Erkennen, was die Forschungswelt des 21. Jahrhunderts im Innersten zusammenhält

Thea Dorns Roman „Die Unglückseligen“ hinterfragt eine fortentwickelte faustische Hybris

Von Raphaela BraunRSS-Newsfeed neuer Artikel von Raphaela Braun

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Thea Dorns neuester Roman Die Unglückseligen ist in den großen Feuilletons in aller Munde gewesen, die Autorin wird überall interviewt und für ihr Werk hoch gelobt. Die Ursache für die hohe Aufmerksamkeit, die Autorin und Roman derzeit erhalten, liegt nicht nur in der ohnehin großen öffentlichen Bekanntheit Thea Dorns und ihrer Experimentierfreude, sondern auch darin, dass der Roman eine originelle Idee verfolgt, die außerordentlich gut an die Diskussionen der Zeit sowie ihre Leerstellen anknüpft und sich nebenbei eines der bekanntesten deutschen Literaturstoffe bedient: des goetheschen Fauststoffs. Dass sich Dorn diesem Stoff annähert, verwundert insofern nicht, als sie ja mit dem kulturgeschichtlichen Nachschlagewerk „Die deutsche Seele“ (zusammen mit Richard Wagner, 2011) bereits eine Affinität zu den kulturellen Themen bewiesen hat, die gern als Urgrund einer deutschen Identität gesehen werden. Das Faustthema muss ohne Zweifel zu diesem Komplex hinzugerechnet werden. Anders als bei einem solchen Versuch anzunehmen, verkommt Dorns Roman aber glücklicherweise nicht zu einem faden Abklatsch auf das „Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust“ in Johann Wolfgang von Goethes Faust I, mit dem man oft die deutsche Befindlichkeit zu fassen suchte. Dorn gelingt vielmehr eine überzeugende Verbindung faustischen Erkenntnisstrebens, wie man sie sich aufgrund der Faustdramen Goethes und vor dem Hintergrund eines unbedingten aufklärerischen Willens zur Durchdringung dessen, „was die Welt im Innersten zusammenhält“, vorstellen kann, und der gottlosen, kalten Hybris einer Genforschung und eines wissenschaftlich unterstützten biologischen Optimierungswahns des 21. Jahrhunderts.

Dorns Roman lässt den Physiker Johann Wilhelm Ritter, der zu Beginn des 19. Jahrhunderts für seine außerordentlich radikalen Experimente mit Elektrizität, in der er ein göttliches Grundprinzip der Welt zu erkennen glaubte, bekannt war und die er auch ohne Rücksicht auf dabei bestehende tödliche Gefahren an sich und anderen Lebewesen ausprobierte, nicht etwa wiederauferstehen, sondern einfach bis ins 21. Jahrhundert weiterleben. Der Wissenschaftler hat die Jahrhunderte überdauert, verfügt über erstaunliche, ihm selbst und anderen vollkommen unerklärliche physische Regenerationskräfte – so können ihm ganze Gliedmaßen nachwachsen, Verwundungen heilen außerordentlich schnell und er zeigt nur wenige äußerliche Alterungsspuren wie etwa Falten oder graues Haar – und lebt leicht verwahrlost in einer ganz eigenen Form der „Waldeinsamkeit“ in den nordamerikanischen Wäldern der Ostküste. Seine Zurückgezogenheit hat eine genaue Auseinandersetzung mit der Fortentwicklung von Forschung und Gesellschaft ebenso verhindert wie sie sein Weltbild konserviert hat, das Dorn offensichtlich gut und genau recherchiert hat und in den Text überaus authentisch einbaut.

Im Versuch, sein eigenes, ihn verstörendes Schicksal zu begreifen, hinterfragt Ritter sein ursprüngliches unbedingtes Streben nach der wissenschaftlichen Erkenntnis dessen, was eine göttliche Instanz als Prinzip der gesamten Schöpfung eingesetzt hat. In diesem Kontext begreift er seine in seinem Weltbild unnatürliche, ja widernatürliche Regenerations- und Überlebensfähigkeit als Folge eines womöglich unbewusst durch seine Forschung eingegangenen Teufelspaktes, ja als gottabgewandte Hybris. Der Roman zeigt Ritter insofern als eine ehemals faustische Gestalt, die durch ihren feststehenden Verdammnis-, aber auch Erlösungsglauben das eigene Erkenntnisstreben als Sünde begreift und rückgängig zu machen versucht. Zu diesem Zweck hat sich Ritter durch die Jahrhunderte zunächst mit der Suche nach dem Leibhaftigen befasst. Angedeutet wird dies in der im deutschen Gegenwartsroman mit Anspruch unvermeidlichen, hier aber tatsächlich (im Sinne des 18. Jahrhunderts) witzigen Anspielung auf Ritters Suche nach dem Teufel, den er in Gestalt Adolf Hitlers (vergeblich) zu finden versuchte.

Es leuchtet an dieser Stelle des Romans allerdings wenig ein, weshalb der zwar exzentrische, doch auch reflektierende Wissenschaftler keinerlei Lernprozess, keinerlei Entwicklung erlebt, weshalb sich ihm nicht nur die Gesellschaft des 21. Jahrhunderts mit ihren Alltagsgegenständen als exotische, ja beängstigende Umgebung präsentiert, die er unter christlich-abergläubischen Vorzeichen entsetzt oder verächtlich interpretiert. Nein, es fehlt ihm ebenso die eigentlich folgerichtige Erkenntnis: Wenn doch der so sehr als Teufel verschriene nationalsozialistische Paradeverbrecher des 20. Jahrhunderts eben nicht der Pferdefüßige, sondern ein höchst bösartiger Mensch ist, muss das Menschsein eben auch das „Bösesein“ miteinschließen, und das ganz unabhängig von einer übermenschlichen Macht. Das aber würde auch das möglicherweise Vergebliche einer Teufelssuche bedeuten. Dieser naheliegende Gedanke kommt Ritter nicht. Er bleibt in seiner gesamten Figurenanlage konserviert und scheint daher eher der Experimentierfreude Dorns zu entspringen als dem Wunsch, eine sich entwickelnde Persönlichkeit darzustellen.

Diese eindimensionale Kennzeichnung Ritters ist in ihrer Statik allerdings lustvoll, unterhaltsam und bis ins Detail ausgeführt. Dorn gelingt etwa die Gestaltung einer äußerst verfeinerten, teils rhythmisierten oder gar gebundenen Sprechweise des langlebigen Wissenschaftlers. Es fragt sich zwar, wie überzeugend es sein kann, dass dieser nicht nur in Versen spricht, sondern auch denkt, und an einigen Stellen wirken Worte wie die „Unze“, ein Gewichtmaß, in der Verwendung für die Messung des Blutvolumens etwas deplatziert – als Marker der Fremdheit Ritters in der Welt des 21. Jahrhunderts und auch zur Unterhaltung des im Lesen der Texte des 18. und 19. Jahrhunderts geschulten Auges funktioniert das Konzept jedoch allemal. Wirklich reizvoll und wichtig an dieser kontrastiven Wirkung ist hingegen, wie auffällig durch sie erst die Folgerichtigkeit der Entwicklung der ursprünglichen wissenschaftlichen Bestrebungen Ritters in seiner eigenen Forschung bis hin zur Position der kaltblütigen, von der Idee der Optimierung des Menschen besessenen Genetikerin Johanna Mawet wird.

Sie, der Ritter per Zufall begegnet, ist beides: Antagonistin und gerade in diesem Antagonismus die Spiegelung der Konsequenz eines nicht mehr gottgeleiteten oder zumindest moralisch geleiteten, rein anthropozentrischen und transanthropozentrischen, kaltblütigen Forscherdranges. Ritter wirft sich selbst anklagend vor, den (in seiner Sichtweise insgeheim auch geglückten) Versuch unternommen zu haben, dem göttlichen Schöpfer ins Handwerk geblickt und damit womöglich auch gepfuscht zu haben. Damit glaubt er die gebotene Demut vor der schöpferischen Überlegenheit respektlos und wie in einem promethischen Sündenfall mit Füßen getreten zu haben. So sehr seine Forschungserkenntnisse ihn im wahrsten Sinne des Wortes elektrifizieren, so sehr spaltet ihn die Befürchtung, sich damit schuldig gemacht zu haben und nun die Strafe dafür zu bekommen.

Aber ebendies ist, wie die Geschichte lehrt und der Roman auch konsequent zeigt, der Preis der Aufklärung: Wo der Mensch sich selbst zum unbedingten und unabhängigen Instrument jeder Erkenntnis macht, liegen die Grenzen des Erkenntnisstrebens nur noch innerhalb des Menschen, seiner Vorstellungskraft und seiner Fähigkeiten. Religiöse, ethische oder andere Begrenzungen, Demut vor einer den Menschen in seiner Perfektion übersteigenden Vollkommenheit gehen verloren. Im Gegenteil: Die Schöpfung wird als ein Zufallsprodukt verstanden, dessen Defizite es mit menschlichen Mitteln zu optimieren gilt. Die Repräsentantin dieser Position ist nun die in Anlehnung an Goethe mit dem Vornamen Johanna ausgestattete Genetikerin, die von der Überwindung der letzten physischen Begrenzung des Menschen träumt: Sie forscht nach nichts weniger als nach der Unsterblichkeit und glaubt, den genetischen Schlüssel dazu geradewegs im eidechsenartig regenerativen Ritter zu finden. In der abwechselnd gestalteten Innensicht von Mawet und Ritter zeigt sich rasch die Unvereinbarkeit ihrer Positionen, aber auch die größte Stärke des Romans. Es entwickeln sich reizvolle Konstellationen, die die wissenschaftsmoralischen Überlegungen des 18. und 19. Jahrhunderts, durch die Ritter geprägt ist, in einen direkten Dialog mit den technischen Instrumenten und Verfahren der Wissenschaft des 21. Jahrhunderts bringen. So fragt sich Ritter, als er durch ein absolut perfekt ausgestattetes Genlabor geführt wird, zum Beispiel, wie jemand den Anspruch einer vollumfänglichen Erkenntnis der Schöpfung anstreben kann, wenn er dabei aber seinen Blick stets nur auf die kleinsten Elemente des Lebens richtet. Wenn dem menschlichen Auge und Denken so sehr misstraut wird, dass Maschinen wie das Mikroskop und der Computer zum Einsatz kommen müssen, die die sie bedienenden Wissenschaftler in ihrer Funktionsweise im Einzelnen selbst gar nicht mehr verstehen, wie kann dann eine vollumfängliche Erkenntnis des großen Ganzen angestrebt werden? Anders als Mawet erkennt Ritter in solchen Momenten auch in der fortschrittlichsten Wissenschaft noch die Begrenztheit menschlicher Erkenntnis, auch jenseits einer demütigen Limitierung durch einen Gott oder ethische Prinzipien. Vielmehr: Er erkennt in aller Deutlichkeit ihr Fehlen in der Wissenschaftswelt Mawets. Der Roman weiß auf diese Weise heutige Wissenschaftsdebatten und eine ihnen innewohnende kleinteilige und wertelose Verfahrensweise zu demaskieren. Er stößt die Frage an, was letztlich der Mensch nicht nur vermag, sondern eben auch, wo die Grenzen seines Vermögens liegen und womöglich auch liegen sollten. Diese Gedankenanstöße machen den Roman originell und lesenswert, weil so mit erzählerischer Leichtigkeit und Lust an der Sprache große Fragen der heutigen Gesellschaft angestoßen und in ein anderes Licht gerückt werden.

Die Instanz, die letztlich die Aufklärung und ihren unbedingten Glauben in die Erkenntnisfähigkeit des Menschen im Roman vertritt, ist aber am Ende weniger Johanna Mawet, die sich in ihrer Weigerung, die eigene menschliche Erkenntnisgrenze zu akzeptieren, nicht aus Überzeugung, sondern aus Besessenheit und Verzweiflung über das eigene Nicht-Verstehen, doch abergläubischen Ritualen und übersinnlichen Praktiken überantwortet. Vielmehr entpuppt sich die überall präsente und ominöse kommentierende Erzählerstimme, in der sich eine mephistophelische Instanz vermuten lässt, als der eigentliche Anhänger des aufgeklärten freien menschlichen Willens. Die Stimme aus dem Off, die Mawet und ihre wissensdurstigen Bestrebungen gern sieht, die Schuldfragen Ritters hingegen als lächerlich abstempelt – sie würde gern die Handlung leiten, geriert sich als beinahe allwissend und stellt die Entgrenzung des Menschen durch seinen eigenen Willen und seine eigenen Fähigkeiten, so wie auch sein damit einhergehendes Verlangen nach der Abkehr von moralisch oder religiös steuernden und deshalb Abhängigkeit darstellenden Fragen als erstrebenwerte Befreiung dar.

Doch auch diese Stimme genießt im Roman keine Deutungshoheit in den Fragen nach wissenschaftlicher Erkenntnis, zu sehr zeigt sich das Unvermögen der Mephisto-Figur, die Handlung tatsächlich zu beeinflussen, vorherzusehen oder überhaupt in sie einzugreifen. Für den Leser stellenweise verwirrend und erzähltechnisch durchaus anarchistisch, fallen immer wieder Elemente in die Handlung ein, die in ihrer spielerischen Fremdartigkeit den Textfluss unterbrechen und wie theatrale Verfremdungseffekte wirken, immer wieder daran erinnernd, dass Erzählung und Leben auch einfach geschehen können. Als Beispiel ließe sich hier die eingeschobene Comicillustration aus Perspektive eines Hirsches beim Überfahrenwerden nennen, der tatsächlich als Bühnenszene gestaltete, ins Absurd-Komische weisende Immortalistenkongress oder auch die niedliche kleine Eule, die das abergläubische Ritual Mawets verständnislos als Beobachterin kommentiert und das Geschehen tatsächlich als kleine Zeichnung auf den entsprechenden Buchseiten überfliegt. Diese Elemente erinnern immer wieder daran, auf welchem Terrain die großen gesellschaftlichen Fragen hier in die Literatur- und Geistesgeschichte eingepasst werden, daran, mit welchen Mitteln hier ein Tableau der Positionen entworfen wird, ohne allerdings eine zukunftsweisende Antwort zu finden: die Fiktion. In diesem Fall eine, die Lust am Spiel, große Belesenheit und Sinn für sprachlich-feine Entfaltung zeigt. Schade, dass Dorn ganz am Ende dann die kraftvolle Inspiration verlässt und der Romanschluss in banalem Kitsch endet, als habe sich die Autorin an Einfällen verausgabt und das vielleicht an einigen Stellen doch zu bunt geratene Kaleidoskop der Erzählung letztlich nicht mehr zusammenführen können. So bleibt zu konstatieren: Der Roman selbst ist ein erzählerisches Experiment, dessen Ausgang jedoch besser genauso im Nebulösen geblieben wäre, wie es die Antwort auf die in ihm gestellten gesellschaftsphilosophischen Fragen ist. Deren Aufwerfen und Beleuchten verdankt der Roman dennoch seine große Überzeugungskraft.

Titelbild

Thea Dorn: Die Unglückseligen. Roman.
Knaus Verlag, München 2016.
557 Seiten, 24,99 EUR.
ISBN-13: 9783813505986

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch