James Tiptree Jr. in Höchstform
Der erste Science Fiction-Roman der bekannten SF-Autorin liegt endlich in neuer Übersetzung vor
Von Rolf Löchel
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseUnter Science-Fiction-Fans bekannt geworden ist die US-Amerikanische Autorin James Tiptree Jr. vor allem als Verfasserin ebenso zahl- wie ideenreicher Kurzgeschichten und vielleicht mehr noch durch einen nach ihr benannten Award, mit dem alljährlich SF-Storys für die innovativsten biologischen und sozialen Geschlechterkonstruktionen ausgezeichnet werden. Erst gegen Ende ihres Lebens versuchte sich Tiptree an einem Roman. So erschien 1978, neun Jahre vor ihrem Tod, ihr erstes umfangreiches Opus Up the Walls of the World. Zwei Jahre nach der Veröffentlichung folgte die deutsche Übersetzung unter dem Titel Die Feuerschneise. Sie ist natürlich längst vergriffen. Doch nicht nur darum ist es begrüßenswert, dass der österreichische Septime Verlag nach dem Abschluss der siebenbändigen Ausgabe aller Kurzgeschichten Tiptrees nun auch diesen Roman auf den Markt gebracht hat. Bella Wohl hat ihn neu übersetzt und sein Titel Die Mauern der Welt hoch entspricht, anders als der frühere, nun demjenigen des amerikanischen Originals.
Die große Form des Romans gestattete es Tiptree erstmals, ganze Welten detailliert auszufabulieren. In dem hier anzuzeigenden Werk ist es der ferne, planetarische Gasriese Tyree, eine unschuldige paradiesische Welt, der droht, in eine infernalische Hölle verwandelt zu werden. In seinen mit pflanzlicher Nahrung gesättigten atmosphärischen Strömungen tummeln sich filigrane, flugfähige Wesen von mehreren Dutzend Metern Größe, deren Kultur keine mineralischen oder metallischen Artefakten kennt. Auch ernähren sie sich volkommen vegetarisch. Untereinander kommunizieren die Intelligenzwesen von Tyree nicht etwa akustisch, sondern mit ihren biolumineszierenden Körpern, sodass es ihnen als tiefste Nacht gilt, wenn die Sonne am höchsten steht. Erlebnisse werden einander jedoch nicht etwa mittels bunt aufflammender Leuchtmuster erzählt, sondern durch „Erinnerungs-Übertragung“ vermittelt. Hierzu bauen zwei Individuen ein gemeinsames „Seelenfeld“ auf, indem sie einander berühren. Die männliche Wesen auf Tyree können nicht nur Väter werden, sondern auch „Horcher“. Als solche suchen sie mit der Telepathie ähnlichen Kräften nach Impulsen anderer Lebensformen im Weltall. Eine Fähigkeit, die bei Weiblichen zwar auch vorhanden, aber sehr viel schwächer ausgebildet ist. Insbesondere die stärksten unter den Männlichen sind sogar des „Lebensraubes“ fähig. Als solchen bezeichnen sie den Transfer des eigenen Bewusstseins in einen anderen Körper, wobei dessen Bewusstsein in den Körper der LebensräuberIn gelangt. Hierzu ist nicht einmal eine Berührung notwendig. Vielmehr ist es ihnen sogar über interstellare Entfernungen hinweg möglich. Doch gilt es den friedfertigen, eines Mordes nicht einmal fähigen Wesen als das verabscheuungswürdigste Verbrechen überhaupt.
Zwar sind die BewohnerInnen Tyrees zweigeschlechtlich, doch haben weder ihre biologischen Geschlechter noch ihre Genderrollen sonderlich viel mit menschlichen gemein, ohne dass sie diese jedoch schlicht negieren. So besteht durchaus eine Geschlechterhierarchie in der die weitaus größeren Männlichen eine höhere Achtung genießen als die kleineren Weiblichen. Dies aber aus ganz anderen Gründen als sich annehmen ließe. Denn es sind die Väter, die auf Tyree die Kinder aufziehen. Und genau dies ist mit „großem Ansehen verbunden“. Die unternehmungslustigen Weiblichen sind hingegen als „Nahrungsjägerinnen“ unterwegs und suchen gerne „Action und Spaß“. So ist das Leben der Weiblichen zwar „traditionell mit einem niedrigen sozialen Status verbunden“, dafür aber voller Wildheit und „weiblicher Freuden“, zu denen auch das „unväterlichen Streben nach Erkenntnis“ zählt.
Wie von Tiptree nicht anders zu erwarten, hat sie sich für die TyreenerInnen einmal mehr eine geradezu absonderliche Fortpflanzungsart ausgedacht, deren Originalität einer Spezies from outer Space würdig ist. Natürlich lässt es sich die Autorin auch nicht nehmen, die Lesenden über mehrere Seiten hinweg einen orgastischen Sexualakt aus der Sicht einer der Beteiligten erleben zu lassen. Er kommt übrigens ganz ohne körperlichen Kontakt aus.
Nach Vollzug des Aktes tragen die Männlichen das Ei der Weiblichen, aus dem ein Nachkomme hervorgehen wird, in einem körpereigenen Beutel. So mag die Trennung der Geschlechterrollen, die ihnen die Erziehungsaufgabe zuspricht, zwar eine biologische Ursache haben, doch sind auch Weibliche dazu in der Lage, „wie ein Vater“ zu handeln und etwa einem verwirrten Kind unter die nichtvorhandenen Arme zu greifen. Männliche Wesen wiederum können durchaus „im Herzen auch ein bisschen weiblich“ sein, wie alle auf Tyree wissen. Eine Transgenderfigur, von der man aufgrund der Fremdartigkeit allerdings nicht so recht sagen kann, ob es sich ‚nur‘ um eine Tomboy handelt, möchte sogar beweisen, „dass auch Weibliche Kinder versorgen können“. Selbstverständlich sind auch nicht alle der Weiblichen mit der Geschlechterhierarchie glücklich. So hat sich die Paradomin-Bewegung gebildet, welche die Aufwertung der Weiblichen anstrebt. „Warum sollen nur die Männlichen alles kontrollieren“, empört sich ihre Anführerin Avanil, die den männlichen Namen Avan trägt. Aber „was würde aus der Welt werden, wenn Weibliche sich dem Bevatern hingeben wollten“, zeigt sich eine andere Weibliche skeptisch. Doch „irgendwo da draußen muss es eine Welt geben, in der wir nicht so sind wie hier. In der die Weiblichen in der Lage sind, Väter zu sein und all die anderen Tätigkeiten zu verrichten, die hohes Ansehen genießen“, hofft Avan/il weiterhin, fährt aber nachdenklich fort: „natürlich muss das Ei vor der Befruchtung ausgestoßen werden. Das ist unumgänglich. Und vermutlich heißt das, die Männlichen müssen es auffangen. Doch der Rest könnte ganz anders sein“. Damit trennt sie das biologische vom sozialen Geschlecht. „Vielleicht existiert sogar eine Welt, in der die Weiblichen so stark sind, dass sie die Männlichen nur festhalten, um sie über dem Ei auszuquetschen, und die Eier behalten! In der wir all die Fähigkeiten und das Ansehen haben“, überlegt sie weiter und bindet Gender damit wieder an Biologie zurück.
Weit fremdartiger noch als das Leben auf Tyree aber ist das Dasein eines Wesens, das sich selbst „DAS BÖSE“ nennt, weil es sich von seinen Artgenossen getrennt hat. So durchstreift die seltsame, nahezu körperlose Entität von derart unermesslicher Größe, dass für sie selbst Sonnen nur kleine helle Punkte sind, das Weltall. Aus Einsamkeit und um den Schmerz seines unsagbaren Verbrechens zu lindern, unternimmt es einige kleinere Experimente mit diesen hellen Punkten. Wie sich nun leicht denken lässt, hat dieses vereinsamte Wesen, das nur gerüchteweise von fühlenden Wesen gehört hat, die nicht der eigenen Spezies angehören, ganz ursächlich etwas mit der Bedrohung Tyrees zu tun, ohne sich dessen allerdings auch nur bewusst zu sein.
Die dritte Handlungsebene spielt auf der Erde etwa zur Zeit der Niederschrift des Romans, also mitten im Kalten Krieg. Das menschliche Figurenkabinett besteht aus einer kleinen amerikanischen Forschungsgruppe, die sich mit Parapsychologie befasst, und ihren sechs ProbandInnen, unter ihnen ein Brüder- und ein Lesbenpaar. Da das Forschungsprojekt von Militär und Geheimdiensten finanziert wird, sind auch sie personell vertreten. So besessen wie der Projektleiter Dr. Noah Catledge von der Parapsychologie ist, so wenig hält sein zwischen Misanthropie und Anthropophobie schwankender Untergebener Dr. Daniel Dan von dieser windigen Wissenschaft.
Während auf Tyree eine fried- und freudvolle Stimmung herrscht und von dem „BÖSEN“ eine bedrohliche Ausstrahlung ausgeht, kommt auf dieser Handlungsebene eine etwas humoristische Atmosphäre auf, die dem teils recht schrulligen Personal der Geheimdienstabteilung und nicht zuletzt dem „in jeder Hinsicht unnormalen“ Dr. Dan zu danken ist. Der humoristische Einschlag verliert sich jedoch schnell, schon alleine deshalb, weil die Angehörigen des Forschungsteams und seine sechs ProbandInnen ausnahmslos ihr „ganz persönliches unerträgliches Elend“ mit sich herumschleppen, ohne dass auch nur die geringste Aussicht auf „Linderung“ bestünde. Eine schwarze Computerprogramiererin mit „kühlem Verstand“ etwa wurde als Kind genitalverstümmelt, eine attraktive Probandin wiederum leidet seit ihrer Jugend unter der „drohenden Zudringlichkeit und lauernden, einengenden Grausamkeit“ permanenter sexueller Belästigung, „wie unter feindlicher Belagerung“. „Unzählige riesenhafte, primitive männliche Körper umzingeln sie, heisere Stimmen johlen, eine ungeahnte Macht vereinnahmt den gesamten verfügbaren Raum.“ Sie benötigt die ganze Kraft und die Liebe ihrer Partnerin, um sich angesichts dieses Horrors aufrecht zu halten „wie die Fackel eines Widerstandskämpfers“, so die bedauerlicherweise auf das generische Maskulinum rekurrierende Übersetzung Bella Wohls.
Zunächst bleiben die drei Handlungsebenen voneinander getrennt, wobei das Geschehen jeweils aus Sicht einer ProtagonistIn erzählt wird. Das auf der Erde aus derjenigen Daniel Dans, das Treiben des einsamen BÖSEN notwendigerweise aus derjenigen dieses unheimlich-undurchschaubaren Weltraumwesens und das Leben auf Tyree aus der einer jungen Weiblichen namens Tifonel, einem „fröhlichen Geschöpf“, das sich darauf freut, „Wunder zu bestaunen, das Leben zu leben und Sex zu entdecken“. Sie ist zugleich die erste große Sympathieträgerin des Romans. Weiter folgen im Laufe der Lektüre. Auch wählt die Autorin später schon einmal die Sicht einer menschlichen Frau und eines männlichen Wesens von Tyree als Perspektive, wobei nicht nur die Geschlechterkategorien zuletzt verschwimmen und sich überlappen. Denn im Laufe der Handlung geraten männliche Bewusstseine speziesübergreifend in weibliche Körper und umgekehrt. Das Bewusstsein einer Frau verschmilzt sogar zugleich mit dem nahezu körperlosen Weltraumwesen und einem erdumspannenden möglicherweise sich seiner selbst bewussten Computerprogramm.
Es lässt sich ohne Übertreibung sagen, dass Tiptree bereits 1978 so manches von dem, was heute an avantgardistischen Ideen in den gendertheoretischen und queeraktivistischen Kreisen als Avantgarde neuer Daseinsformen propagiert und versucht wird, literarisch weit hinter sich ließ. Doch damit nicht genug, versetzt die Autorin die Lesenden sogar in eine „Energiekonfiguration, die einmal Leben war“, das allerdings „schon nahezu erloschen“ ist.
„Science Fiction hat nicht das Geringste mit UFOs zu tun“, aber sehr viel mit Phantasie, weiß nach der Lektüre des ebenso geistreichen wie anregenden Buches nicht nur der parapsychologiegläubige SF-Fan Noah, sondern auch die Lesenden erfahren es auf die denkbar unterhaltsamste Art. Denn Tiptree zeigt, was das Genre sein kann – und viel zu selten ist. Denn allzu oft lässt es doch nur ein paar UFOs über der Erde oder sonstwo kreisen.
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