Rafałs Flucht von irgendwann durch damals bis jetzt und zurück
Marcin Szczygielski erinnert in seinem Jugendbuch „Flügel aus Papier“ an das Getto von Warschau
Von Bozena Badura
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseWas weiß die jüngste Generation noch vom Zweiten Weltkrieg? Vom Hunger und von der Angst um das eigene Leben und das der Familienmitglieder? Wahrscheinlich nicht mehr viel. Dabei ist es für den Lauf der Geschichte und für unsere Zukunft von Bedeutung, die Grausamkeit des Krieges nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.
Wir schreiben das Jahr 1942. Das zwei Jahre zuvor entstandene, 3000 Quadratmeter große Getto, in dem Juden aus Warschau, den umliegenden Städten wie auch anderen Ländern einquartiert werden und wo zeitgleich bis zu 450000 Menschen wohnen, wird verkleinert und in zwei Teile getrennt. Diese bleiben jedoch miteinander durch eine Holzbrücke verbunden, auf der man nicht anhalten darf. Eben in dieser Zeit fängt die Geschichte Rafał Grzywińskis an. Er ist acht Jahre alt und lebt mit seinem Großvater, einem ehemals berühmten Geiger, in einem kleinen Zimmer in dem ‚Warschauer Bezirk‘, wie das Getto von seinen Bewohnern genannt wird. (In der polnischen Originalfassung wird hierfür der neutrale Ausdruck „Stadtteil“ benutzt.) Rafałs Eltern emigrierten schon vor einigen Jahren nach Afrika, um dort ein besseres Leben, frei von Schikanen und Verfolgung für sich selbst und ihren Sohn zu finden. Sein Großvater scheut ebenfalls keine Mühen und organisiert für das Kind einen Schmuggel hinter die Mauer. Doch die Familie, bei der Rafał untergebracht werden sollte, wird kurz vor seiner Ankunft erschossen. Daraufhin beschließt Stella, die Kinderschmugglerin, den Jungen übergangsweise in einem alten Zoo zu verstecken. Er bleibt allerdings nicht lange alleine, denn neben seinem ständigen Begleiter, dem Roman Zeitmaschine von H.G. Wells, findet er bald auch echte Freunde, die ihm beibringen, wie man überlebt.
Szczygielskis Roman beinhaltet alle drei der von Wolfgang Herrndorf erfassten Elemente eines Jugendromans: das schnelle Verschwinden erwachsener Bezugspersonen, eine große Reise, hier Rafałs Flucht in die „Morlocken“-Welt, sowie „großes Wasser“, hier die Weichsel, der Rettungsweg des Jungen. Das magische Elixier (respektive der Gegenstand), das der Protagonist in Jugendbüchern oft auf seiner Reise geschenkt bekommt, ist bei Szczygielski ein Buch. Ungewöhnlich deutlich ist das Erwachsenwerden Rafałs zu beobachten, denn in den Kriegszeiten werden aus Kindern schnell achtjährige Erwachsene. Bis auf eine Stelle hat der Autor Marcin Szczygielski auf die Verwendung von Jugendsprache verzichtet, die lediglich dazu eingesetzt wird, einen Epochenwechsel zu markieren. Leider erscheint diese Stelle, die Ausdrucksweise von Aśka, dem Mädchen aus der Zukunft/Gegenwart, leicht aufgesetzt: „Du hättest dein Gesicht sehen müssen! Alter! Ich lach mir ʼnen Ast!“ oder „Du hast wohl ordentlich Kohldampf, was?“
Auf Polnisch wurde das Buch unter dem Titel Arka czasu veröffentlicht, was die „Arche der Zeit“ bzw. die „Zeit-Arche“ bedeutet. Damit wird bereits im Titel die im Buch konstruierte Beziehung zwischen Damals und Heute vorweggenommen. Außerdem lässt sich das Buch selber als eine solche Arche lesen, welche die Erinnerungen an das Früher für die nachfolgenden Generationen rettet. Flügel aus Papier ist ein wertvolles Buch, das bereits mehrere Auszeichnungen vorzuweisen hat, darunter den Astrid-Lindgren-Preis, die Ernennung zum Buch des Jahres der polnischen Sektion des Internationalen Kuratoriums für das Jugendbuch sowie die Aufnahme in den White Ravens Katalog durch die Internationale Jugendbibliothek. Übersetzt wurde das Buch von Thomas Weiler, dem Leipziger Übersetzer für russische, polnische und belarussische Literatur.
Durch eine gelungene Verbindung der historischen Elemente und Fantasy-Motive wie Rafałs Zeitreise in das Jahr 2013 erscheint das Buch sowohl für ältere Grundschulkinder als auch für Jugendliche interessant. Der Roman beinhaltet zudem einige eindrucksvolle Sprachbilder. Ein Beispiel hierfür ist die Szene, in welcher der ständig hungernde Rafał dank der Zeitmaschine kurzzeitig das 21. Jahrhundert besucht und ein Brot rettet, das von einigen satten Kindern als Ball benutzt wird. Dabei ist „das Brot […] nicht einmal besonders hart, es ist auch nicht verschimmelt“. Das mutmaßlich intendierte Ziel, dem Leser vor Augen zu führen, wie wenig die gegenwärtige Generation ihren Wohlstand zu schätzen weiß, wird erreicht.
Doch einer der wichtigen Vorzüge dieses Romans ist die persistente Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust, die durch die ständige Angst des Protagonisten, gefangen zu werden, mehr spür- als sichtbar gemacht wird. Dass die Gegenwart solche Publikationen dringend benötigt, steht außer Frage. Das Warschauer Getto existiert heute nicht mehr; es wurde während des Krieges restlos zerbombt. Aus diesem Grund ist die Erinnerungsarbeit, die das Buch bietet, von besonderer Bedeutung. Denn
[d]ie Zukunft ergibt sich aus der Vergangenheit. Wenn man sich an das Vergangene erinnert, an Gutes wie an Schlechtes, kann man die Zukunft so gestalten, dass sie besser ist als die Vergangenheit. […] Die Erinnerung ermöglicht es uns, bereits begangene Fehler nicht noch einmal zu machen und fortzuführen, was gelungen war. […] Kinder und Erwachsene werden sich noch jahrelang nicht erinnern wollen, dass auf der Welt so furcht bare Dinge geschehen sind wie in deiner Zeit, weil diese Erinnerung so schmerzhaft ist. Aber nur die Erinnerung und das Wissen darum machen es ihnen möglich, eine bessere und glücklichere Zukunft zu gestalten.
Zuletzt gilt es, einen Blick auf das Buchcover zu werfen. Im Vordergrund steht Rafał, hinter ihm die bereits erwähnte Holzbrücke, die das kleine und das große Getto miteinander verband. Das Cover wurde von der polnischen Originalfassung fast vollständig übernommen. Doch während der polnische Rafał von seinen besten Freunden umgeben ist, sind diese in der deutschen Version verschwunden. Aus nicht näher bekannten Gründen waren die Verleger der Meinung, dass sich ein Buch, das auf dem Cover einen alleingelassenen Jungen zeigt, besser verkauft, als eines, auf dem seine Freunde zu sehen sind. Es stellt sich die Frage, ob das etwas über die deutschen VerlegerInnen oder die deutschen LeserInnen aussagt.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen