Gesang über den Gräbern
Reinhard Jirgl legt mit „Oben das Feuer, unten der Berg“ eine verschwörerische Kriminalgeschichte Deutschlands nach dem Krieg vor
Von Beat Mazenauer
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseReinhard Jirgl ist schwierig – oder mit einem Wort von Helmut Böttiger: „Reinhard Jirgl tut oft weh“. Andererseits fördert gerade das auch ein Glück zu Tage, worauf Böttiger in seiner Laudatio auf den Büchner-Preisträger 2010 hinwies: „Erst, wenn die Wirklichkeit schonungslos durchdrungen worden ist, beginnt etwas Neues … Um dieses Glück geht es.“
Seit Reinhard Jirgls Ankunft in der deutschen Literatur nach der Wende hat dieser Autor die Literaturkritik herausgefordert, derweil die Leserschaft eher auf Distanz blieb. Seine Bücher sind ohne Zweifel sperrig, die sehr spezielle Schreibweise – in der typografischen Tradition von Arno Schmidt – irritiert auf den ersten Blick. Das mag hin und wieder etwas manieriert oder auch bloß ulkig anmuten, verblüffend oft trifft Jirgl mit seinen stilistischen Eigenheiten jedoch den springenden Punkt, wenn er etwa von „Deg-Radierten“ erzählt oder eine (nutzlose) „pro-Test-Note“ ins Spiel bringt. Auch deshalb gewöhnt sich die Lektüre erstaunlich schnell an solche Schreibweisen.
Die beiden Beispiele stammen aus dem neuesten Buch, das wie frühere eine Vielzahl an Biografien und Geschichten ineinander verwebt und verdreht. Sein Inhalt lässt sich vielleicht folgendermaßen zusammenfassen: Eine Frau, Theresa, steht im Oktober 2012 am Grab ihrer toten Eltern, denen sie 1959 als dreijähriges Kind von den Staatsorganen weggenommen wurde, und erinnert sich. Weil sie Kulaken und im Dritten Reich Nazis waren, wurden sie verhaftet, abgeurteilt und erst 20 Jahre später wieder frei gelassen. Im Gefängnis brachte die Mutter auch einen Sohn, Theresas Bruder Willfried, zur Welt, wovon Theresa erst viel später erfahren sollte. Beide Kinder wurden zuerst in Heime abgeschoben, dann bei Adoptiveltern platziert. Theresa traf es dabei gut. Sie wuchs unbeschwert in einem parteitreuen Haushalt auf und studierte Geschichte. Demgegenüber ließ ihr Bruder Willfried schon bald Züge eines verwahrlosten ruchlosen Monsters erkennen, das seine Adoptiveltern ins Unglück stürzte und von ihnen wieder ins staatliche Heim zurückgegeben wurde. Diese Familientragödie wirft ihren Schatten auch ins Büro eines Hauptkommissars in Berlin, der mit dem Fall eines Frauen-Serienkillers befasst ist. Er stößt auf die Fährte von Willfried, der für die Morde in Betracht kommt. Als der sich auf einen Fahndungsbefehl hin selbst stellt, erweist er sich tatsächlich als äußerst reizbarer Zeitgenosse. Als Täter scheidet er allerdings aus.
Mit diesen beiden Strängen bündelt Jirgl seine Geschichten und treibt sie voran. Der Hauptkommissar will unbedingt das Rätsel um die grauslichen Morde auflösen, und Theresa stößt in den Archivkellern auf dubiose Machenschaften zwischen Ost und West, weswegen sie in Verruf und nach der Wende in Arbeitslosigkeit gerät. Beide vereint, dass sie Kenntnis erhalten von einer „Geisterbehörde innerhalb eines gespenstigen Lands“, die auf die Abkürzung KOZERO lautet – „Kommerzielle Zersetzung der Opposition“ in der DDR und, wie sich andeutet, auch außerhalb ihrer Grenzen. Man munkelt, dass die Organisation den Freikauf von DDR-Bürgern durch den Westen kreativ weiterentwickelt habe zur „Entsorgung“ von „menschlichen Ladenhütern“ ganz allgemein. Träfe der Verdacht zu, würde eine ungeheuerliche Kumpanei zwischen West und Ost aufgedeckt. Waren womöglich schon Theresas Eltern Opfer dieser GmbH geworden? „Mehr als Raunen vermögen die-Leute niemals, sie würden sich sonst an Der Wahrheit verschlucken.“
Ausgelöst durch das verlorene Urvertrauen von zwei Kindern entwickelt Reinhard Jirgls Roman eine schwarze Triebkraft, die sich gerade auch in seiner resolut eigenwilligen Schreibweise ausdrückt. Sie verleiht einer grimmigen Ironie Ausdruck und lässt unter der expressiven Form eine explosive Stimmung erahnen. Jirgl mutet seinen Lesern also einiges zu – und ja, hin und wieder tut er des Guten zu viel, wenn sein Furor in einem Stakkato von Stimmungen und Texturen aufgeht. Zugleich zeichnet er immer wieder großartig verschattete Landschaftsbeschreibungen und schartige Charakterskizzen. Und es gelingt ihm, stets neue Rätsel aus seiner verschwörerischen Geschichten-Babuschka zu zaubern, um einen scheinbar leer laufenden Plot aufzufrischen, auf dass er immer absurdere, unglaublichere, mysteriösere Züge annimmt. In dem subtilen Gemisch aus Fakten und Fiktion, Tatsachen und Gerüchten, Politik und Verschwörung liegt einer der faszinierenden Zumutungen dieses Buches.
Reinhard Jirgl enthält sich dabei jeder vordergründigen Parteinahme. Er durchdringt die Figuren mit seiner inständig bohrenden Erzählweise, um so eine überaus skeptische Weltsicht freizulegen, in der alle Werte manipulierbar sind und jegliches Vertrauen eine Angriffsfläche bietet. In seiner Ökonomie der Seelen ist es das Schicksal des Menschen, dass er „das Urvertrauen des 3jährigen Kindes“ verliert und „Diesewunde“ lebenslang mit sich herumträgt. Wie Theresa und Willfried – und wie Orfan der gegen Ende durch Willfried mit ins Spiel kommt. Als Willfried von der KOZERO als Killer angeworben wird, weil er als „kriminelles Suppjeckt“ ohnehin nie eine Chance haben würde, erhält er einen Freund fürs geheime Leben: den „dickafetta Orfan Batt“. Dessen Eltern waren Diplomaten in der DDR, bevor sie in die Heimat Indonesien zurückkehrten und in einem Pogrom 1965 von den Schergen des Putschgenerals Suharto umgebracht wurden. Willfried und Orfan erhalten gemeinsam einen heiklen ersten Auftrag, an dem Willfried kläglich scheitert.
Das Gefängnis ist ein zentraler Ort in Jirgls Roman, ein gewissermaßen logischer Wohnort des subalternen Subjekts. Deshalb gilt: „Den-Mördern das letzte Wort“. Die klassische Kriminalgeschichte in der konfektionierten Form zielt auf eine Wiederherstellung der (prekären) Ordnung, indem ein Fall gelöst wird. Die lachenden Kommissare kurz vor dem Abspann stehen für diese Stillstellung. Reinhard Jirgl wählt eine ganz andere Strategie. Nach dem verwirrenden Einstieg mit Theresas rätselhaftem Selbstgespräch am elterlichen Grab setzt er den Hauptkommissar als Erzähler auf den Fall an, um die Fäden zu entwirren. Indem dieser Zeugen und Verdächtige abhört, dringt er weit ins Mysterium vor, bis an jenen schmerzhaften Punkt, der auch ihn zum Zuvielwisser stempelt: „wer Uns nahe kommt, ist Uns zunahe gekommen“. Bevor es dem Hauptkommissar vergönnt ist, den Fall abzuschließen und den Sieg der Ordnung zu verkünden, gerät er selbst unter (fingierten) Mordverdacht. Er wird verhaftet und in seiner Zelle nach bewährtem Muster umgebracht. Sieben Jahre später, 2020, ereilt dann auch Orfan Batt ein mysteriöser Tod, weil auch über ihn das letzte Wort gesprochen wird.
Wer genau, was und wie, das bleibt im Dunkeln, denn die Macht von Verschwörung und geheimen Zirkeln besteht darin, dass sie unerkannt bleibt. Jirgl hält sich daran. Die Setzung des Schlusses in die nähere Zukunft verleiht seinem Roman eine irreale Note, die – dürfen wir wenigstens insgeheim hoffen – auch auf Teile seiner ganzen Geschichte zutrifft. Reinhard Jirgl ist ein Großmeister des Munkelns, der die Realität derart verzerrt, dass sie augenscheinlich korrupt, unwirklich, verräterisch, doppelbödig erscheint. Für sein Verfahren beruft er sich auf Döblins Begriff der „Tatsachenphantasie“: ein Spiel mit dem Möglichen, das ihm Rahmen des tatsächlich Gewordenen hätte geschehen können. Themen wie der Menschenhandel zwischen Ost und West geben dafür geheimnisumwitterten Anlass. Die Fakten zerfließen ins Zwielicht des historisch nicht restlos Erledigten.
Heimat ist nicht „wo Die Wahrheit zu=Haus wäre“, sondern „1 unbehaustes porös unsichres Gelände voller Ungewissheiten“, schreibt Reinhard Jirgl. Dieser Autor ist ein grandioser Stimmungsmacher, der mit subtilen sprachlichen Mitteln eine Atmosphäre in der Schwebe hält oder zum Kippen bringt, wie „an 1 lauchfarbnen Frühjahrsmorgen“ – mit einem Adjektiv versumpft die unverdorbne Frische des dämmernden Tages sogleich „unter kotzgrauen Schneefladen“ im Morast des Provinziellen.
PS: Der Titel Oben das Feuer, unten der Berg spielt übrigens an auf das 56. Haus im I Ging-Orakel, Lü / Der Wanderer, zu dem es heißt: „Fremde, Trennung ist das Los des Wanderers“. Damit tut sich eine ergänzende Lesart auf. Reinhard Jirgl hat sich nach eigener Aussage bei der Konstruktion seines Romans durch das I Ging leiten lassen. Diesen Code zu entschlüsseln wird der Philologie von morgen vorbehalten bleiben.
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