Sitzenbleiber, Obdachloser, Hetzredner, Massenmörder, Untoter

Thomas Sandkühler legt mit „Adolf H. Lebensweg eines Diktators“ eine bemerkenswerte Hitler-Biografie für Jugendliche vor

Von Johannes GroschupfRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johannes Groschupf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Auf einer Autofahrt mit seiner Tochter, die ihn über Adolf Hitler ausfragte, entstand die Idee einer Hitler-Biografie eigens für Jugendliche. Thomas Sandkühler hat als Gymnasiallehrer wie auch als Professor am Lehrstuhl für Didaktik der Geschichtswissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin langjährige Erfahrungen in der Vermittlung historischer Prozesse an junge Menschen. Dennoch, so sagt er im Vorwort, hat ihn diese Biografie unerwartet viele Jahre der Mühe gekostet. Die Arbeit hat sich gelohnt: Sandkühler ist ein ausgezeichnetes Buch gelungen, das zudem zur rechten Zeit kommt.

Die Biografie „Adolf H. Lebensweg eines Diktators“ wendet sich an Leserinnen und Leser zwischen 14 und 17 Jahren. Die Sprache ist einfach, aber nicht simpel, die Sätze sind kurz und klar; der Inhalt dennoch komplex. Sandkühler lässt nichts aus, im Gegenteil verwendet er viel Mühe darauf, Hitlers Leben wieder in den geschichtlichen Zusammenhang zu setzen, in den es gehört. Hitler ist eine Figur der Massenprekarisierung in den großen Städten, der Verrohung im Ersten Weltkrieg und des Bürgerkriegs danach. Von diesen großen Umwälzungen und gesellschaftlichen Verwerfungen erzählt Sandkühler verständlich auch für Leser, die zum ersten Mal damit in Berührung kommen.

Der junge Adolf Hitler, malträtiert vom Stiefvater, nach dessen Tod verhätschelt von seiner Mutter, wuchs im Grenzgebiet zwischen Österreich und Deutschem Reich auf. In der Schule waren die Leistungen schwach, er musste eine Klasse wiederholen. In der großen Stadt Wien brachte er rasch das Geld der Familie durch, lag lange auf der Couch und sinnierte. Ihm schwebte ein Leben als Künstler vor, doch die Universität, an der er sich bewarb, lehnte ihn ab. Als Obdachloser hielt er sich mit dem Malen von Postkarten mühsam über Wasser. Der Weltkrieg ermöglichte ihm eine bescheidene Karriere in der deutschen Armee, die auch nach der Niederlage noch für ihn sorgte. Im München der frühen 1920er-Jahre entdeckte er sein Redetalent, reüssierte als politischer Hetzredner, veranstaltete einen dilettantischen Putschversuch – und wanderte ins Gefängnis.

Er hatte schlechte Tischmanieren und rührte sich Zucker in seinen Wein, aber seine öffentlichen Auftritte waren stets martialisch: „Wenn Hitler in Begleitung seiner Leibgarde durch die Gegend brauste, wirkte er noch mehr als zuvor wie der Boss einer amerikanischen Gangster-Bande.“

Hitler war, so erzählt Sandkühler, ein begnadeter Schauspieler, der aus einer Vielzahl unterschiedlicher Rollen beliebig wählen konnte: charmanter Onkel gegenüber jungen Frauen, sendungsbewusster Kamerad inmitten der Parteigenossen, fanatisch und hasserfüllt in seinen Auftritten als Redner, fürsorglich und verspielt mit seinen Schäferhunden.

Sandkühler bedient sich gelegentlich der heutigen Jugendsprache, um damalige Phänomene zu charakterisieren. Die Wagner-Frauen etwa bezeichnet er als „weibliche Hitler-Groupies, wie man heute vielleicht sagen würde“. Zu Hitler selbst bemerkt er treffend, nachdem er dessen Tagesrhythmus beschrieben hat (spät aufstehen, ausgiebige Tafelrunden mit Monologen, abends Kinovorführungen, spät ins Bett): „Hitler war ein ziemlicher Faulpelz.“

Der Autor erzählt den rasanten Aufstieg zum Reichskanzler und Diktator mit einem Blick sowohl für das historische Umfeld und dessen Dynamiken wie auch mit einem Blick für das kuriose Detail: „Hitler wurde unterdessen zu politischen Superstar. Standesbeamte mussten sich mit Eltern herumschlagen, die ihren neugeborenen Kindern unbedingt den Vornamen ‚Hitler‘ oder ‚Hitlerine‘ geben wollten.“ Präziser als Kershaw weist Sandkühler darauf hin, dass Hitler nicht wegen seines Charismas als „Führer“ erkoren wurde, sondern dass er von der nationalsozialistischen Propaganda systematisch zum Medienstar aufgebaut wurde und charismatische Züge verliehen bekam.

Vom Regierungsgeschäft hatte Hitler keine Ahnung, er wollte den Krieg. Auch hier gelingt es Sandkühler, die kaum fassbare Katastrophe des letzten Jahrhunderts klar zu benennen und dabei nichts auszulassen: Terrorregime im Land, Judenverfolgung und Holocaust, Kriegsführung jenseits aller Menschlichkeit. Hitler verkroch sich schließlich als „Höhlenmensch“ in seinem Bunker, längst von Größenwahn und Paranoia geleitet und darin von seinem Umfeld noch stets bestätigt.

Seit seinem Tod geistert der Diktator als Untoter durch die Medien; Sandkühler zeichnet die Hitlerbilder der 1950er- und 60er-Jahre bis hin zu den heutigen Versuchen nach, zu Hitler ein Verhältnis zu finden.

Die der Biografie beigegebenen Fotografien sind gut ausgewählt. Es finden sich kaum die üblichen Propagandabilder, sondern private Schnappschüsse aus dem Alltagsleben des „Führers“; zudem selten gesehene Aufnahmen von Deportationen jüdischer Mitbürger aus deutschen Städten oder deutschen Soldaten in Stalingrad.

Sandkühlers Hitler-Biografie ist besonders in Zeiten notwendig, in denen unter wirtschaftlichen Bedrängnissen das politische Leben und der öffentliche Diskurs erneut verroht. Rechte Bewegungen treten in Deutschland wieder ganz ungeniert auf, gegen eine ganze Religion wird pauschal gehetzt, die Ausgrenzung von Menschen bis hin zum Ruf nach radikaler Abschiebung und Schusswaffengebrauch an der Grenze stehen auf der politischen Tagesordnung.

Entschieden wendet sich der Biograf gegen die Verflachung und zunehmende Beliebigkeit des Hitler-Bildes in den heutigen Medien: „Hitler ist inzwischen zu einem Popstar geworden“, konstatiert er am Schluss des Buches. Das gilt nicht nur für Mainstreamfilme wie Bernd Eichingers „Der Untergang“ oder den mäßig lustigen, aber überaus erfolgreichen Klamaukroman „Er ist wieder da“ von Timur Vermes, sondern für den alltäglichen Auftritt Hitlers als Internet-Meme und Fernsehen-Serienstar („Hitlers Frauen“, „Hitlers Hunde“, „Hitlers Diener“ et cetera).

In Berlin stirbt Hitler heute noch im Minutentakt. Unter englischen, amerikanischen oder spanischen Jungtouristen ist eine Führung zum Parkplatz, unter dem sich 1945 der „Führerbunker“ befand, äußerst beliebt. Die letzten Tage des Diktators werden von den Gruppenguides dramatisch nacherzählt: Bombenhagel über dem Bunker, Heirat mit Eva Braun, gemeinsamer Selbstmord, Verbrennung der Leichen. Kaum geht die eine Gruppe, kommt schon die nächste. Hitler ist einfach nicht totzukriegen.

Wer die Biografie von Sandkühler gelesen hat, sieht nicht mehr den lächerlichen Politzombie, als der Hitler heute zur schnellen Vermarktung und zur Auflagensteigerung benutzt wird, sondern eine konkrete historische Figur in ihren peinlichen Facetten wie in ihren unsagbar grausigen Konsequenzen.

Diesem Buch ist eine große, wache und junge Leserschaft zu wünschen.

Titelbild

Thomas Sandkühler: Adolf H. Lebensweg eines Diktators.
Carl Hanser Verlag, München 2015.
350 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783446246355

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