Tschernobyl und die Folgen

Ein Sammelband zeigt, wie (Ost-)Europa nach 1986 und bis heute mit dem Reaktorunglück umgeht

Von Artem KouidaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Artem Kouida

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der 2016 erschienene Sammelband „Politik und Gesellschaft nach Tschernobyl. (Ost-)Europäische Perspektiven“, herausgegeben von Melanie Arndt, behandelt den Tschernobyl-Themenkomplex im Kontext des 25. Jahrestages der Katastrophe. Darin präsentieren zwölf Autorinnen und Autoren aus fünf Ländern die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Auseinandersetzung mit dem Reaktor-Unfall von Tschernobyl in Politik und Gesellschaft.

In seinem Aufsatz „Von Czarnobyl zu Żarnobyl“ befasst sich Kacper Szulecki mit der Reaktion der polnischen Gesellschaft auf die Tschernobyl-Katastrophe und die daraus entstandene Ökologiebewegung. Mit akribischer Genauigkeit verfolgt er die Entstehung, den Höhepunkt und die allmähliche Schwächung der Umweltbewegung. Durchaus erfolgreich Ende der 1980er-Jahre und dabei ihre Popularität auch den Repressalien und der Pressezensur seitens des Staates verdankend, verlor die polnische Ökologiebewegung nach demokratischer Regierungsbildung mit Beteiligung einiger Oppositionsführer an Stärke. Trotz eines beispiellosen landesweiten Protests gegen den Atommeiler in Żarnowiec und seiner Schließung 1990 folgten in den letzten Jahren neue Pläne zum Bau eines Atomkraftwerks.

Oleksandr Stegnij geht im Beitrag „Die Umweltbewegung in der Ukraine nach Tschernobyl“ der Herausbildung derselben, ausgehend von Gorbatschows Perestroika über die Tschernobyl-Katastrophe, bis in die heutige Zeit nach. Die verspäteten Reaktionen, Protestmärsche und Kundgebungen Ende der 1980er-, Anfang der 1990er-Jahre führten zwar zur Allgegenwärtigkeit des Tschernobyl-Problems und zur Bildung einer Vielzahl von lokalen und regionalen Umweltinitiativen. Sie konnten jedoch keine nennenswerte Verbindung zwischen Ökologie und Politik herstellen. Die Hauptthese des Autors ist, dass der Reaktorunfall das Demokratiebewusstsein der Bevölkerung aufgrund der besonderen Merkmale der postsowjetischen Gesellschaft nicht wesentlich beeinflusst habe.

Diese Schlussfolgerung versucht Anastasia Leuchina in „Der steinige Weg in die Zivilgesellschaft“ zu widerlegen, indem sie geltend macht, dass der Reaktorunfall zumindest zu anfänglichen Demokratisierungsprozessen beigetragen habe. Mit Gorbatschows Glasnost-Politik und dem Reaktorunfall seien die Küchengespräche plötzlich auf die Straße verlagert und somit eine breite ökologische und politische Beteiligungsbasis für die Bevölkerung geschaffen worden. Die damit eng einhergehende Gründung zahlreicher NGOs, vielerorts von arbeitslos gewordenen Akademikern getragen, bewirkte den Einzug von Öko-Vertretern in die Regierung in Kiew und anderen Gebieten, die neben dem Erlangen von Privilegien für Tschernobyl-Betroffene auch viele andere Ziele zu erreichen suchten. Zugleich wird aber auf die fehlenden Voraussetzungen für eine breite Unterstützung der „grünen“ Politik seitens der Bevölkerung hingewiesen.

Eine andere Perspektive nimmt der Beitrag „Rauchverschleierte Berge“ von Ayşecan Terzioğlu ein, indem er den Zusammenhang der fehlenden Gesprächsbereitschaft seitens der türkischen Regierung und der Medizin einerseits und der Sorgen der Bevölkerung aufgrund einer steigenden Krebserkrankungsrate nach dem Reaktorunfall, eines sogenannten Tschernobyl-Syndroms, andererseits hervorhebt. Weiterhin untersucht Terzioğlu die demonstrative Ablehnung des Teeembargos, das von den europäischen Ländern gegenüber der Türkei aufgrund des radioaktiven Niederschlags in den Teeanbaugebieten verhängt wurde, seitens der türkischen Regierung und die Reaktionen der Bevölkerung darauf.

Bei Evgenija Ivanova, „Vom Tod zum Leben“, spielt der Gender-Aspekt bei der Betrachtung der durch die Katastrophe Betroffenen eine entscheidende Rolle. Im Mittelpunkt der Untersuchung stehen einerseits die Inszenierung durch die Sowjetpropaganda des Mannes als Held und der Frau als Opfer und andererseits die Selbstwahrnehmung durch die Beteiligten. Das eng begrenzte Geschlechterrollen-Korsett durfte von keiner anderen als der offiziellen Darstellungsweise gestört werden. Die persönlichen Erfahrungen der strahlenkranken Liquidatoren oder der im Epizentrum der Katastrophe agierenden Frauen trugen zur Entwicklung einer neuen Strategie seitens der Beteiligten und der Betrachtung der persönlichen Tschernobyl-Folgen unter anderem Blickwinkel bei.

In ihrem Beitrag „Nation versus Gedächtnis“ befasst sich Tatjana Kasperski mit kollektiven Vorstellungen über Tschernobyl in Belarus und stellt in diesem Zusammenhang den allmählich stattfindenden Wandel dar. Während es 1989 zu einer verspäteten „Explosion“ der Unzufriedenheit kam, wurde die 1988 gegründete Belarussische Nationale Front zum Träger der Proteste. Die Autorin zeigt den unterschiedlichen Mobilisierungswillen zwischen der Hauptstadt Minsk und den Regionen. Kasperski verdeutlicht die Entwicklung vom Katastrophen-Narrativ bis zur Widerherstellung der kontaminierten Regionen seit Mitte 1990, wobei sie detailliert auf die Konfrontation zwischen Staat und Opposition im nationalen Diskurs eingeht.

In „Tschernobyl: (k)eine visuelle Geschichte“ widmet sich Anna Veronika Wendland den nuklearen Bildwelten vor und nach dem Reaktorunfall von Tschernobyl. Das seit der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre die Allgemeinheit beherrschende Bild vom „weißen“, umweltfreundlichen und friedlichen Atom ergänzte seit dem 26. April 1986 ein anderes Bild, das die Schattenseite zeigte. Der Beitrag macht die Verharmlosung des Reaktorunglücks und die Verheimlichung der Folgen seitens der offiziellen Stellen deutlich, zeigt jedoch auch eine um Wahrheit bemühte Erinnerungskultur der ukrainischen Gesellschaft. In Russland dagegen findet die Auseinandersetzung mit dem AKW Tschernobyl kaum Beachtung. Dort tritt das Bild des „weißen Atoms“ immer mehr in den Vordergrund.

Anhand von Eingaben und Archivmaterial verfolgt Aliaksandr Dalhouski in „Die Belarussische Sozialistische Sowjetrepublik nach Tschernobyl“ die Geschichte der Entwicklung einer Protestbewegung in Belarus im Zusammenhang mit dem Reaktorunfall. Dabei wird deutlich, dass die Eingaben als wichtiges Instrument zur Verwirklichung von Forderungen seitens der Bevölkerung eingesetzt wurden. Während bis Ende der 1980er-Jahre die einzelnen Forderungen erfüllt werden konnten und somit die Auseinandersetzung nicht in einer breiten Öffentlichkeit stattfand, wurden die Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage und die immer mehr in Erscheinung tretenden gesundheitlichen Folgen des Reaktorunglücks zum Störfaktor der sozialen Stabilität und somit zur steigenden Aktivitätsbereitschaft seitens der Bevölkerung. Allerdings verdrängten die sozialen Problematiken in den letzten Jahren das Bewusstsein für Strahlenrisiken und die bis 1991 erfolgten Massenproteste ebbten allmählich ab.

In ihrem Beitrag „Frankreich nach Tschernobyl“ befasst sich Karena Kalmbach mit der Rezeption der Folgen des Tschernobyl-Unglücks in Frankreich. Dabei war die starke französische Atomlobby bemüht, zu betonen, dass es keinen Grund zur Beunruhigung auf französischem Gebiet gebe. Dies war zugleich die offizielle Haltung, die in der Folge entscheidend zur Gründung von zwei unabhängigen Strahlenschutz­instituten beitrug. Die Autorin untersucht das Eliten-Narrativ für das „grüne Atom“ wie auch das zivilgesellschaftliche Gegennarrativ.

In „Tschernobyl ist niemals passiert?“ setzt sich Andrei Stepanow mit dem Phänomen des Vergessens der Folgen der Tschernobyl-Katastrophe in Belarus auseinander. Dabei legt er den Schwerpunkt auf die Analyse der politischen Einflussnahme auf die Bevölkerung. Angesichts des sich im Bau befindenden ersten belarussischen Atomkraftwerks weist die Regierung Tschernobyl die Rolle eines sowjetischen Reliktes zu, das für die aktuellen politisch-wirtschaftlichen Entwicklungen nicht zeitgemäß erscheint und daher keine Bedeutung habe. In diesem Zusammenhang ist die Rede von der Phantomisierung Tschernobyls oder dem Versuch, Tschernobyl zu depolitisieren – mit dem Ziel einer Legitimierung des geplanten AKW.

Astrid Sahm richtet in „Brücken und Solidarität nach Tschernobyl und Fukushima“ ihr Augenmerk auf die belarussischen und ukrainischen Beiträge zur Katastrophenbewältigung in Japan und beleuchtet die Zusammenarbeit der betroffenen Staaten. Ukraine und Belarus fühlen sich in ihrer Politik durch die Besuche japanischer Regierungsvertreter – sowohl für die Bewältigung von Tschernobyl-Folgen als auch in ihren Atomprogrammen – bestätigt. Jedoch ist auch die Rede von gegenseitiger Kooperation auf lokaler Ebene, die auf die japanische Hilfe für Tschernobyl-Betroffene in den 1990er-Jahren zurückgeht und aktuell von belarussischer und ukrainischer Seite für die japanischen Opfer realisiert wird.

Das Besondere am Sammelband ist die Betrachtung der Tschernobyl-Katastrophe aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Die Entscheidung, sich nicht nur auf die osteuropäische Perspektive zu beschränken, eröffnet ein breiteres Erkenntnisfeld, das für das Problem-Verständnis im gesamteuropäischen Kontext von erheblicher Bedeutung ist. Besonders hervorzuheben sind die ländertypischen Diskurse, die neben kontroversen Haltungen und den jeweiligen Mentalitäten auch die Gegensätze zwischen den Regierungen und den Gesellschaften in das nähere Betrachtungsfeld rücken. Der Sammelband ist jedem zu empfehlen, der sich mit der Tschernobyl-Problematik beschäftigen möchte.

Titelbild

Melanie Arndt: Politik und Gesellschaft nach Tschernobyl. (Ost-)Europäische Perspektiven.
Ch. Links Verlag, Berlin 2016.
300 Seiten, 30,00 EUR.
ISBN-13: 9783861538905

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