Fluchtgeschichten als Armutszeugnis europäischer Außenpolitik

In der Reportage „Über das Meer“ wird das Versagen Europas deutlich

Von Tobias GunstRSS-Newsfeed neuer Artikel von Tobias Gunst

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Jede schriftliche Äußerung, die mit der Flüchtlingskrise zu tun hat, ist im Grunde im Moment ihrer Niederschrift schon wieder veraltet. Am vergangenen Montag, den 3. April, ist das Flüchtlingsabkommen zwischen der EU und der Türkei in Kraft getreten und schon jetzt scheint klar, dass dieses Abkommen und seine Durchsetzung die politische Situation gravierend verändern werden. Ebenso klar scheint, dass die politische Tagespresse sich überbieten wird mit Berichten, Analysen, Kommentaren, die ihrerseits kommentiert werden von Bloggern und sonstigen web2.0-Sekundär-Journalisten jedweder politischen Couleur, die kenntnisarm aber meinungsstark Server füllen werden mit noch mehr Texten, die der Realität hinterherhinken. Um den polemischen Einstieg auf einen Punkt zu bringen: die Flüchtlingskrise publizistisch in Echtzeit kommentieren zu wollen ist schlichter Wahnsinn.

Womöglich braucht es, bevor man sagen kann, wie das, was da passiert, zu bewerten sei und wer inwiefern und warum dafür zu beschuldigen sei, ein Verständnis dessen, was da eigentlich passiert. Journalismus kann das leisten – aber nur ein Journalismus, der sich Zeit nimmt, ein Journalismus der nicht reflexartig meint, gestern kommentieren zu müssen, was heute passieren wird. Zum Verständnis der Lage kann nur ein Journalismus beitragen, der sich Zeit nimmt, der recherchiert und versucht, nicht nur Ereignisse wiederzugeben und sie mit floskelhaften Meinungssplittern zu garnieren, sondern dorthin geht, wo die Ereignisse stattfinden und sie beobachtet, ihre Mechanismen begreift und sie zu beschreiben versucht. Seit langer Zeit gibt es eine Form, in der sich ein solcher Journalismus ausdrückt und die der Literatur aufgrund ihrer narrativen Struktur nahesteht: die Reportage.

Die Reportage ist eine journalistische Langform, die gegenüber all den hippen Social-Media-Hashtags und Newsfeeds, den behenden 140-Zeichen-Tweets und Traffic-generierenden Keyword-Schönheiten wie ein Relikt aus grauer Vorzeit wirkt. Und tatsächlich ist es ein Wahnsinn vom Suhrkamp-Verlag, das Thema der Flüchtlingskrise in Form einer Reportage in Buchform aufzugreifen – mit Über das Meer – Mit Syrern auf der Flucht nach Europa wurde das Experiment dennoch gewagt. Bereits 2014 erschien der schmale Band von Wolfgang Bauer, freilich in der kleinen edition suhrkamp als Taschenbuch, nicht als Hardcover.

Wolfgang Bauer arbeitet als Journalist für die Zeit und hat sich für den vorliegenden Band mit dem Fotografen Stanislav Krupar kurzerhand zum Flüchtling gemacht. Von Ägypten aus versuchen sie, wie Tausende anderer, zur Zeit der Niederschrift noch vor allem syrischer Flüchtlinge, über das Mittelmeer Europa – am liebsten Italien – zu erreichen. Sie schließen sich einer Flüchtlingsgruppe an, die von Schleuserbanden für viel Geld über das Meer nach Europa geschmuggelt werden soll, um dort Asyl zu bekommen. Bauer und sein Fotograf erzählen in Text und Bild von all dem Unglaublichen, das sie auf ihrer ‚Flucht‘ durchmachen müssen, sie berichten detailliert, wie die Reise abläuft, welche Gefahren lauern, wie sie wochenlang in ungeheizten Wohnungen am Hafen in Kairo auf Fischerboote warten, mit denen sie die Überfahrt wagen sollen. Sie berichten von Menschen, die sie kennenlernen, und deren Schicksalen, zerbrochenen Familien, Hoffnungen und Träumen.  

In der Hauptsache sind das Geschichten und Wahrheiten, die erschüttern, aber nicht neu sind: sie sind, gerade im Spätsommer und Frühherbst des vergangenen Jahres, in Kurz-Reportagenform in fast allen großen deutschen Zeitungen erschienen. Man kann sagen, dass solche Reportagen Teil der Willkommenskultur waren: die Schicksale syrischer Flüchtlinge wurden von jungen Reportern aufgezeichnet und journalistisch aufbereitet, mit emotionsbeladenen Bildern versehen und der Öffentlichkeit als Beitrag zur Integration und Toleranz verkauft. Diese Geschichten sind inzwischen aus den Medien weitgehend verschwunden, was nicht heißt, dass nicht tagtäglich noch immer tausende solcher Geschichten geschehen würden. Die Herkunftsländer mögen sich verändert haben, die Erfahrungen bleiben dieselben – insofern bilden die von Bauer und Krupar aufgezeichneten Fluchtgeschichten eine Blaupause für all die Hunderttausenden von Menschen, die sich auf den Weg nach Europa gemacht haben und es immer noch tun. Damit ist Über das Meer mehr als reflexartiger Tagesjournalismus, sondern ein fortdauernder, wichtiger Beitrag zur Flüchtlingsdebatte.

Doch tatsächlich ist die Reportage weit mehr als das. Denn das eigentlich Spannende und Schockierende, was Bauer beobachtet und notiert, sind nicht die Einzelschicksale, sind nicht die unmenschlichen Grenzkontrollen und der Umgang mit Flüchtlinge in Auffanglagern, sondern ist das perfide System hinter den Fluchtbewegungen. Flucht ist längst kapitalistisch organisiert: es gibt Vermittler, die Interessenten an Schleuser vermitteln, Schmuggler, die den Transport organisieren und Fischer, die dafür bezahlt werden, dass sie mit ihren Booten die Überfahrt durchführen. Wie Rundfahrten sind die Mittelmeerfahrten geplant: die Schiffe legen in Ägypten ab, wenn ausreichend Flüchtlinge zusammengekommen sind, laden Ägypter und andere in Griechenland ab, nehmen dort Kurden auf und fahren weiter nach Italien. Mitunter werden Flüchtlinge auf offenem Meer zwischen Booten ausgetauscht, mitunter wechseln die Schiffe ihre Fahrpläne und Ziele recht willkürlich. Denn da das Fluchtsystem im Verborgenen agieren muss, ist die Gleichung mit zu vielen Unbekannten versehen. Die Kapitäne der Schiffe erpressen, kaum, dass sie auf hoher See sind, die Schleuser an Land, um mehr Geld für die Überfahrt zu bekommen. Die Posten der Küstenwache blockieren plötzlich entgegen der Abmachung den Verkehr, weil auch sie mehr Schmiergeld wollen (100 Euro kostet ein Passagier pauschal, zahlbar direkt an die ägyptische Küstenwache). Schmuggler stehlen anderen Schmugglern die Flüchtlinge, fordern nochmals Geld, weil die Überfahrt ansonsten nicht stattfinden würde und Wohnungsbesitzer in Hafennähe vermieten ihre alten Wohnungen für horrende Summen an wartende Illegale.

Der Wert von Bauers Buch liegt jedoch auch darin, dass es nicht in dem Moment Halt macht, wo Europa erreicht ist, sondern seine Geschichten weitererzählt und Flucht nicht nur als Flucht nach, sondern auch als Flucht in Europa ansichtig macht. Denn in Europa ist die Lage für die Flüchtenden kaum besser. Abseits der Parolen von Politik und Tagespresse ist der Fluchtalltag geprägt von Unsicherheit und Nomadentum. Es fehlen klare politische Leitlinien und Ressourcen, Strukturen, die den Flüchtlingen geboten werden können und ihre Ankunft auf dem Kontinent erleichtern. Durch die Erzählung auch dieser Schwierigkeiten ist Über das Meer ein faszinierendes Dokument des gesamteuropäischen Versagens: lange bevor Griechenland von Merkel und der Troika dazu gezwungen wurde, die Erstaufnahmestelle der Flüchtenden zu werden, galt – im Einklang mit Dublin II – dasjenige Land, in dem Flüchtlinge (offiziell) zuerst europäischen Boden betraten, als das Land, was sich um diese Flüchtlinge zu kümmern hatte. Um diesem ‚Schicksal‘ zu entgehen, blieb die einfachste Lösung die der vergessenen Registrierung: immer wieder staunt man beim Lesen der Reportage, wie viele Grenzbeamte und Bundespolizisten einfach ‚vergessen‘, Flüchtlinge zu registrieren, wie die Registrierung schiefgeht oder das System nicht funktioniert. Auch das ist letztlich eine Fluchtbewegung: sichtbar wird in solchen Momenten nichts weniger als die Flucht aus der Verantwortung, die viele westeuropäische Länder seit Jahren konsequent betreiben. Sie hat begonnen mit dem Aufbau des Grenzsystems Frontex und sie reicht bis zum jüngsten, mit der Türkei vereinbarten Abkommen (was jetzt solch absurde Blüten wie die Stellungnahme der Kanzlerin zur Verspottung Erdogans durch den Moderator Jan Böhmermann austreibt), das die Verantwortung für die Erstaufnahmelager wiederum verschiebt. Exemplarisch zeigt sich im Schicksal der Flüchtlinge in Über das Meer eine Kernhaltung gegenwärtiger europäischer, und das heißt derzeit maßgeblich von Deutschland bestimmter Außenpolitik: es ist ein Abwarten und Aussitzen.

Alle in der Reportage durchscheinenden Probleme sind seit Jahren bekannt. Sämtliche Regierungen, die innerhalb der EU zu den Entscheidern zählen, wussten seit spätestens 2011 über die katastrophale Lage in Syrien Bescheid, konnten den Flächenbrand, der sich schwelend nach den militärischen Interventionen im Irak auszubreiten begann, lodern sehen. Es gab in dieser Zeit keine ernstzunehmenden diplomatischen Versuche zur Lösung dieser Probleme, es kam lediglich zu einer bollwerkartigen Verstärkung der europäischen Seegrenze. All das wird klar, wenn man die Reportage von Bauer und Krupar gelesen hat – und damit ist sie, solange die Problematik anhält, brandaktuell und gerade nicht längst überholt. Darin zeigt sich der Wert von nachhaltigem Journalismus für eine Gesellschaft.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Wolfgang Bauer: Über das Meer. Mit Syrern auf der Flucht nach Europa.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2014.
133 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-13: 9783518067246

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