Naturdiskurs und Literaturtheorie
Benjamin Bühler wagt einen germanistischen Überblick über „ecocriticism“
Von Juliane Prade-Weiss
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDem Band Ecocriticism. Grundlagen – Theorien – Interpretationen geht es um nichts weniger als einen grundlegenden „Beitrag zur Implementierung des Ecocriticism in der Germanistik“. Während die 2015 von Gabriele Dürbeck und Urte Stubbe vorgelegte erste deutschsprachige Einführung zum Thema als Sammelband zentrale Fragen, Diskussionen und literarische Formen schlaglichtartig beleuchtet, ist Bühlers Band als umfangreiches Kompendium organisiert. Es soll einen Überblick geben über die angloamerikanische Geschichte, die konzeptionelle Breite des Forschungsfeldes präsentieren, einen Abriss der Geschichte des Naturdenkens in der deutschsprachigen Literatur liefern sowie – und das ist der Einleitung zufolge die Hauptabsicht des Bandes – eine Übersicht über Ausarbeitungen des ecocriticism zur genuin literaturwissenschaftlichen Theorie im Sinn einer kulturwissenschaftlichen Reorganisation der Germanistik bieten. Das ist sehr viel für 192 Seiten Text, gelingt jedoch zunächst. Die Geschichte ökologischen Denkens sowie die durchaus heterogenen, meist an Natur- und Sozialwissenschaften orientierten theoretischen Ausrichtungen des Diskurses werden ebenso knapp wie informativ dargestellt und zueinander in Bezug gesetzt. Dabei gelingt der Einführung das alles andere als leichte Unterfangen, triftig zu erläutern, dass ecocriticism ein Feld ist, dessen Relevanz einerseits auf der Hand liegt, dessen Gegenstand aber gleichwohl enorm schwankt – je nachdem, ob von Umwelt, Ökologie oder Natur die Rede ist, und dass es genau deshalb einer theoretischen Begründung nicht weniger bedarf als andere Forschungsbereiche. Neben den konzeptionellen Divergenzen treten disziplinäre Unterschiede und interdisziplinäre Übersetzungsschwierigkeiten zu Recht in den Hintergrund.
Auch der zweite Abschnitt, ein dezidiert germanistischer Überblick über die Imagination der Natur in der neueren Literatur von Opitz bis ins zwanzigste Jahrhundert, ist in aller Kürze gelungen und stellt die theologischen Wurzeln ebenso dar wie die Rolle des Naturdiskurses in der Aufklärung, der Romantik und im Technik-Denken der Moderne. Hier gelingt besonders, was der Band stets betont: In der Literatur weit mehr als in der Philosophie wird in der Neuzeit maßgeblich dasjenige formuliert, was auch in anderen Wissensbereichen ,Natur‘ und ,Naturerleben‘ heißt. Darum ist die Literaturwissenschaft kein Anhängsel des ecocriticism und dieser nicht bloß ein weiterer ‚letzter Schrei‛ in den Geisteswissenschaften; vielmehr sind Naturdenken und Literatur engstens aneinander gebunden. Für Bühler ist dieser Konnex nicht allein ein Argument für ecocriticism in der Germanistik, sondern weitergehend ein Argument für die Relevanz der Literaturwissenschaften im Fächerkanon.
In dieser Insistenz auf die Relevanz des Faches liegt jedoch eine Schwierigkeit des Bandes, die sich im dritten Teil deutlich zeigt: Einerseits betont Bühler nachdrücklich, ecocriticism habe sich nicht aus moralischen, sondern aus genuin literaturtheoretischen Gründen als Feld der Germanistik zu bewähren und sei dafür bestens geeignet, da er grundlegende literaturtheoretische Fragen aufwerfe, etwa jene nach dem Verhältnis von Realität und Fiktion, Literatur und Naturwissenschaft oder der Rezeption literarischer Texte und Imaginationen. Andererseits räumt der Band zu Recht immer wieder ein, ecocriticism sei keine Theorie oder Methode, sondern ein heterogenes Gegenstandsfeld von menschlichen wie nichtmenschlichen Phänomenen und Praxen, in dessen Erforschung nicht allein Interdisziplinarität, sondern innerhalb der Geisteswissenschaften „methodische Vielfalt, fast schon Beliebigkeit“ herrsche. Angesichts des Anspruchs, mit dem Band entscheidend zur Etablierung eines germanistischen ecocriticism beizutragen, wäre nun zu erwarten, die immer wieder unterstrichene, genuin literaturwissenschaftliche Theoriebildung würde im dritten Teil geleistet oder mindestens skizziert. Stattdessen steht unter der Überschrift „Kulturwissenschaftliche Perspektiven“ ein enorm heterogener Abriss kulturwissenschaftlicher Theorien, Problemfelder, literarischer Gattungen, Sujets und historischer Einschnitte, die zweifelsohne alle im Bezug zum ecocriticism stehen. Doch Bühler will auch hier einen Überblick geben, ohne seinerseits einen Standpunkt zu beziehen. Das ist in der Optik wie in der Logik unmöglich. Spätestens hier wäre eine basale Verständigung über den Begriff der Kritik (beziehungsweise des criticism) nötig. Bühler aber beschränkt sich auf die Versicherung, der Poststrukturalismus sei überwunden, und schreibt, am gegenständlich begründeten ecocriticism zeige sich „exemplarisch, dass sich die Literatur- und Kulturwissenschaften keineswegs in einer Krise befinden, sondern sie vielmehr angesichts aktueller Herausforderungen an Bedeutung gewinnen (könnten oder sollten).“ Zur Theoriebildung braucht es mehr Entschlossenheit.
Und es braucht auch in der Darstellung eines Forschungsüberblicks einen Standpunkt, um konventionelle Auffassungen und geläufiges Vokabular anhand der referierten Theorien einer Kritik zu unterziehen. Das unterbleibt in der Einführung, darum spricht sie etwa über „Indianer in Kalifornien“ und andernorts. Von einem Band, der sich die Übersetzung interdisziplinärer anglo-amerikanischer Begriffs- und Theorieformung in die Germanistik ebenso vornimmt wie die theoretische Implementierung eines Forschungsfeldes, wäre, wenn schon kein Endonym, so doch wenigstens eine zeitgemäße Terminologie zu erwarten gewesen. Die Stelle ist mehr als ein Detail, das an Karl Mays Naturbilder gemahnt; sie liegt vielmehr strukturell genau am Ansatzpunkt der Literaturwissenschaften, an dem sozial- und naturwissenschaftlich fundierten Diskurs des ecocriticism: Der Umgang mit der so genannten Natur wird von ihrer sprachlichen Erfassung bestimmt, die sich um die Form, das Leben und die Selbstbestimmung des Benannten oft wenig kümmert – so dass sie etwa zur bloßen ,Umwelt‘ des ergo im Mittelpunkt stehenden Menschen wird, die Pluralität der Lebewesen ebenso singularisch wie abstrakt zu ,dem Tier‘, oder anders als westliche (Konsum-)Gesellschaften organisierte Kulturen zu ,Naturvölkern‘ werden. Der ecocriticism ist durchaus verbunden mit der aktuell vieldiskutierten Frage, was oder welche die Welt der Weltliteratur ist. Darum braucht der ecocriticism auch in der Germanistik einen nicht allein interdisziplinären Blick, der in der stetigen Betonung seines Innovationspotentials auf den Rechtfertigungsdruck in der nationalen Forschungs- und Förderungslandschaft schielt, sondern einen ebenso internationalen Blick. Er ist der deutschen Literaturgeschichte der Natur angemessener, weil die Diskurse der Aufklärung und der Romantik stets auch Übersetzungen aus dem Französischen, Englischen, Italienischen etc. umfassen, und er ist der einzige der Dringlichkeit gegenwärtiger Probleme von Klimawandel und Umweltzerstörung angemessene.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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