Der zündende Funke

Michael Brenner enthüllt in „Israel. Traum und Wirklichkeit des jüdischen Staates“ die Kraft der Vision

Von Galina HristevaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Galina Hristeva

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Traum ist von der Tat nicht so verschieden, wie mancher glaubt. Alles Tun der Menschen war einmal Traum und wird später zum Traume“, meinte Theodor Herzl in seinem Roman „Altneuland“ (1902). 1898 hatte er in seinem Tagebuch nach einem Besuch in Jerusalem über die dortige Realität notiert: „Wenn ich künftig deiner gedenke, Jerusalem, wird es nicht mir Vergnügen sein. Die dumpfen Niederschläge zweier Jahrtausende von Unmenschlichkeit, Unduldsamkeit, Unreinlichkeit sitzen in den übelriechenden Gassen.“ Die Konfigurationen zwischen Traum und Wirklichkeit, der Schritt von der Vision zur Realität oder aber von der Realität zurück zur Vision, sind ebenfalls das Herzstück von Michael Brenners Buch „Israel. Traum und Wirklichkeit des jüdischen Staates. Von Theodor Herzl bis heute“.

Herzls großartige Vision eines jüdischen Staates wurzelt im unausrottbaren europäischen Antisemitismus. Selbst europäische Geistesgrößen hegten eine tiefe Antipathie gegen die Juden. Man denke hier an Arthur Schopenhauer, der überall den „foetor Judaicus“ witterte und dagegen wetterte, oder an Johann Gottlieb Fichte, der die Lösung der Judenfrage darin sah, „in einer Nacht ihnen allen [den Juden] die Köpfe abzuschneiden, und andere aufzusetzen, in denen auch nicht eine jüdische Idee sei“ oder „um uns vor ihnen zu schützen“ am besten „ihnen ihr gelobtes Land zu erobern, und sie alle dahin zu schicken.“ Theodor Herzls zionistische Ideen entstanden noch vor der Dreyfus-Affäre, aus dem antisemitischen Klima Wiens heraus, das 1897 in der Wahl des Antisemiten Karl Lueger zum Bürgermeister gipfelte. Von vielen mit Spott, Gelächter und Hohn überschüttet – eins der illustresten Beispiele dafür ist Karl Krausʼ Pamphlet „Eine Krone für Zion“ – schmiedete Herzl unermüdlich und bis zur völligen Selbstaufgabe seine Pläne zum Exodus der Juden aus Europa. Er, der Autor des Dramas „Das neue Ghetto“, hatte die Wirklichkeit in Europa durchschaut und durch seinen Protagonisten Dr. Jacob Samuel den Juden „Hinaus – aus – dem – Ghetto!“ zugerufen. Herzl hatte einen kolossalen Traum, der Zionismus ersehnte aber für das jüdische Volk zunächst nichts anderes als die Normalität. Die Juden sollten „zu einem ganz normalen Volk mit einem ganz normalen Staat“ werden. Gleich allen anderen Völkern sollten sie sein, hebräisch: „Kechol am ve-am“.

Genau an diesem Punkt setzt Michael Brenner an. Seine Fragestellung ist präzise formuliert: „Dieses Buch verfolgt die Debatten über den Charakter des ersten jüdischen Staates in der Moderne und versucht dabei den Fragen nachzugehen, was dieser sein wollte, wozu er wurde und wie er von der Welt wahrgenommen wird.“ Ebenso klar und prägnant stellt der Autor seine Hauptthese auf: „Obwohl Israels Vordenker und später Israels Politiker immer wieder den Weg in die Normalität einzuschlagen versuchten und dem ‚besonderen‘ Schicksal der jüdischen Geschichte entfliehen wollten, konnten sie sich nicht von dem Bann lösen, der die Geschichte der Juden über Jahrtausende begleitet hat.“ Die Geschichte des Staates Israel wird von Brenner in all ihrer Komplexität mit einer bewundernswerten Klarheit entfaltet. Zudem besticht das Buch mit seiner straffen Argumentation sowie der Plastizität der Darstellung. Sehr zu betonen sind außerdem das breite Themenspektrum und der weite, nicht zuletzt literarische Horizont, den Brenner in seinem Buch eröffnet: Er bewegt sich souverän zwischen den Texten Herzls und seiner zionistischen Vorgänger sowie Nachfolger und illustriert seine Argumente mit Bibelzitaten (vergleiche etwa das hier wichtige „Gib uns einen König, der uns richte wie alle anderen Völker“), wirft aber ebenso Licht auf die literarische Gestaltung des jüdischen „Wegs ins Freie“. So spannt der Autor den literarischen Bogen vom Wiener Cafè Griensteidl, der Gründungsstätte des Kreises Jung-Wien, bis nach Ecuador, dem Handlungsort in Eshkol Nevos Roman „Neuland“ (2011). Letzterer – eine Replik auf Herzls Roman „Altneuland“ – prüft, inwiefern Israel die Träume seiner Gründungsväter im Spannungsfeld zwischen Normalität und Anderssein, zwischen Traum und Realität verwirklicht hat.

Sollte Israel „ein Licht unter den Völkern“ werden, wie schon im Buch Jesaja steht und wie israelische Politiker, beispielsweise David Ben Gurion, dies forderten oder war es genug, nur ein neues „Albanien“ zu werden? Aus der „Judenfrage“ wurde die „Israelfrage“. Inwiefern bleibt heute Israel eine „Anomalität“, um mit Jerold Auerbach zu sprechen? Hier streiten sich noch immer die Geister. Neben den damaligen Meinungsverschiedenheiten innerhalb des zionistischen Lagers (etwa die Kontroverse zwischen Theodor Herzl und Achad Ha’am: „Herzl wollte eine kleine Schweiz im Orient, Achad Ha’am ein neues Judäa“) zeichnet Brenner verschiedene weitere Ausrichtungen mit ihren Lösungen nach. So bekommt man einen sehr sachkundig geschriebenen, fesselnd vorgetragenen Einblick in Herzls Denkkosmos (einschließlich moderner Herzl-Forschung), in die spannungsvolle (und nicht erst mit Herzl beginnende) Geschichte des Zionismus und seiner Spielarten, aber auch in die Fülle weiterer Entwürfe, Ideen und Konzepte sowie in ihre Konkurrenz. „Muskeljudentum“ oder „Nervenjudentum“ (wie von Max Nordau differenziert), ein sozialistisch geprägter (wie bei der Kibbuz-Bewegung) oder aristokratisch angehauchter Staat (wie bei Herzl) – neue und alte Ideale lösten einander ab, bekämpften und ergänzten sich. Sogar ein kompromissloser Denker wie Vladimir Zeev Jabotinsky konnte das Dilemma „Musterstaat oder ein Staat wie alle anderen“ nicht entscheiden!

Michael Brenner will die Paradoxe ebenfalls nicht auflösen. Es bleibt beim Widerspruch, beim unaufgelösten Gegensatz. Die Spannung besteht weiter, die Geschichte bleibt offen. Aus Israel ist weder Kanaan noch Zion geworden. Israel ist „eine Gesellschaft der Paradoxe“, ein immer heiß umkämpftes Terrain – ideologisch wie ideengeschichtlich. Ob Uganda in Ostafrika, Birobidschan (Stalins Projekt zur Umsiedlung der Juden) oder Palästina, Staatenverbund oder jüdischer Nationalstaat, Ein-oder Zweistaatenlösung, Kollektivismus oder Individualismus, Zionismus oder Diasporismus – der Diskurs ist immer zum Zerreißen gespannt gewesen. Fehler und Schwachstellen gab es ebenfalls, so Brenner. Uneinigkeit etwa über den aus der Balfour-Deklaration stammenden Begriff „Heimstätte“ der Juden, Anflüge von „übernatürlicher Terminologie“ und von Messianismus. Sowie brennende Probleme, die einer Lösung bedürfen: etwa dass Israels arabische Bürger „sieben Jahrzehnte nach seiner Gründung nicht voll integriert sind.“

Von Michael Brenner auf den Punkt gebracht: An der Nahtstelle zwischen einem „Genozid ungekannten Ausmaßes“ und einer „so ungewöhnlichen Staatsgründung“ ist eine außergewöhnliche Situation entstanden. „Traum und Trauma“ treffen sich hier „in besonderer Weise.“ Die vielen Gesichter des heutigen Israel offenbaren ein Land, das immer noch auf dem schmalen Grat zwischen Traum und Trauma wandelt und das „in den meisten Karten, die in arabischen Ländern kursieren“, gar nicht existiert. Fragmentierung und Polarisierung lassen Brenners Blick gegen Ende des Buches immer sorgenvoller werden, wenn er Israel als einen Staat in einer „fragilen Region“, einen „Staat, der auf der Hut sein muss“, bezeichnet. Träume gibt es aber weiterhin in Hülle und Fülle – „Siedlerträume“, „Friedensträume“, „Endzeitträume“.

Eins wird aus dem beeindruckenden Panorama visionärer Gestalten und fast unglaublicher historischer Ereignisse klar: „Ein Staat braucht eine Vision“ (Eshkol Nevo). Israels Geburt aus den „Gründerträumen“ Herzls und seiner Mitstreiter, aus dem zündenden Funken der Vision ist auch die Quintessenz von Brenners vielschichtigem, anregendem und meisterhaft komponiertem Buch.

Titelbild

Michael Brenner: Israel. Traum und Wirklichkeit des jüdischen Staates. Von Theodor Herzl bis heute.
Verlag C.H.Beck, München 2016.
288 Seiten, 24,95 EUR.
ISBN-13: 9783406688225

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