Alles, außer Text

Eine Marbacher Ausstellung feiert „Das bewegte Buch“

Von Stefan HöppnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Höppner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

An dieser Ausstellung ist nichts gewöhnlich, nicht einmal der Katalog: ratlos hält man einen kleinen Schuber aus Wellpappe in der Hand, aus dem das fragliche Objekt erst einmal herausgefrickelt werden muss. Versucht man, das Buch zu öffnen, geht es einem wie mit hölzernen Strandstühlen in einer Slapstick-Komödie: Die Sache geht erst einmal schief. Dann erst wird klar: Klappt man den Buchblock auf, hat man zwei Bände, die man parallel liest, und die von einem einzigen Blatt zusammengehalten werden; der eine versammelt die Exponate, der andere die dazugehörigen Texte. Doch nicht nur das: Nicht nur der Begleitband ist außergewöhnlich, sondern ebenso die Literaturausstellung unter dem Titel „Das bewegte Buch“:  Normalerweise geht bei solchen Veranstaltungen um Biografien, die man mit einer Handvoll Bänden bebildert. Oder aber man will die Texte selbst zeigen – in verschiedenen Editionen, angereichert um die gelegentliche Erstausgabe von 1774 oder 1922, um ein auratisches Objekt dabeizuhaben.

„Das bewegte Buch“, als Ausstellung seit dem 6. November letzten Jahres im Deutschen Literaturarchiv Marbach zu sehen, geht einen anderen Weg. Hier sind es die Exemplare selbst, die im Mittelpunkt stehen – Bücher mit ungewöhnlichen Benutzungsspuren, aus den Bibliotheken berühmter Autoren oder aus anderen, ebenso bemerkenswerten Sammlungen. Das Besondere dabei ist nicht der Text selbst, sondern was mit diesem passiert. Marginalien, Widmungen mit Kugelschreiber und Feder, sogar gänzlich ausgehöhlte Exemplare zum Deponieren von Schmuggelgut. Es geht also um Bücher als materielle Objekte. Was nicht heißt, dass die Texte dabei völlig gleichgültig wären. Sie sind es, die zu diesem Umgang den Anstoß geben, ob es sich nun um einen Band Martin Heideggers, einen Einblattdruck mit einem Enzensberger-Gedicht oder um den Groschenroman „Marianne die Verstoßene“ aus der Zeit um 1900 handelt. Aber sie interessieren hier eher als Anlass dafür, was die Vorbesitzer mit ihnen taten, ob es sich nun um Gottfried Benn, W.G. Sebald oder anonyme Benutzer der JVA Münster handelt.

Kuratorin Heike Gfrereis und Mitherausgeber Dietmar Jaegle teilen das reiche Material in drei Gruppen. Die erste, „Höhle und Falte“, lenkt den Blick auf besondere Einzelexemplare. Am Anfang stehen die originalverpackten Moleskine-Notizbücher, die Christoph Ransmayr mit auf seine zahlreichen Reisen nimmt, und die nicht anders aussehen als ihre Gegenstücke in jeder beliebigen Buchhandlung. Aber dann findet sich das einzige noch erhaltene Buch aus Friedrich Hölderlins Bibliothek mit den Eintragungen der Vorbesitzer und einer einzigen, lapidaren Randnotiz: „Wie diß?“ Oder Peter Handkes Don Quijote im spanischen Original, über und über bedeckt mit Anstreichungen und Randnotizen, mitgeführt auf einsamen Wanderungen, die später in den Band Der Bildverlust eingeflossen sind. Ein aus dem Exil nach Deutschland geschmuggelter Brecht-Band im Umschlag des als harmlos gegoltenen Robert Walser. Bücher aus dem Besitz von Peter Rühmkorf und Achim von Arnim, die als Aufbewahrungsort von Dutzenden von Zeichnungen, Briefen und anderen Texten dienten. Schließlich das Exemplar von Hölderlins Roman Hyperion, das er Susette Gontard, der von ihm geliebten „Diotima“, widmete.

Im zweiten Kapitel „Blatt und Untergrund“ geht es um die besondere Erscheinungsform von Büchern. Es werden in ihrer Zeit populäre Publikationsformen präsentiert, die jeweils die Rezeption der Texte mitbestimmt haben: beispielsweise die kleinen Bücher für die Tasche, die Ende des 18. Jahrhunderts aufkamen und es erlaubten, praktisch immer und überall zu lesen, und die sich besonders nach 1800 großer Beliebtheit erfreuten. Der Trivialroman, der ab Mitte des 19. Jahrhunderts im billigen Heftformat gedruckt wurde, die „Feldpostausgabe“, die in den Tornister des Soldaten im Ersten und Zweiten Weltkrieg passte, der Rowohlt-Rotationsroman (rororo), der ab 1950 das Zeitalter des preiswerten Taschenbuchs in Deutschland einläutete. Das Wechselspiel zwischen Blog und Buch wird dargestellt an Rainald Goetz‘ Abfall für alle und Wolfgang Herrndorfs Arbeit und Struktur. Gezeigt wird außerdem ein Exemplar von Aristotelesʼ Nikomachischer Ethik, das aus der Häftlingsbibliothek von Buchenwald stammt.

Das dritte und letzte Kapitel „Löcher und Schneisen“ zeigt ausgewählte Exemplare aus Autorenbibliotheken, etwa von Benn oder Paul Celan, oft solche mit Notizen und Randzeichnungen, die noch Spuren der Arbeit mit den Texten aufweisen. Celan lernte Französisch mit der Übersetzung von Ernst Jüngers Auf den Marmorklippen und schrieb Vokabeln an den Rand. In Nelly Sachsʼ Gedichten fügte er seine eigene Interpunktion hinzu, wohl, um sie laut vorzutragen. In anderen Bänden zeigt sich, dass er selbst begann, die Texte zu übersetzen. Hier wird deutlich, dass Autorenbibliotheken kein zufälliges Exponat für das Literaturmuseum sind, das einfach zum biografischen Umfeld der Schreibenden gehörte wie ein Sessel oder Sekretär. Auch wenn nicht alle Autoren ihre Bücher so gründlich durcharbeiteten wie Celan oder auch Rühmkorf, so machen sie oft sichtbar, wie sich ein Autor mit anderen Punkten und Konstellationen des literarischen Universums auseinandersetzte und sich eine Position erschrieb. An dieser Stelle schließt die Ausstellung wieder an das erste Kapitel an, nur dass der Akzent diesmal weniger auf dem einzelnen Band als auf dem Ensemble liegt.

Es ist leicht, die wunderbaren Exponate aufzuzählen, doch auf der anderen Seite ist die Heterogenität der Ausstellung nur schwer auf einen Nenner zu bringen. Das Bild des „bewegten Buches“ ist eine lockere Klammer, die wenig erklärt. Schwer vorstellbar, dass der Katalog den Gang durch die Ausstellung ersetzen kann und soll. Einige der interessantesten Exponate sind gar nicht erst abgebildet, weil es keine einzelnen Bände sind, sondern ganze Sammlungen: eine ganze Kollektion liegen gelassener Bücher, bereitgestellt von der Deutschen Bahn, die ehemalige Gefängnisbibliothek der JVA Münster oder die Katmandu Library, die Christian Kracht und Eckhart Nickel während ihrer gemeinsamen Zeit in der nepalesischen Hauptstadt Mitte der Nullerjahre zusammentrugen.

Claus Pias versucht in einem Essay, der im Anhang des Katalogs zu finden ist, die Ausstellung in konzeptioneller Hinsicht zusammenzufassen. Beschränkt sich die Ausstellung auf Objekte aus den Sammlungen des DLA – und dessen Schwerpunkt ist nun einmal das 20. Jahrhundert – so verlängert Pias seinen Blick über diesen Schwerpunkt hinaus ins digitale Zeitalter. Dabei ergeht er sich weder in kurzsichtigem Enthusiasmus noch in billiger Kulturkritik, die mit der Digitalisierung das Ende des Buches und damit aller Kultur gekommen sieht. Tatsächlich läuft die Produktion von Büchern spätestens seit den 1990er-Jahren ohnehin auf digitaler Grundlage. Das Buch, das wir in der Buchhandlung kaufen – wenn wir es nicht gleich online bestellen – ist eine ausgedruckte Datei, dessen Design und Vertrieb ebenfalls mithilfe des Computers organisiert werden. Allerdings, und das ist die Kehrseite des Ganzen, bleibt das genuin digitale Buch nur lesbar, wenn man Datei, Hardware und Software zusammen aufbewahrt – oder sie jeweils in den aktuellen technischen Standard überführt. Das digitale Buch als ständig bewegtes Buch: hier findet Pias eine neue, schlüssige Interpretation des Titels. Was nicht beständig nach diesem Modus aktualisiert wird, droht in Vergessenheit zu geraten, weil es für spätere Leser nicht mehr verfügbar ist. Oder doch wieder nur so, wie man es seit Jahrhunderten kennt: als Druckerschwärze auf Papier. Wer alles Gedruckte zugunsten des Digitalen aufgibt, handelt also kurzsichtig und wird langfristig weder die Budget- noch die Platzprobleme der althergebrachten Bibliotheken lösen. Aber ebenso kurzsichtig wäre es, das Potenzial des Digitalen zu ignorieren und allein am gedruckten Buch festzuhalten.

Gegen diesen erhellenden Essay fallen die Stimmen prominenter Autoren und Kulturwissenschaftler ab, die Pias am Ende des Buches zum Stichwort „bewegtes Buch“ versammelt hat. Im Einzelnen sind es interessante Splitter zum Thema. Sie zeigen noch einmal, wie heterogen und anregend die Metapher ist, ohne aber einen Kern des Ganzen benennen zu können. Zusammengenommen spiegelt sich in ihren Äußerungen die Faszination, aber auch die Unübersichtlichkeit und Ratlosigkeit, die das Thema mit sich bringt – dies allerdings so elegant formuliert, wie es das Design dieses außergewöhnlichen Buches ist.

Titelbild

Heike Gfrereis: Das bewegte Buch. Ein Katalog der gelesenen Bücher.
Deutsche Schillergesellschaft, Marbach am Neckar 2015.
188 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783944469133

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