Tierisch-menschliche Lebensweisheiten

Manfred Stange übersetzt und kommentiert Ulrich Boners Fabelsammlung „Der Edelstein“

Von Simone LoleitRSS-Newsfeed neuer Artikel von Simone Loleit

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die zwischen 1340 und 1350 entstandene Fabelsammlung „Der Edelstein“ des Berner Dominikanermönchs Ulrich Boner belegt gleich zwei erste Plätze: erstes deutschsprachiges Fabelbuch und – 1461 bei Albrecht Pfister in Bamberg erschienen – erstes mit Illustrationen versehenes gedrucktes Buch. Zu welcher Popularität das Werk im Mittelalter gelangte, wird an der breiten Überlieferung (38 Handschriften, davon 3 Einzelhandschriften, 2 Drucke) ersichtlich. Manfred Stange legt dieses Werk, auf Basis der bis heute maßgeblichen Edition Franz Pfeiffers (Leipzig 1844), nun erstmals in vollständiger neuhochdeutscher Übersetzung vor und eröffnet somit einem breiteren Leserkreis die Möglichkeit, das Werk kennenzulernen. Der Abbildungsteil mit 16 sorgfältig ausgewählten illuminierten Seiten aus verschiedenen Handschriften (plus die zwei Illustrationen auf Vorder- und Rückseite des Einbands) vermittelt zudem einen Eindruck von Boners Werk als spätmittelalterliches Lese- und Bilderbuch.

Stange gelingt es in seiner überwiegend zeilengetreuen Prosaübersetzung, den Sinn des Originaltextes genau herauszuarbeiten. Darüber hinaus ist seine Übersetzung auch in sich selbst lesenswert, frisch und vielfach sogar elegant. Damit vereint die Ausgabe die Qualitäten von Studien- und Leseausgabe und dürfte auch für eine nicht im Mittelhochdeutschen bewanderte Leserschaft mit Gewinn zu lesen sein.

Die Übersetzung der mit 100 Fabeln, einem Prolog und einem Epilog durchaus umfangreich zu nennenden Fabelsammlung (6572 Verse) kann durchaus als Mammutleistung betrachtet werden, die Stange mit Bravour und Treffsicherheit löst. An einzelnen Stellen ergeben sich, was beim Übersetzen leider generell schwer ganz zu vermeiden ist, Übersetzungsfehler, ohne dass dies der Gesamtleistung Abbruch tun würde.

Hinsichtlich der Übersetzung zu diskutieren wären beispielsweise folgende Stellen:

dô kam ein tigertier gerant, / dem was der schütze nicht bekant, / daz trôst diu kleinen tierlîn / und sprach“ (Nr. 3, V. 25-28) wird von Stange folgendermaßen übersetzt: „Da kam ein Tiger dahergesprungen, der dem Schützen (bisher) nicht bekannt  war – das tröstete die schwachen Tiere –, und er sagte (zu ihnen)“. Obwohl grammatisch möglich, erscheint die Übersetzung im Kontext sinnwidrig. Gemeint ist, dass der Tiger noch nie mit einem Schützen in Berührung gekommen ist und (in seiner Naivität) die anderen Tiere zu beruhigen versucht.

als bald dô kam er vür die tür“ (Nr. 43, V. 35): Stange übersetzt: „Doch bald kam der Hahn (wieder) an die Tür zurück“. Hiermit wird nicht verdeutlicht, dass der Hahn an dieser Stelle vor („vür“) die Tür tritt, also das Haus verlässt.

Das nur bei Boner belegte Kompositum „ketzerwolfen“ (Nr. 93, V. 48) wird von Stange mit „bösartigen Wölfen“ übersetzt, durch den Wortbestandteil „ketzer“ wird aber deutlich, dass die Wölfe für Häretiker stehen sollen. Die Fabel wäre somit nicht einfach als Anweisung zur rechtschaffenen Lebensführung zu verstehen (so Stange im Kommentar), sondern als Warnung vor Häretikern.

sîn hitz und sîn natûr“ (Nr. 60, V. 29) wird sinnvoll mit „seine Vitalität und seine Funktion“ übersetzt, im Kommentar wäre aber ein Hinweis auf die Humoralpathologie wünschenswert gewesen.

schuolpfaffe“ (Nr. 99, Überschrift) wird von Stange nicht, obwohl in der Worterklärung sogar von ihm selbst angegeben, mit „studierter Geistlicher“, sondern sinnwidrig mit „Schulpfarrer“ übersetzt. Das mittelhochdeutsche Wort „pfaffe“ („Pfarrer, Weltgeistlicher“) wird von Stange in dieser wie auch in anderen Fabeln (unter anderem Nr. 82 und Nr. 94) mit „Pfaffe“ wiedergegeben, obwohl das Wort im Neuhochdeutschen, abweichend vom Mittelhochdeutschen, eine verächtlich-abwertende Bedeutung hat.

Der Kommentarteil bietet Angaben zu Fabeltyp, Quelle, Aufbau und Besonderheiten von Boners Fabeladaption, wiederkehrenden Themen und Motiven, Querverweise zum Abbildungsteil sowie Wort- und Sacherklärungen. Der Kommentar ist überwiegend hilfreich und informativ, wenn auch bei den Wort- und Sacherklärungen vereinzelt etwas zu weitschweifig.

Das Nachwort führt, über eine literaturgeschichtliche Einordnung hinausgehend, in Boners Werk ein, wobei neben quantitativen und qualitativen Auswertungen zu Umfang der Fabeln, Dialog- und Lehranteil, Handlungsorten und -trägern besonders im kurzen thematischen Durchgang durch Boners Werk auch Deutungsperspektiven eröffnet werden.

Die Auswahlbibliographie informiert umfassend über Editionen und Faksimiles, vernachlässigt jedoch vollständig die (im Netz allerdings leicht recherchierbaren) Online-Digitalisate, zum Beispiel: Cod. Pal. germ. 794 (Einzelhandschrift) und Cod. Pal. germ. 314 (Sammelhandschrift) in „Heidelberger historische Bestände digital“ der UB Heidelberg; Bamberger Druck von 1461 in der „Wolfenbütteler Digitalen Bibliothek“; Bamberger Druck von 1462 in den „Digitalisierten Sammlungen“ der Berliner Staatsbibliothek.

Einschlägige Sekundärliteratur wird, mit Ausnahme von zwei neueren Titeln von 2003 und 2005, nur bis 1990 erfasst. Das Register erschließt, ohne dass dies sofort ersichtlich würde, den Kommentarteil und das Nachwort, nicht aber den Textteil. Bezogen auf die tierischen Protagonisten ist es somit nicht möglich, anhand des Registers alle Fabeln aufzufinden, in denen ein bestimmtes Tier vorkommt, wohl aber schnell zur Sacherklärung im Kommentarteil zu gelangen.

In der Hoffnung, dass dieser schön ausgestattete Band in Fach- und Laienkreisen auf die verdiente Resonanz trifft, wäre für eine zweite Auflage ein nochmaliges gründliches Korrektorat zu empfehlen (neben einer Reihe von Flüchtigkeitsfehlern sind insbesondere die uneinheitlichen Anführungszeichen korrigierenswert).

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Kein Bild

Ulrich Boner: Der Edelstein. Eine mittelalterliche Fabelsammlung. Zweisprachige Ausgabe. Mittelhochdeutsch – Neuhochdeutsch. Herausgegeben, übersetzt, mit Anmerkungen, farbigen Abbildungen, einem Nachwort, Literaturverzeichnis, Register, Fabel-Verzeichnis versehen von Manfred Stange.
Verlag Regionalkultur, Basel 2016.
440 Seiten, 34,80 EUR.
ISBN-13: 9783897358973

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch