„Der deutsche Film war fabelhaft, bevor die Oberhausener kamen“

Dominik Grafs und Johannes F. Sieverts „Verfluchte Liebe deutscher Film“ wirft einen Blick auf das deutsche ‚Gegenkino‘

Von Florian LehmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Florian Lehmann

Verfluchte Liebe deutscher Film beginnt, vorgetragen von Dominik Grafs melodischer Stimme, mit einer harschen Behauptung: Der deutsche Film sei „tot“ – „totgefördert, totgescriptet, totgequatscht, totproduziert, totunterrichtet, totgelehrt, totkritisiert, totgeschrieben, totbetreut“, er habe sich „totgefeiert, totgelacht, ist total unerotisch, totgegrübelt.“ Das ist ein hartes Urteil über den deutschen Film der letzten Jahrzehnte, zumal es von einem Filmemacher stammt, der ja selbst zu den großen Regisseuren des zeitgenössischen deutschen Films (und Fernsehens) gehört und sich für einige hervorragende Produktionen der letzten Jahrzehnte verantwortlich zeichnet (u.a. für den Spielfilm Der rote Kakadu (2005), für die Fernsehserie Im Angesicht des Verbrechens (2010), zusammen mit Michael Althen für den Essay-Film München – Geheimnisse einer Stadt (2000) oder für Tatort-Episoden wie Frau Bu lacht (1995)). Graf ist eine Persönlichkeit, die im heutigen deutschen Film(geschäft) aus Kritikerperspektive eine herausragende Stellung einnimmt und, anders als manche Arthouse-Filmemacher, auch eine beachtliche Zuschauerschaft vorweisen kann – vor allem natürlich immer dann, wenn er für das öffentlich-rechtliche Fernsehen dreht. Wirft da also jemand mit Steinen auf ein Glashaus, in dem er selber sitzt und von dem er selber außerordentlich profitiert? Oder setzt sich da einer in eine spezifische, ganz andere Tradition des Filmemachens?

Rasch wird bei Verfluchte Liebe deutscher Film, für den Graf zusammen mit Johannes F. Sievert Regie führte, deutlich, dass es sich indirekt auch um eine Folie handelt, vor der Grafs eigenes Schaffen lesbar gemacht werden kann. Der Film eröffnet die Deutungsebene, dem Filmemacher Graf mit dem ausgewiesenen Cinephilen Graf beizukommen. Nicht bei der wenig schmeichelhaften Gegenwartsbeschreibung des deutschen Films stehen zu bleiben, sondern beides zu zeigen, nämlich den Weg hin zur diagnostizierten Totenstarre des deutschen Gegenwartskinos, aber auch die zahlreichen Beispiele in der deutschen Filmgeschichte, die sich dieser Tendenz verweigert haben: das ist das eigentliche Anliegen von Grafs und Sieverts Film.

Was nach der zitierten Eingangsbeschreibung folgt, ist eine unterhaltsame und materialreiche Rückschau auf die Geschichte des westdeutschen Films seit der Nachkriegszeit, vor allem mit dem Schwerpunkt auf den 1950er bis -70er Jahren. In vielen Interviews kommen Filmkritiker, eine Filmwissenschaftlerin, Schauspielerinnen und Schauspieler sowie zahlreiche Regisseure zu Wort. Doch zunächst apostrophiert Grafs und Sieverts Film unter dem psychoanalytisch geprägten Begriff des Vatermords eine kritische Auseinandersetzung mit dem berühmten Oberhausener Manifest von 1962, dessen junge Filmemacher, wie schon die Nouvelle Vague im französischen Kino, den Bruch mit der Vorgängergeneration suchten („Papas Kino ist tot“). Bekanntlich wurde seitens der Oberhausener dem deutschen Film ein Qualitätsmangel attestiert. Der „Anspruch [des Oberhausener Manifests] auf einen neuen Spielfilm“ hatte, so legt die Kölner Filmwissenschaftlerin Lisa Gotto es nahe, mitnichten nur qualitative, sondern auch handfeste wirtschaftliche Gründe. Zwar wurden die Kontinuität des Filmpersonals nach 1945 (z.B. mit Regisseuren wie Veit Harlan), das ‚Heinz Erhard-Kino‘ der 1950er Jahre und die zahlreichen Schlager-, Arzt-, und Försterfilme kritisiert, doch war nicht von der Hand zu weisen, dass diese Filme Umsatz machten. Die Oberhausener waren also mit ihren sperrigen Filmen auf neue Formen der Finanzierung angewiesen: eine öffentlichen Filmförderung. Dieser macht Grafs und Sieverts Film aber einen großen Vorwurf, während er ihre Geburt den Oberhausenern persönlich zur Last legt. Denn als Last wollen Graf und Sievert die Filmfonds durchaus verstanden wissen: Das Publikum wird nun unwichtiger, weil die produzierten Filme davon unabhängig sein können. Darin schwingt letztlich schon jener Vorwurf mit, dem sich auch das gebührenfinanzierte öffentlich-rechtliche Fernsehen konstant ausgesetzt sieht (beispielsweise am etwaigen Seh-Interesse des jungen Publikums vorbeizusenden).

Verfluchte Liebe deutscher Film legt nun nahe, dass der Neue Deutsche Film letztlich das Phänomen einer Diskussion unter Künstlern war, einem kleinen intellektuellen Zirkel, deren Filme – trotz des bis heute bekannten Manifests – kaum noch geschaut werden. Feministische Filme wie Neun Leben hat die Katze (1968) – gerade dieser lief 2015 immerhin noch einmal auf der Retrospektive der Berlinale – seien kaum noch im Bewusstsein, ihrem politischen Anspruch zum Trotz. Die Bedeutung der Oberhausener, das ist die Spur, in der Graf und Sievert sich immer deutlicher bewegen, ist überschätzt, denn angeschaut hatten sich die Menschen ein ganz anderes Kino. Und darunter waren gute Filme! So verteidigt Regisseur Roland Klick das Mainstream-Kino der jungen Bundesrepublik generell gegen den Vorwurf der Kommerzialität, will Filme als Dienstleistung, nicht als hohe Kunst verstanden wissen. Kommerz heiße eben, dass die Filme auch tatsächlich besucht worden sind.

Während sich das Neue Deutsche Kino, dem politischen Zeitgeist verpflichtet, zum erzählerischen Revolutionär erhob, ließ die Gegenrevolution nicht lange auf sich warten. Es entstand ein populäres ‚Gegenkino‘, das sich wider die als didaktisch empfundenen Filme der Oberhausener wandte. Es sind Filme vom genannten Roland Klick, von Klaus Lemke, Rudolf Thome und Max Zihlmann, die sich nicht als intellektuelles Diskurskino inszenieren und nicht zuletzt aus diesem Grund von Graf und Sievert gewürdigt werden.

Den Oberhausenern habe, so Regisseur Lemke im Interview, jedes Verständnis für das Kino gefehlt, sie seien „Söhne reicher Eltern gewesen“, die nur „ihre Abituraufsätze nochmal schreiben“ wollten. Vor allem der Anspruch der Oberhausener, Kunst produzieren zu wollen, traf Filmemacher wie Lemke, die sich in dieser Genieästhetik nicht wiederfanden. Auch hier verweist Verfluchte Liebe deutscher Film nochmals eindringlich auf die Frage der Filmförderung. Und so geht es Graf und Sievert letztlich um die Kehrseite des modernen deutschen Filmbetriebs und all seiner Fördertöpfe, um den Verlust an Spontaneität und Kreativität des Filmeschaffens zulasten einer ausschweifenden, zeitraubenden Antragsprosa, um an die öffentlichen Fördermittel zu kommen. Filmemachen dauerte nun Jahre, weil die Finanzierungs- und Vertragsfragen so lange benötigen – nicht aber die eigentlichen Dreharbeiten. Die Macht der Redakteure im Fernsehen und die Macht der Gremienmitglieder der Förderanstalten stieg in den Jahren nach dem Oberhausener Manifest rapide an, während die freie, ungezügelte Entscheidungsgewalt des Regisseurs abnahm. Zudem hielt eine zunehmend inhaltliche Zensur Einzug, was insbesondere die Darstellung von Nacktheit und Sexualität betraf. Lemke fasst es im Film so zusammen: „Der deutsche Film war fabelhaft, bevor die Oberhausener kamen.“

Mit Grafs eingesprochener Frage, ob „die Oberhausener eher wie Jugendliche, die sich vor dem Sex ihrer Eltern ekeln“, waren, leitet Verfluchte Liebe deutscher Film zu einer weiteren Kritik an den Oberhausenern über und kontextualisiert sie filmhistorisch einleuchtend in der nicht vorhandenen Körperlichkeit des Nachkriegskinos. Dazu äußert sich der Film auch deshalb so ausführlich, weil – für uns ja heute oft nicht mehr vorstellbar – die kriegsversehrten Männer im öffentlichen Raum allgegenwärtig und selbstverständlich auch zahlreiche Schauspieler davon betroffen waren, wiewohl man alles dafür tat, Behinderungen vor der Kamera oder auf der Bühne zu kaschieren. Der Film widmet sich daher auch den verletzten, versehrten Nachkriegskörpern in der Gesellschaft, die gerade von den übertrieben bunten und heiteren Nachkriegsfilmen übertüncht werden mussten. Das Ziel des Nachkriegskinos bestand so darin, „Heimatgefühle, Trost und Geborgenheit“ zu evozieren, doch gerade im Heimatfilm gibt es ja durchaus Beispiele für jene Unheimlichkeit, die dem Heimatlichen allzu oft zu eigen ist, und in der sich die Trauer und der Verlust manifestieren. Interessant in dem Kontext sind auch jene Passagen des Films, in denen es um den Dialekt als Emanation des Körperlichen geht. Dialekte machen Sprache ja selbst als einen physischen Vorgang kenntlich, weshalb der deutsche Film (mit Ausnahme von Edgar Reitz‘ „Heimat“-Reihe; 1981-2012) zumeist dialektarm ist und Hochdeutsch gesprochen wird (anders als im amerikanischen Film, der die Landesdialekte schon immer gefeiert hat). Es ist diese Sterilität, die von Graf und Sievert und ihren Interviewpartnern immer wieder bemerkt wird und der gerade das Gegenkino der 1960er, -70er und -80er Jahre zu entkommen sucht, das physische, verschwitzte, bewegungsreiche Filme zu bieten hatte.

Zu den Höhepunkten von Verfluchte Liebe deutscher Film zählen ganz klar die Gespräche mit dem Schauspieler Mario Adorf, der noch in den Interviews jene physische Präsenz aufs Schnellste herstellen kann, für die man ihn aus seinen Filmen bewundert und schätzt. Auch Grafs und Sieverts Film hat daran pure Freude, etwa wenn Adorf den Schauspieler Robert Graf, Dominik Grafs Vater, mit viel Witz beim Telefonieren nachahmt.

Nicht immer sofort nachvollziehbar und manchmal erklärungsbedürftig sind indes die thematischen Übergänge im Film. Verfluchte Liebe deutscher Film ist keineswegs voraussetzungsfrei zu schauen. Grafs Erzählerkommentar hätte entsprechend noch erklärender sein dürfen. Kenner:innen der deutschen Filmgeschichte eröffnet sich zwar eine spannende, geradezu essayistische Perspektive auf das Kino der 1960er und -70er Jahre; wer aber eher mit dem deutschen Gegenwartsfilm bzw. Nachwendefilm sozialisiert wurde, wird hier oft nur Bahnhof verstehen. Didaktisch ist Grafs und Sieverts Film jedenfalls nicht, im Gegenteil: Er ist meinungsstark, temporeich und voll von Filmschätzen, die es zu sehen lohnt. Ein zweiter Teil mit dem Titel Offene Wunde deutscher Film, der das Kino der 1960er bis -90er Jahre beleuchten wird, ist in Arbeit.

Verfluchte Liebe deutscher Film
Deutschland 2016
Regie: Dominik Graf, Johannes F. Sievert
Länge: 92 Minuten

Zur Lektüre empfohlen

Film-Konzepte. Heft 38: „Dominik Graf“. Hrsg. v. Jörn Glasenapp. München: Verlag edition text + kritik 2015.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

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