Seriös, aber nicht unbedingt neu

Hans-Edwin Friedrichs und Barbara Potthasts Sammelband zur Lyrik Peter Rühmkorfs ist eher eine Bestandsaufnahme

Von Markus Oliver SpitzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Markus Oliver Spitz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was kann angesichts der Vielzahl an Rühmkorf-Studien in der Publikation Hans-Edwin Friedrichs und Barbara Potthasts schon Neues enthalten sein? Die Herausgeber jedenfalls haben dazu eine gegenteilige Meinung: Ihrer Ansicht nach existieren nämlich keineswegs genügend „seriöse“ Studien zur Lyrik Peter Rühmkorfs. Sie haben sich deshalb vorgenommen, diese vermeintliche Forschungslücke zu schließen und legen den Schwerpunkt dabei auf drei Komplexe: Tradition, Ökonomie und politische Kritik.

Der Band „Peter Rühmkorfs Lyrik“ geht auf eine Tagung im Deutschen Literaturarchiv in Marbach Ende Oktober bis Anfang November 2013 zurück und versammelt Beiträge einiger gestandener akademischer Größen sowie von Mitarbeitern des DLA. Diese Tatsache macht neugierig darauf zu erfahren, ob sich denn im Nachlass des Dichters die eine oder andere Perle hat auffinden lassen, obwohl dieser selbst gegen Ende seines Lebens vor übersteigerten Erwartungen in jener Hinsicht gewarnt hatte.

Der nach Auskunft von DLA-Mitarbeiter Christoph Hilse „bisher größte Einzelnachlass, der im Deutschen Literaturarchiv aufbewahrt wird“, wird in Zukunft sicherlich und kontinuierlich GermanistInnen anziehen, die es sich zum Ziel gesetzt haben, die Veröffentlichungen Rühmkorfs ad fontes zurückzuverfolgen oder bis dato unveröffentlichte Schätze zu heben. Es ist jedoch Vorsicht geboten: Man ist „kaum auf Prosatexte oder Lyrik [gestoßen], die man dem Lesepublikum als gänzlich neu und noch unbekannt präsentieren könnte“. Hilse selbst sieht das Potenzial des Nachlasses eher in Bezug auf die in den 1950er- und 60er-Jahren entstandenen Arbeiten Rühmkorfs sowie hinsichtlich der Initiation von Ausstellungen.

Im Hinblick auf die von den Herausgebern bestimmte Triade werden Rühmkorfs „Positionen in der Tradition“ in gleich mehreren Aufsätzen angesprochen: Lydia Christine Michel sieht den Wahlhamburger dabei in der Rolle eines „didaktische[n] Vermittler[s] zwischen Kunst und Rezipient“. Jan Bürger zeichnet in knappen Strichen die Rezeption Bertolt Brechts nach, die dauerhaft gewesen ist und von anfänglicher Zustimmung angesichts des Potenzials politischer Dichtung über einen Hiatus in den 1960er-Jahren aufgrund der Ablehnung der Brechtʼschen Lehrdichtung bis hin zur (Wieder-)Entdeckung des Rezitativen, wie es in Brechts Gedichten angelegt war, reichte.

Christoph König geht bei seinem Längsschnitt durch die Lyrik der 1960er-Jahre im Dreischritt vor: Als Etappen erkennt er erstens Pathos, zweitens Distanz, drittens Reflexion über die „Grundlagen der Kritik“. Rühmkorfs Distanznahme zu Paul Celan versucht König als Missverständnis zu deuten: Celans „Pronominalsystem“ sei Rühmkorf fremd gewesen und geblieben, daher klassifizierte er die Semantik in Celans Gedichten als blut- und harmlos und sah jene in gefährliche Nähe zu der von ihm so geschmähten Naturlyrik gerückt.

Stephan Opitz liefert wohlrecherchierte und stimmige Ausführungen dazu, wie Rühmkorf zu Walther von der Vogelweide und es trotz nicht unerheblicher äußerer, vorwiegend profan-materieller Widerstände zur Übertragung zahlreicher Lieder des Minnesängers kam. Dabei werden, so Opitz, diachrone Kenntnisse in einen synchronen Kontext transponiert. Den dabei aufklingenden, im Vergleich zu älteren Ansätzen, neuen Ton führt Opitz zuvorderst auf diese Transpositionen zurück und illustriert die Technik Rühmkorfs gegen Ende vermittels Müeste ich noch geleben daz ich die rôsen.

Hans-Edwin Friedrich rückt in seinem Beitrag zur Klopstock-Rezeption Rühmkorfs die sprachlich-rhetorischen Gegensätze ins Zentrum, wie sie sich aus dem Vergleich von Der Zürchersee mit den Variationen auf ein Thema von Friedrich Gottlieb Klopstock ergeben. Im Zuge dessen erkennt auch Friedrich das, was soeben zu Walther angedeutet wurde, nämlich die Fruchtbarmachung der Lyriktradition für die Gegenwart, wobei die literarische Vorlage als – so Rühmkorf selbst – „Filter, Medium und Transparentfolie“ dient.

Im Zusammenhang mit dem Begriff der „Ökonomie“ im weiteren Sinne führen Potthast und Friedrich an, dass sich Rühmkorfs Lyrik stets dem „kapitalistische[n] Verwertungsdenken“ entgegenstellte, wenn auch nicht ohne die Klage ihres Verfassers über die praktisch inexistente Würdigung und Vergütung der in die Gedichte eingegangenen Vorarbeit sowie über die mangelnde Bewerbung durch das Verlagswesen – weshalb sich der Dichter kurzerhand dazu entschloss, seine Erzeugnisse wie ein Wandersänger selbst unters Publikum zu bringen.

Gleichfalls sehen die Herausgeber die Lyrik Rühmkorfs im Dienste der Aufklärung und vermögen es, von dorther eine Brücke zu der maßgeblich von Theodor W. Adorno initiierten Debatte um die Stellung der Literatur innerhalb der (Nachkriegs-)Gesellschaft zu schlagen. Rühmkorf war davon überzeugt, dass sich Lyrik nicht von der Gesellschaft abschließen, sich aber gleichfalls nicht in den Dienst politischer Programme stellen (lassen) dürfe, sondern der Etablierung wie dem Ausbau genuiner Solidarität verpflichtet bleibe.

Diese Facette der poetologischen Reflexion ist bereits Teil des Zusammenhangs zwischen der lyrischen Produktion Rühmkorfs und der ihr inhärenten politischen Kritik. Man gewinnt allerdings den Eindruck, dass der politische Impetus, der sich in der Teilnahme Rühmkorfs an der Auseinandersetzung um Adornos Auschwitz-Zitat oder auch im Verweben von Reagan-Zitaten manifestierte, mehr und mehr zurücktritt (dies sieht beispielsweise auch Hartmut Steinecke). Der Appellcharakter der Gedichte weicht spätestens im späten Paradiesvogelschiss einem ernüchtert-desillusionierten, auch zivilisationskritischen Blick auf die Welt, für den Rüdiger Zymner mehrere überzeugende Beispiele liefert. Er argumentiert dafür, Rühmkorf einen genuinen Altersstil zuzuschreiben.

Letztlich fallen die Befunde hinsichtlich der Begriffs-Triade – wenig überraschend – gerade dort uneinheitlich aus, wo sie auf die konkrete Lyrikproduktion bezogen sind. Deutlich wird dies an den Einzelinterpretationen von Roland Berbig (Der Fliederbusch, der Krüppel) und Na Schädlich (Undine). Während Berbig die Motivgeschichte erläutert und das Gedicht in eine Traditionsreihe stellt, liest Schädlich Undine als Farce der literarischen Tradition – also gerade im Gegensatz zu Ansätzen, die Rühmkorfs Lyrik als in die literarische Tradition ein- und kritisch fortgeschrieben sehen. Entgegen Rühmkorfs Selbstaussage hinsichtlich der von ihm „geliebten literarischen Traditionsgüter“ plädiert Schädlich für ein problematisches Verhältnis Rühmkorfs „zur literarischen Tradition“ und sieht geradezu „Aggression gegen die Hochtradition“ gegeben. Der „Widerspruch gegen das Überlieferte“ diene dem Zweck der (Selbst-)Versicherung der eigenen Individualität. Letztlich muss sich Schädlich argumentativ jedoch mächtig strecken, um im Spagat zur Formulierung zu gelangen, Rühmkorf sei ein verkappter Formalist mit „Hass […] auf jeglichen formalistischen Verdacht“ gewesen. Man neigt eher Potthast und Friedrich zu, wenn sie formulieren, es sei vornehmlich das Stilmittel der Parodie gewesen, das Rühmkorf die „Selbstbehauptung gegenüber der Tradition“ ermöglichte, „ohne radikal mit ihr zu brechen“.

In der Summe stellt der Band zweifellos ein seriöses Unterfangen dar, aber vielleicht ist die Thematik letzten Endes doch bereits weiter ausgeschöpft als die Herausgeber postulieren.

Titelbild

Hans-Edwin Friedrich / Barbara Potthast (Hg.): Peter Rühmkorfs Lyrik.
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2015.
241 Seiten, 40,00 EUR.
ISBN-13: 9783847102649

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch