Einer der letzten Universalgenies und ein „berühmter Herr“

Zum 300. Todestag von Gottfried Wilhelm Leibniz

Von Manfred OrlickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Orlick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Friedrich der Große von Preußen sagte über ihn: „Er versammelte in seinem Kopf eine ganze Akademie der Wissenschaften.“ Das war eine Anerkennung für einen Mann, der rund fünfzig Jahre zuvor 1716 verstorben war – Gottfried Wilhelm Leibniz – und der auch 300 Jahre später noch fasziniert. Er war wohl einer der letzten Universalgelehrten, der in vielen Forschungsdisziplinen zuhause war und die Wissenschaft in einer ganz großen Breite bespielt hat: Philosophie, Geschichte, Mathematik, Ingenieurkunst und Juristerei und damit ist die Universalität dieses barocken Weltmannes noch längst nicht zur Gänze erfasst.

Gottfried Wilhelm Leibniz wurde am 1. Juli 1646 (nach altem Kalender am 21. Juni 1646), also zwei Jahre vor Ende des Dreißigjährigen Krieges, in Leipzig geboren. Sein Vater Friedrich Leibnütz (1597-1652), ein Notar an der Universität Leipzig und Professor für Moralphilosophie, war schon in einem vorgerückten Alter, und als er starb, war der Junge gerade einmal sechs Jahre alt. Die Mutter Catharina (1621-1664), die Tochter des Leipziger Rechtsgelehrten Wilhelm Schmuck, war 24 Jahre jünger als ihr Mann. Im Elternhaus stand dem wissbegierigen Jungen, der von 1653 bis 1661 die Nicolaischule in Leipzig besuchte, die umfangreiche Bibliothek seines Vaters zur Verfügung. So eignete er sich autodidaktisch so viel Wissen an, dass er bereits mit 15 Jahren an der Universität Leipzig ein Studium aufnehmen konnte. Zunächst Philosophie und Mathematik, ehe er dann später nach einem kurzen Semesteraufenthalt in Jena ein juristisches Fachstudium wiederum in Leipzig begann. Nach zehn Semestern schließlich promovierte er zum Doktor beider Rechte (weltliches und kirchliches Recht) – allerdings in Nürnberg, weil man ihm die Promotion in Leipzig wegen seines jungen Alters nicht erlaubte. Ansonsten ist über seine Jugend- und Studienzeit wenig bekannt.

Der kurmainzische Minister Johann Christian von Boineburg vermittelte dem jungen Doktor der Rechte eine Anstellung als Hofrat (politischer Berater) beim Mainzer Kurfürsten Johann Philipp von Schönborn, die Leibniz 1670 antrat. Bereits zwei Jahre später wurde er mit einer geheimen diplomatischen Mission betraut, die ihn nach Paris führte, wo er insgesamt vier Jahre blieb. Hier knüpfte er Kontakte zu den Mitgliedern der „Akademie des Sciences“, u.a. zu dem Mathematiker und Physiker Christiaan Huygens, dem einflussreichsten Naturwissenschaftler im goldenen Zeitalter der Niederlande. Dieser erkannte das Talent des jungen Diplomaten aus dem hinterwäldlerischen Kurfürstentum Mainz und gab ihm die aktuellsten mathematischen Veröffentlichungen, die für Leibniz wie ein zweites Studium waren. In Paris beschäftigte sich Leibniz auch mit dem Bau einer Rechenmaschine, die imstande war, alle vier Grundrechenarten auszuführen. Schwierigkeiten machte dabei die mechanisch-technische Umsetzung der Pläne, besonders die sogenannte „Zehnerübertragung“. Wohl über 100 Mal hatte Leibniz das hölzerne Modell verändert und bei den Handwerkern oft selbst mit Hand angelegt.

Als Leibniz im Januar 1673 an einer Gesandtschaft nach London teilnahm, hatte er jedenfalls sein Rechenmaschinen-Modell im Gepäck und stellte es der Royal Society vor. Er wurde auswärtiges Mitglied dieser berühmten Gelehrtengesellschaft und lernte hier auch die beiden führenden Naturwissenschaftler des Landes kennen, den Chemiker Robert Boyle und den Physiker Robert Hooke; zudem hatte er Einblick in die Arbeiten von Isaac Newton. Zurückgekehrt nach Paris, entwickelte Leibniz seine Infinitesimalrechnung, die aber zu einem heftigen Prioritätsstreit mit Newton führte, der sich fast zu einer Staatsaffäre ausweitete. Heute ist sich die Wissenschaft darüber einig, dass der Plagiatsvorwurf unhaltbar ist und Leibniz unabhängig von Newton das Infinitesimalkalkül entwickelt hat.

1676 folgte Leibniz notgedrungen dem Ruf von Herzog Johann Friedrich von Braunschweig-Lüneburg. Der Welfen-Herzog hatte sich schon seit Jahren bemüht, den Gelehrten als Hofbibliothekar in seine Residenzstadt zu holen. Auf dem Weg von Paris nach Hannover, wo Leibniz im Dezember 1676 eintraf, machte er u.a. noch Station in Holland bei Spinoza. Leibniz ist nicht gern nach Hannover gegangen, er wäre sicher lieber in Paris geblieben. So versuchte er bereits 1677 Verbindung nach Wien zu knüpfen. Aber schließlich wurde die Stadt an der Leine bis zu seinem Tode Mittelpunkt seines Lebens.

Leibniz machte sich zunächst mit dem Bibliotheksbestand vertraut: dreitausend Bände und 158 Handschriften. Obwohl Leibniz eine gewaltige Emsigkeit auf vielen Gebieten entwickelte, wurden seine Hoffnungen und Vorstellungen in Hannover enttäuscht. Er musste an dem kleinen Hof um sein Gehalt kämpfen und – angewiesen auf den Herzog – als Hofrat auch juristische Arbeiten übernehmen. Trotzdem blieb ihm genügend Zeit für philosophische, mathematische und naturwissenschaftliche Studien und er pflegte vor allem Kontakte zu Gelehrten in aller Welt, die bis nach China reichten. Sein umfangreicher Briefwechsel mit ca. 1.300 Partnern ist Ausdruck dieser Verbindungen. Er gilt als die umfangreichste Gelehrtenkorrespondenz des 17. Jahrhunderts und wurde 2007 von der UNESCO zum Weltdokumentenerbe ernannt. Darüber hinaus entwickelte Leibniz eine außergewöhnlich aktive Reisetätigkeit, die ihn durch halb Europa führte.

Doch zurück zu seinen weiteren Lebensstationen. Zunächst war der Hofrat Leibniz (jetzt Mitte dreißig) im Herzogtum tätig. So reiste er mehrfach in den Harz, wo er die technischen Voraussetzungen für die Silberbergwerke verbessern wollte. Er entwarf verschiedene Windmühlen, um das Grundwasser aus den Schächten und Stollen zu pumpen. Doch dann ließ der Herzog (inzwischen Ernst August von Braunschweig- Calenberg) das Harz-Projekt abbrechen. In Hannover wartete auf Leibniz eine andere Aufgabe, die ihn mehrere Jahre in Anspruch nahm. In fürstlichem Auftrag sollte er die Geschichte des Welfenhauses erforschen und darstellen, denn der protestantische Ernst August wollte für Hannover die Kurwürde erlangen. Leibniz sollte die Bedeutung Hannovers historiographisch untermauern und in einer Denkschrift eine neunte Kurfürstenwürde (und nach Sachsen und Brandenburg eine dritte protestantische) im Reich begründen. Leibniz, jetzt gewissermaßen Haushistoriker, begab sich 1687 auf eine dreijährige Forschungsreise, um in den Archiven Süddeutschlands, Österreichs und Norditaliens den Ursprung der Welfen nachzuweisen. Außerdem war sein weitgespanntes Korrespondentennetz für die Bewältigung des fürstlichen Auftrages von Nutzen, z.B. bei der Quellenbeschaffung oder der Klärung von historischen Details. Diese umfassende Geschichtsdarstellung „Annales Imperiioccidentis Brunsvicenses“ sollte Leibniz noch bis an sein Lebensende beschäftigen. Bei seinem Aufenthalt in Rom bot man ihm die Betreuung der Vatikanischen Bibliothek an. Er lehnte jedoch ab, da er für dieses Amt hätte katholisch werden müssen.

1690 kehrte Leibniz nach Hannover zurück. Zusätzlich zu seinen Verpflichtungen am Hof von Hannover übernahm er ab 1691 nebenamtlich auch die Leitung der Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel, in der er den ersten alphabetischen Katalog anlegen ließ, die Bestände durch den Erwerb von kostbaren Handschriften und Drucken erweiterte und einen Erweiterungsbau, die berühmte Bibliotheksrotunde, anregte.

Mit seinen historischen Arbeiten zur Welfengeschichte hatte Leibniz einen erheblichen Anteil daran, dass Kaiser Leopold I. 1692 Herzog Ernst August die neunte Kurwürde im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation verlieh, wodurch das Haus Hannover zur zweiten Regionalmacht im norddeutschen Raum aufstieg. Leibniz selbst wurde 1696 zum Geheimen Justizrat ernannt.

1698 starb Herzog Ernst August und mit dessen Sohn Kurfürst Georg Ludwig, dem späteren König von England, der wenig Verständnis für die weitreichenden Interessen von Leibniz zeigte, kam es regelmäßig zu Spannungen, hervorgerufen auch durch den schleppenden Fortgang am Welfen-Geschichtswerk. So fühlte sich Leibniz in Hannover immer mehr zurückgesetzt und suchte nach neuen Wirkungsstätten.

Mit der sehr gebildeten Sophie Charlotte Herzogin von Braunschweig und Lüneburg, der späteren ersten Königin von Preußen, verband Leibniz seit längerem ein reger Gedankenaustausch. Mit ihrer Hilfe gelang es ihm, Kurfürst Friedrich III. (ab 1701 als Friedrich I. preußischer König) 1700 zur Gründung der Berliner Akademie der Wissenschaften zu bewegen. Leibniz, als erster Präsident der Akademie, pendelte in den folgenden Jahren häufig zwischen Hannover und Berlin und verbrachte mehr als drei Jahre in der preußischen Hauptstadt. Auch für weitere Akademien in Wien und St. Petersburg lieferte Leibniz die Entwürfe, die jedoch erst nach seinem Tod gegründet wurden. Als der russische Zar Peter der Große 1697/98 inkognito Westeuropa bereiste, hatte sich Leibniz vergeblich um ein Zusammentreffen bemüht. Er wollte seine Ideen auf allerhöchster Ebene darlegen; außerdem sah er Russland als Bindeglied zwischen dem europäischen und chinesischen Kulturkreis. Erst 1711 erhielt Leibniz eine Audienz bei Peter dem Großen, der im sächsischen Torgau zu einer Hochzeitsfeierlichkeit weilte, und bei einem zweiten Treffen in Karlsbad wurde er zum russischen Geheimen Justizrat ernannt. Vom Zaren wurde er beauftragt, an einer Gesetzes- und Justizreform für das riesige Reich mitzuwirken. Doch die von Leibniz entwickelten Reformen wurden nicht realisiert – Russland befand sich mitten im Nordischen Krieg um die Vorherrschaft im Ostseeraum.

Zum Kaiserhof in Wien hatte Leibniz ab 1712 ebenfalls enge Kontakte knüpfen können. Er wurde zum Reichshofrat ernannt und unterbreitete vielfältige Vorschläge, angefangen von den Staatsfinanzen über die Donauregulierung bis zur Seuchenbekämpfung. Sein eigentlicher Dienstherr, der hannoversche Kurfürst, sah diese Aktivitäten allerdings mit Verdruss, und er warnte den Kaiser vor Leibniz: „weil er (Leibniz) von dem Genie wäre, dass er Alles leisten wolle … aber entweder kein Talent oder keine Lust hätte, etwas zusammenzubringen und zu endigen.“ Als der Kurfürst jedoch 1714 als Georg I. den englischen Thron bestieg, sah Leibniz plötzlich neue Wirkungsmöglichkeiten. Schließlich hatte er mit seinen Gutachten erheblichen Anteil an dieser Thronbesteigung und außerdem war der halbe Hofstaat nach London mitgegangen. Aber der neue König hatte keine Verwendung für ihn. Das Verhältnis zwischen beiden war so zerrüttet, dass Leibniz nicht mit weiteren Aufgaben betraut wurde. Über ihn wurde sogar ein Reiseverbot verhängt.

Von derartigen Demütigungen und Enttäuschungen gekränkt und von gesundheitlichen Übeln geplagt, verbrachte Leibniz die letzten beiden Jahre in Hannover, wo er am 14. November 1716 einsam und verbittert an einem Gichtleiden starb. Er wurde nicht wie sein Zeitgenosse Isaac Newton mit großen Ehren zu Grabe getragen. Zu der Beisetzung, erst einen Monat später, in der Neustädter Kirche erschien niemand vom kurfürstlichen Hof. Erst viel später erhielt Gottfried Wilhelm Leibniz den Rang, der ihm bis heute in Wissenschaft und Philosophie zuerkannt wird. Die Zahl seiner zu Lebzeiten publizierten Werke war ebenfalls gering. Mit dem Druck seines fast unübersehbaren Gesamtwerkes (rund 200.000 Blatt handschriftliche Aufzeichnungen), das er trotz seiner vielfältigen Aufgaben unermüdlich verfasst hatte, wurde zum Großteil erst nach seinem Tode begonnen. Die Katalogisierung seines Nachlasses nahm man sogar erst 1901 in Angriff. Seitdem erscheint die historisch-kritische Leibniz-Edition, die in acht Reihen angelegt ist und deren Umfang einmal ca. 108 Bände betragen soll.

Pünktlich zum 300. Todestag ist im C.H. Beck Verlag die umfangreiche Biografie „Der berühmte Herr Leibniz“ von Eike Christian Hirsch in einer überarbeiteten Neuauflage erschienen, die u.a. mit einer mehrseitigen Zeittafel ergänzt wurde. Der Theologe und Philosoph Hirsch hat dabei die neuesten Ergebnisse der Leibnizforschung berücksichtigt. In 16 Kapiteln mit ungeheurer Detailfülle zeichnet er die Lebensstationen des Universalgelehrten nach, wobei dem Leser nicht nur das Genie sondern auch der Mensch Leibniz nähergebracht wird, mit all seinem Tatendrang und Erfindungsreichtum. Mit kleinen Szenen und wörtlicher Rede versucht der Autor, ein lebendiges Leibnizbild zu skizzieren. Oftmals wagt er sogar den Versuch von erdachten Dialogen zwischen Leibniz und seinen Zeitgenossen – z.B. welche Gedanken Spinoza und Leibniz im Gespräch austauschten. Eine Gratwanderung, die in großen Teilen jedoch gelungen ist.

Neben diesen mehr persönlichen Betrachtungen nehmen die großen wissenschaftlichen Leistungen, die ungeheure Publikationstätigkeit sowie die internationalen Verbindungen von Leibniz natürlich breiten Raum ein, die in die historischen und kulturellen Geschehnisse um 1700 eingebettet sind. So steht nach diesen oft romanhaften 660 Seiten Leibniz nicht nur als Gelehrter, Berater, Mathematiker, Philosoph oder Historiker vor uns, sondern auch – wie Hirsch in seinem Nachruf hervorhebt – als ein „ewig strebender Mensch“, der stets das öffentliche Wohl im Auge hatte.

Titelbild

Eike Christian Hirsch: Der berühmte Herr Leibnitz. Eine Biographie.
Verlag C.H.Beck, München 2016.
660 Seiten, 29,95 EUR.
ISBN-13: 9783406698163

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