O mein Goethe, dass du mich nie gekannt hättest

Lenzens „Eseleyen“ und die Folgen

Von Manuel BauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manuel Bauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist keine neue Einsicht, dass auch die Literaturgeschichte die Geschichte der Sieger ist. An kaum einem anderen Beispiel lässt sich dies jedoch derart prägnant erkennen wie am Verhältnis von Johann Wolfgang Goethe und Jakob Michael Reinhold Lenz. Den Zeitgenossen galten sie in den 70er Jahren des 18. Jahrhunderts als ebenbürtige Dichter, noch heute gilt das persönliche Verhältnis der beiden als Inbegriff einer Dichterfreundschaft zur Zeit des Sturm und Drang. „So wenig die Literatur des Sturm und Drang ohne die Begegnung zwischen Herder und Goethe in Straßburg denkbar wäre, so wenig hätte diese Literatur ohne die Freundschaft zwischen Goethe und Lenz entstehen können.“ Sie erlebten gemeinsame „Göttertage“ und verknüpften ihre Schaffensprozesse teilweise bis zur Aufhebung einer eindeutigen Autorschaft, was dazu führte, dass man die jungen Autoren verwechselte und die ersten Publikationen von Lenz einfach dem ,Sieger‘ Goethe zuschrieb. Nachdem sich Lenz 1776 in Weimar niederließ, wo Goethe sich in der Gesellschaft etabliert hatte, kam es zum Zerwürfnis, dessen genaue Umstände noch immer ungeklärt sind. Goethe berichtet von zwei „Eseleyen“, die Lenz beging. Deren erste sorgte noch für allgemeine Erheiterung, ein „Lachfieber“, die zweite zieht die Ausweisung des mittellosen Dichters aus Weimar nach sich. Die Rolle, die Goethe dabei einnahm, stellt die Forschung noch heute vor ein Rätsel und wird nach der Lektüre der wenigen Texte, welche die Ereignisse am Weimarer Hof thematisieren, eher noch unklarer. Einerseits ist Goethe kühl, geradezu hartherzig und bricht jeglichen Kontakt mit Lenz ab. Andere Dokumente legen nahe, dass er nicht derart sachlich mit dem Vorfall und seinen Folgen umgehen konnte, wie es zunächst erscheint. Ein Brief von Lenz an Herder kurz nach der zweiten ,Eseley‘ legt sogar nahe, dass er von Goethe gewarnt wurde: „Hätt ich nur Goethes Winke eher verstanden. Sag ihm das.“ Die Entwicklung nach der Entzweiung ist bekannt – Goethe wird zum Hauptvertreter der Weimarer Klassik in der deutschen Literatur. Lenz findet zwar berühmte Bewunderer wie Georg Büchner oder Bertolt Brecht, wird aber von der Literaturgeschichtsschreibung meist auf einen Nebenplatz verwiesen und wird oft auf die Rolle des Jugendfreunds des Dichterfürsten beschränkt. Lange galt Lenz schlicht als wahnsinnig, als pathologischer Fall, und seine gesamte literarische Produktion wurde nur noch vor dem Hintergrund seiner späteren psychischen Leiden gesehen. Der Darmstädter Lenz-Forscher Matthias Luserke hat für seine Dokumentation neben bekannten Texten, wie Goethes Berichten aus „Dichtung und Wahrheit“, auch Briefe zwischen Lenz und Goethe, Kommentaren der Dichter über den Anderen, aber auch – und dies macht den größten Teil des Buches aus – vollständige literarische Texte von Lenz wie den „Waldbruder“, die „Briefe über die Moralität des Leidens des jungen Werthers“ sowie einige Gedichte für die Dokumentation ausgewählt. Kommentiert werden die Texte nicht näher, nur das Vorwort Luserkes gibt eine kurze, allerdings fundierte Einführung in die Thematik.

Die in diesem Band versammelten Dokumente fordern den Leser zu einer eigenen Stellungnahme und Einschätzung – was nicht zuletzt den Reiz des Buches ausmacht. Dabei kommt auch Goethe nicht nur gut weg: oft beschleicht den Leser das Gefühl, es mit zwei Narzissten zu tun zu haben, die in einer Art Hassliebe verbunden waren. Sogar Lesarten, nach denen Goethe nicht nur narzisstisch, sondern gar paranoid erscheint – etwa wenn er sich als Gegenstand des Hasses und „Ziel einer abenteuerlichen und grillenhaften Verfolgung“ wähnt –, sind durchaus legitim. Das Buch hinterlässt den Eindruck, dass Lenz stark von Goethe geprägt war, ohne deshalb ein Epigone zu sein. So wäre in der Tat der Theoretiker Lenz ohne Bezugnahme auf Goethes „Götz“ und „Werther“ schlichtweg nicht denkbar. Mehr noch: Lenz singt geradezu ein Hohelied auf diese populärsten Figuren des Sturm und Drang und darf als einer der Begründer eines bis heute wirksamen Goethe-Kultes gelten. Auch die Erzählung „Der Waldbruder“, schon im Untertitel als „Pendant zu Werthers Leiden“ ausgewiesen, ist nur vor dem Hintergrund der Goethe-Verehrung möglich, zeigt aber auch exemplarisch, dass es Lenz nicht auf eine bloße Nachahmung Goethes ankam. Sie macht den eigenen dichterischen Rang Lenzens klar. Dabei muss auch beachtet werden, dass für die vorliegende Dokumentation nur solche Texte ausgewählt wurden, an denen sich der Einfluss Goethes deutlich erkennen lässt. Dagegen lernt der Leser den Dramatiker Lenz nur sehr flüchtig kennen. Diesen sowie den Lyriker sollte er auch ohne die Perspektive der Beziehung zu Goethe zur Kenntnis nehmen, um ein möglichst umfassendes Lenz-Bild zu erhalten. Kurz vor seinem Tod wehrte sich Lenz gegen literarische Vergleiche mit Goethe. Wie allein die Konzeption dieser Dokumentation zeigt, ist dies bis heute weitgehend unerhört. Es gilt also, das Buch als Anreiz zu nehmen, doch im Weiteren über die Texte des Buches hinaus zu lesen, um sich einen neuen, weiter reichenden Eindruck von Lenz zu verschaffen und einen vermeintlichen Verlierer mit Gewinn zu lesen.

Titelbild

Matthias Luserke (Hg.): Goethe und Lenz. Die Geschichte einer Entzweiung. Eine Dokumentation.
Insel Verlag, Frankfurt a. M. 2001.
200 Seiten, 8,60 EUR.
ISBN-10: 3458344500

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