würde die geballte Sprachwut ein Gegengewicht bekommen und vielleicht ein wenig an Aufdringlichkeit verlieren.

In jeder der Geschichten des Bestiariums geht es auch um Tierwerdung. Der ‚Doktoranden Dandy’ beispielsweise wird durch seine Wieselliebe selbst zum Wiesel, die Titelfigur Milchgesicht behauptet sich vor der Ex-Geliebten durch die partielle Verwandlung in ein Einhorn, und der Dachdeckerlehrling Murr spricht beherzt dem Katzenfutter zu und verspeist am Ende den Mäuserich seiner Freundin. Die Figuren und Erzählungen beinhalten Phantastisches oder Absurdes und halten meist ein Verstörungsmoment bereit. Doch die Nähe zu Gregor Samsas Käferwerdung und die Erwähnungen von Derrida helfen der Sammlung nicht unbedingt vor dem Lesepublikum zu bestehen. Die Fallhöhe wächst hier mit den Vorbildern.

Jan Snela steht, wie er selbst sagt, unter einem „Klang-Zwang“. Würde er diesem ein bisschen häufiger widerstehen oder dem Prinzip geschlechtlicher Unkonventionalität ein bisschen mehr Beachtung schenken, wäre viel gewonnen. Doch so bleibt Milchgesicht ein etwas zu sperriges, zu gewollt klingendes Debüt eines Sprach- und besonders Alliterationsliebhabers.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Jan Snela: Milchgesicht. Ein Bestiarium der Liebe.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2016.
182 Seiten, 17,95 EUR.
ISBN-13: 9783608983074

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