Ins Nichts gestürzt

Sven Hillenkamps Gegenwartsdiagnose „Negative Moderne“ ergründet die Schattenseiten gesellschaftlicher Freiheitsstrukturen

Von Anna-Verena NosthoffRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anna-Verena Nosthoff und Felix MaschewskiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Felix Maschewski

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In Zeiten eines vielfach proklamierten end of theory wagt Sven Hillenkamps sozialphilosophische Analyse über die Negative Moderne zwar keinen grundlegend neuen Theorieentwurf, präsentiert sich jedoch im Gewand einer umfassenden Narration. Der Autor erzählt im zweiten Teil seiner auf vier Bände angelegten Untersuchung Zwänge der Freiheit. Die neuen Formen der Faktizität die breit angelegte Geschichte von einem Sturz in das Wert- und Bodenlose eines fundamentalen Nichts: Statt die Moderne als Zeitalter des Möglichen zu beschreiben, forciert der Autor die Problemanalyse einer umfassenden „Leere“, die sich ihm im Kontext des anything goes als dunkle Schattenseite und verfemtes Moment darstellt. Hillenkamps Fokus liegt dabei auf der umfassenden Rekonstruktion eines subjektiven Erfahrungsfeldes, das das Individuum angesichts der allgegenwärtigen Produktivitätspotentiale als sich selbst negativ erfahrendes ,Mängelwesen‘ akzentuiert: „Ich bin nichts wert. Ich habe noch nichts erreicht. Ich bin Niemand. Ich bin nicht interessant, nicht attraktiv, nicht liebenswert. […] Ich verstehe nicht, was mir geschieht.“ In diesem Konnex hypostasiert der Verfasser den „Sturz ins Nichts“ im Sinne eines „ursprünglichen Ganzen“, eines Konglomerats negativer Erfahrungsdimensionen, das sich als Summe diverser Stürze – etwa in die Negativität des Wertes, der Zeit, der Aktivität, des Möglichseins, des Anderen – präsentiert. Das zeitgenössische Individuum sei von Abgründen umstellt, bewege sich auf slippery slopes, drohe unaufhörlich hinabzusinken in die erratischen Abgründe des Seins. Negative Moderne erzählt somit keine Fortschrittsgeschichte, sondern umreißt ,Fallbeschreibungen‘ einer bodenlos-brüchigen Gegenwart, in der die Leitfäden heilsgeschichtlicher Teleologien unlängst durchtrennt und verlässliche Wertfundamente unmöglich scheinen.

Doch offeriert die Rede von einem unaufhörlichen ,Gestürze‘ tatsächlich eine neue Beschreibung des modernen Erfahrungshorizontes? Schon mit Nietzsche etwa lässt sich der Seinsmodus ähnlich befragen: „Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten?“ Ist Hillenkamps Grunderfahrung des „Ich stürze ins Nichts“ also vielleicht höchstens eine Ergänzung? Weiter ließe sich konstatieren, dass die Negativität – entgegen der einleitenden These des Autors – eine so vernachlässigte Größe innerhalb der Theoriebildung des 20. und 21. Jahrhunderts gar nicht ist, blickt man etwa mit Theodor W. Adorno, Jean Améry oder Emmanuel Lévinas auf die Hillenkampschen (Negativ-)Pointierungen der modernen „Wertlosigkeit, Strukturlosigkeit, Unfähigkeit, Möglichkeit, Bezuglosigkeit“. Wenngleich die Ideen des Autors also nicht zwangsläufig neu scheinen, so sind sie immerhin in der Nachdrücklichkeit ihrer Beschreibung durchaus notwendig, benennt der subjektive, negative Blick des Sozialphilosophen auf das herrschende „Gesetz der Steigerung“ doch energisch die Fallstricke, in denen sich das heutige Prekariat immer wieder und immer weiter verfängt.

Hierbei gelingt es dem Autor, neue Perspektivierungen auf gegenwärtig prominente Sozialtheorien zu konstruieren, deren gängigste Narrative drastisch verschoben werden. Unerwartet antipodische Konstellationen entstehen etwa dadurch, dass die Theorie der „sozialen Beschleunigung“ (Hartmut Rosa) um eine negative Erfahrungsdimension erweitert wird. Das Erfahren der Beschleunigung sei nämlich weniger dasjenige eines akzelerationistischen Immer-Schneller, sondern bestimme sich vielmehr in der unausweichlichen Konfrontation mit einer allseits „drückenden“, lähmenden – anstatt einer sich überschlagenden – Zeit. Ähnliche Kontrastierungen ergeben sich, wenn der Autor klassischen Individualisierungskonzeptionen eine zunehmende „Abhängigkeit vom Anderen“ entgegengestellt. Derlei unorthodoxe Beleuchtunsgwechsel auf die ,negativen‘ Schattenseiten der Moderne sind größtenteils fruchtbar, insbesondere weil sie mit einem sehr persönlichen, phänomenologisch geschulten Blick, einer subjektiven Erfahrungsdimension, angereichert werden. Die Beobachtungen des Autors sind so nicht nur für die Leserin oder den Leser, sondern auch für gängige Methoden der Theoriebildung bereichernd. Denn anstatt vermeintlich objektiv auf empirische Daten zurückzugreifen, um auf dieser Basis ein übergeordnetes Begreifen zu affimieren, ergänzt der Autor seine Diagnosen durch die sensible, poetische Wahrnehmung von Sprache, Verhalten, Bewegung und Emotion – des Nichtmessbaren, Momenthaften, Nichtabbildbaren, Nichtprogrammierbaren – und macht damit die Kontingenz der Erfahrungswelten jenseits der kalten Analyse anschaulich.

Ungeachtet dessen bleibt teilweise fraglich, warum philosophische Begriffe und auch ethische Dimensionierungen für eine Beschreibung der korrumpierten Relation zum Anderen im Sinne einer „Abhängigkeit vom Du“ ,verwertet‘ werden. Alternativ hätte etwa eine Ethik des Anderen gegen den neoliberalen Imperativ zur Perfektionierung beziehungsweise das allgemeine „Diktat zur Interkonnektivität“ (Dieter Mersch) fruchtbar gemacht werden können – und das insbesondere vor dem Hintergrund des Verschwindens beziehungsweise der – wie Hillenkamp selbst schreibt – „Absenz“ des Anderen (wie es etwa Zygmunt Bauman in seiner Postmodernen Ethik unter Rückgriff auf Lévinas tut). Weiterhin ist mehr als zweifelhaft, ob sich der Lévinassche Andere oder auch Bubers ,Ich-Du-Beziehung‘ überhaupt ohne weiteres in die sozialen Sphären übersetzen lassen, und somit als Diagnoseinstrument der gegenwärtigen Fokussierung auf das Außen tragfähig sind, geht man von den Ethikkonzeptionen der jeweiligen Referenzautoren aus, ohne ihnen Gewalt anzutun. Lévinas etwa spricht sich explizit gegen eine vorschnelle Kategorisierung aus: Bewusst trifft seine Ethik das Nichtphänomenalisierbare, das Unverfügbare, gänzlich Andere.

Weiterhin wäre kritisch anzumerken, dass es durch die oben angesprochene Konzentration auf die Rekonstruktion der Erfahrung eines „Sturzes ins Nichts“ mitunter zu einer Homogenisierung individueller Erfahrungswelten kommt. Wiederholt abstrahiert der Autor von tatsächlich partikularen Erfahrungen hin zu einem abstrakten ,Man‘ und präsentiert die entsprechenden alltäglichen „Worthülsen“ im Gewand des Geredes. Wenn auch die tendenzielle Platitüdenhaftigkeit dieser Aussagen Kernsätze superkapitalistischer Sprachspiele treffen mag, steht sie doch in einem unnötigen Kontrast zur vielschichtigen Schilderung der Grunderfahrung des Nichts, die das Buch sonst vortrefflich und durchaus nachvollziehbar auszeichnet; sie laufen geradezu Gefahr, Erfahrungen einer vielseits begklagten, vergleichsweise oberflächlichen „inneren Leere“ zu beschreiben, von welcher der Autor sich im Vorwort abzugrenzen sucht. Ähnlich ist etwa die Verarbeitung literarischer Beispiele zur Illustration oder auch abgrenzenden Spezifikation des Nichts zu bewerten: So werden Herman Melville, Jean-Paul Sartre oder Georges Perec vorschnell unter dem Label „Existenzialismus“ subsumiert – eine Genrebeschreibung, von der sich Hillenkamp selbst etwas zu gewollt abzugrenzen sucht –, wobei die angeführten Autoren ihrerseits doch gänzlich unterschiedliche Formen und Facetten der Konfrontation mit dem Nichts illustrieren. Passagen wie jene über Samuel Beckett, in der Hillenkamp erklärt, dass der Mensch in der Negativen Moderne “kein Godot-Problem, sondern das Problem einer umfassenden Godotlosigkeit [hat]. Es gibt keinen Anderen. Nichts machte weniger Sinn als Warten”, erscheinen – und dies gemahnt durchaus an das thetisch-parataktische Argumentieren eines Byung-Chul Han – zwar wunderbar konfrontativ. Doch in Hinblick auf die Vielschichtigkeit des Beckettschen Werkes und die hier zu differenzierenden Topoi des Nichts (es ließe sich über Godot hinaus auf den Namenlosen und das Endspiel verweisen) wirken solche Pointen etwas ärgerlich, reduktiv und verfälschend.

Eine weitere Problematik in der Analyse offenbart sich bezüglich ihres bewussten Verzichts auf Diskurse des Ökonomischen, des Technischen oder des Politischen: „Sag nicht Konsum. Sag nicht Kapitalismus. Sag nicht Internet usw.“ Denn auch, wenn man sich bewusst von einem materialistischen Determinismus abzugrenzen sucht, um das eigene, partikulare Erfahren nicht mit fremden, vermeintlich zu abstrakten Kritiken zu kontaminieren, sollte eine Diagnose der Moderne vielleicht nicht gänzlich auf die Spezifika gesellschaftswirksamer Dynamiken der Real- oder Finanzwirtschaft, der Mechanismen eines annoncierten Technologisch-Werdens im Kontext der „stillen Revolution“ des Digitalen oder der Praktiken gegenwärtiger, postdemokratischer Verwerfungen verzichten. Schließlich haben diese mittel- beziehungsweise unmittelbar einen flagranten Einfluss auf die Grunderfahrungen der „Negativität“. Der klassisch-phänomenologische Fokus auf das Selbst beziehungsweise Ich trägt dessen Habitat, und das heißt hier auch den Bedingungen seines Erfahrungshaushalts, somit kaum Rechnung. Weiterhin übersieht der Autor, dass die Außenwelt unlängst nicht mehr nur als ,Externalität‘ aufzufassen ist, da sie das Innenleben mittlerweile zu überlagern, zu durchziehen oder unaufhörlich zu ,mustern‘ scheint, um schließlich mit ihm zu verschmelzen. Demgegenüber wird stellenweise die Illusion erweckt, es gälte ein Selbst zurückzugewinnen. Doch welches Selbst mag das sein, wenn wir heute – und das führt uns Hillenkamps Negative Moderne eigentlich vor Augen – sowohl das ,Selbst‘ der Moderne als auch das ,Selbst’ der Postmoderne annulliert haben? Wäre es in Hinblick auf den vielfach proklamierten „Tod des Subjekts“ nicht zwingender, mit Jean-Luc Nancy zu fragen: „Who comes after the subject?“

Eine solche Frage ist dann wohl aber falsch gestellt – an ein Buch, das in seinen Kapiteln das Nichts in mannigfaltigen Facetten umkreist, das immer wieder die elementare, moderne Erfahrung des „Fehlens von etwas“ in den Fokus rückt und sich damit einer dringlichen Problemanalyse, nicht dem vorschnellen Lösungsvorschlag, verpflichtet. Die minutiös beschriebende Diagnose kann insofern überzeugen, als die multioptionale Gesellschaft der Gegenwart eher dazu neigt, das Nichts nur über dessen ,Dysfunktionalitäten‘ zu diffamieren als etwa eingehender, zum Zwecke eines reflexiven Selbstverständnis, zu thematisieren beziehungsweise zu problematisieren. Wenn diesem ruinösen Gegenspieler des ,Seins‘ überhaupt Aufmerksamkeit zugesprochen wird, dann zumeist über die Techniken der Anreicherung, über die Mittel, das Nichts zu bewältigen, zu füllen und schließlich zu überwinden. In dieser Hinsicht erscheint die Untersuchung, die die moderne (westliche) Kultur in der Optik ihrer Fissuren und Friktionen – ausgehend vom Leiden an den Forderungen und Sogkräften eines unendlich Möglichen – fokussiert, nicht nur wichtig, sondern notwendig. Doch die Umarmung des Nichts, des Mangels, des Ausbleibens und so weiter schlägt zuweilen etwas fehl – vor allem dann, wenn der Autor die theoretischen Abgrenzungsversuche mit den Horizonten subjektiver Sichtachsen vermischt und sich dabei (zu) viele Redundanzen einpflegt. Der Lesende kann inmitten luzider Momente auf der einen und dem negativen Erfahrungshunger des Autors auf der anderen Seite die Übersicht verlieren, sich in den Unterkapiteln – die zwischen treffenden Beobachtungen und eigenwilligen Interpretationen nicht immer zu unterscheiden vermögen – verlaufen. Etwas weniger oder auch mehr Nichts erschiene da stellenweise durchaus wünschenswert.

Titelbild

Sven Hillenkamp: Negative Moderne. Strukturen der Freiheit und der Sturz ins Nichts.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2016.
368 Seiten, 24,95 EUR.
ISBN-13: 9783608947380

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch