Kreatives Lesen

Marcel Beyer, Daniela Danz, Uljana Wolf und Steffen Popp halten „Zwiesprache“ mit dichterischen Vorbildern

Von Christophe FrickerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christophe Fricker

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In der Reihe „Zwiesprachen“ legt die Stiftung Lyrik Kabinett München Vorträge zeitgenössischer Dichter über jeweils einen anderen Dichter vor, der sie geprägt hat. Diese Vorträge unterscheiden sich sehr deutlich voneinander. Nie sind es Dialoge im üblichen Sinne. Denn im Gespräch des einen Dichters mit dem anderen wird unvermeidlich das „Zwie“ selbst zur Sprache, wie es der Lyriker und Germanist Jürgen Egyptien einmal formulierte. Und diese Sprache hat, wenn man dem Leipziger Autor Thomas Böhme glauben darf, eine besondere Kraft, die er wunderbarerweise „Zwiekraft“ nennt.

Marcel Beyers „Muskatblut, Muskatblüt“ ist ein Highlight der Serie. Die beiden Substantive sind zwei der vielen einander recht ähnlichen Namen, unter denen ein heute weitgehend unbekannter süddeutscher Dichter des frühen 15. Jahrhunderts seine Texte veröffentlichte. Beyer macht aus der Auseinandersetzung mit dem entfernten Gegenüber eine mehrschichtige Performance. Sie beginnt damit, dass er in den Radionachrichten vom Einsturz des Kölner Stadtarchivs hört. Daraus entspinnen sich immer neu variierte Überlegungen über die eben nur vermeintliche Dauerhaftigkeit des Gedichts, über die Unwägbarkeiten des Bekannt- und Vergessenwerdens, über die oft vergeblichen Mühen um ein Werk oder einen Autor und ganz besonders intensiv auch über die Frage nach der Qualität von Werken, Ausgaben und Rezeptionsanstrengungen.

Die Engführung von Kölner Gegenwart und frühneuzeitlicher Auftragsdichtung ist meisterhaft. Ein Beispiel: Auf einem Foto der Archivruine ist auch ein Teil des ebenfalls beschädigten Nachbarhauses zu erkennen. Der Fernseher ist hinabgestürzt, so wie der alte Autor abgestürzt sei, das Fernsehprogramm sei so medioker wie dessen Dichtung und von ebenso krassen Brüchen zwischen einzelnen Sendungen bzw. Strophen geprägt. Muskatblut taucht aber bei Beyers Besuch an der Unfallstelle aus dem Schutt auf, als zerfledderte Ausgabe, die Beyer sich vornimmt. Daraus wird jener eindrückliche Vortrag darüber, wie eigenartig sowohl der Ort der jüngsten Katastrophe als auch das Werk des kaum greifbaren Dichters ist.

Ebenfalls in diesem Frühjahr erschienen sind in der Reihe „Zwiesprachen“ Vorträge von Daniela Danz über Hölderlin, von Uljana Wolf über die koreanisch-amerikanische Künstlerin und Schriftstellerin Theresa Hak Kyung Cha und von Steffen Popp über César Vallejo.

Danz’ sehr knappe Ausführungen widmen sich dem schwierigen Zusammenhang zwischen Freiheit und Heimat, der dieser Tage sicher die Aufmerksamkeit aller denkenden und dichtenden Menschen verdient. Danz vollzieht den Schiller’schen Gedanken nach, dass Handlungsfreiheit dort möglich ist, wo wir unser Einbezogensein in größere Zusammenhänge verstehen, anerkennen und im doppelten Sinne von vertrauter „Nähe und von der Formbarkeit der Welt“ erfahren. Welcher Art diese Freiheit ist, wie sich Heimat und Vaterland zueinander verhalten und inwiefern Göttliches und Zwischenmenschliches hier mit anklingen, ist ein weites Feld. Daniela Danz’ doppelte Aufforderung aber, „Heimat“ weder zum Schlagwort verkommen zu lassen noch als schönen Anspruch sich von empathieunfähigen Social-Media-Vandalen nehmen zu lassen, kommt wahrlich zur rechten Zeit. Zwiesprache, das unausgesetzte Gespräch mit dem Eigenen und mit dem ganz Anderen, ist bitter nötig.

Was Sprache überhaupt ist, können Emigranten oft leichter erkennen als Daheimgebliebene, weil ihnen ihre eigene Sprache in eine Umwelt folgt, in der sie nicht selbstverständlich ist. Die Deutsche Uljana Wolf und die Koreanerin Theresa Hak Kyung Cha nehmen diese liminale Erfahrung zum Anlass dafür, in den USA zu erkunden, was eigentlich sagbar ist. Wolfs mehrsprachige Textspiele und die begleitenden Überlegungen sind dabei abstrakter als Chas Werk, das ihr persönliches Leid und ihre Einsamkeit auch in allen performativen Inszenierungen noch deutlich transportiert. Bei beiden geht aber „die Kombination von fragmentierter multilingualer Sprache mit dem Scheitern von Übersetzung, von dokumentarischem Material mit der Unmöglichkeit des Zeigens, Sagens, einstimmigen Erinnerns“ zulasten einer für Dritte erfahrbaren Auseinandersetzung mit jener Situation, die solchen Verfahren (natürlich unwillkürlich) erst Raum gibt.

Das wäre nicht schlimm, wenn es sich nur um die Entscheidung für eine bestimmte Arbeitstechnik handelte. Wolf geht aber von einer Reihe durchaus problematischer Annahmen aus: Sie bezeichnet „Muttersprachen“ an sich zwar als nomadisch, privilegiert dann aber doch bestimmte Ideolekte gegenüber anderen. Sie scheint zu wissen, wie „man [!] eine Fremdsprache lernt“, ohne soziale oder politische Umstände zu berücksichtigen. Sie tut individuelle Erfahrung ab, wenn sie Wert darauf legt, dass „die Leserin“ durch ein Buch wie Dictée von Cha „erst erfunden wird“. Durch eine solche Entsozialisierung, Entsinnlichung und Entkörperlichung von Text, Autor und Rezipientin wird umgekehrt die lapidare Feststellung, Cha sei „wenige Tage nach der Veröffentlichung von Dictée in New York von einem Fremden (einem Wachmann) vergewaltigt und ermordet“ worden, fast zur Karikatur, zu einem Einbruch des gerade durch seine Konkretheit Belanglosen.

Steffen Popp schließlich widmet sich dem peruanischen Dichter César Vallejo, der vor allem in den 1920er Jahren für eine grundlegende Erneuerung der Literatur seines Heimatlandes sorgte. (Dass es vorher in Peru keine Lyrik gab, ist wohl übertrieben – à verifier, Monsieur?) Popp charakterisiert den in Deutschland kaum bekannten Vallejo als Autor eines Werks, in dem „die Ausstreichung sinnvermittelnder Brücken, das Einschmelzen und Umprägen von Bildern, die Verstellung der Syntax und Verschärfung semantischer Brüche“ extreme sprachliche Verdichtungen und gewagte Neuschöpfungen hervorbrachte. Im Hinblick auf das Thema Zwiesprachen scheint mir eine Formulierung aus Hans Magnus Enzensbergers von Popp zitierter Vallejo-Besprechung besonders bedenkenswert. Enzensberger kennzeichnet Vallejos Lyrik als „Ineinander von extremer Kunstsprache und vernutzter Redensart“, von L’art pour l’art und Alltagsspanisch. Ist dies die eingangs postulierte Sprache Zwie? Oder einfach eine neue Kunstsprache?

Eine Antwort habe ich natürlich nicht; vorfreudig bin ich aber darauf zu sehen, ob weitere Vorträge diese Frage weiter untersuchen.

Titelbild

Daniela Danz: Das philosophische Licht um mein Fenster. Über Friedrich Hölderlin.
Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg 2016.
24 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783884235300

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

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Marcel Beyer: Muskatblut, Muskatblüt.
Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg 2016.
32 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783884235324

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Steffen Popp: Panzere diesen Äquator, Mond. Zur Poesie César Vallejos.
Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg 2016.
32 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783884235287

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Titelbild

Uljana Wolf: Wandernde Errands. Theresa Hak Kyung Chas translinguale Sendungen.
Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg 2016.
38 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783884235294

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