Fragmente und Frakturen

Pawel Salzman zertrümmert in seinem avantgardistischen Roman „Die Welpen“ literarische und gesellschaftliche Normen

Von Manfred RothRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Roth

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Pawel Salzman war zu Lebzeiten kaum als Autor in Erscheinung getreten, und sein auch in Russland erst 2012 postum erschienener Roman Die Welpen entstand mit zum Teil längeren Unterbrechungen in einem Zeitraum von 50 Jahren. In einer ersten Phase schrieb der Autor, der hauptberuflich Szenenbildner beim Film war, von 1932 bis 1952 an Die Welpen und 1982, nur wenige Jahre vor seinem Tod, nahm er sich erneut des Stoffes an. Obwohl nun die Biografie eines Autors nicht notgedrungen etwas über sein Werk aussagen muss, so erklärt diese lange Entstehungszeit womöglich einige der Brüche innerhalb des in sechs Teile gegliederten Romans. Andererseits gibt sich Die Welpen nie als realistischer Roman, in dem Sinne, als er versuchte, eine in sich geschlossene fiktionale Welt zu erschaffen, sondern ist vielmehr ein Experiment mit Literaturgattungen, mit Themen und Motiven, dessen eigentlicher Reiz Salzmans manchmal expressionistische, oft genaue, immer plastische Sprache ausmacht, deren Bildgewalt durchaus filmische Qualität besitzt.

Inhaltlich lassen sich diese sechs Teile paarweise in Handlungseinheiten zusammenfassen, mit mehr oder minder kausalen Handlungsverläufen, und alle drei größeren Erzählkomplexe kulminieren in exzessiven Eruptionen: von Gewalt, in den beiden größeren Handlungszusammenhängen der ersten vier Bücher, von Sexualität in den letzten beiden. Viele Handlungsstränge laufen ins Leere und zum Ende hin meldet sich der Erzähler fast schon entschuldigend zu Wort und stellt sein Dilemma dar: „Und Sonja? Wo ist Sonja? Die Antwort lautet leider – ich weiß es nicht. […] Ich kenne ihre Adresse, doch die ist alt. Als ich dort hinkam, war sie schon weg.“ Im Laufe der Zeit so deutet er an, und hier spielt der Roman womöglich selbst auf die Biografie seines Autors an, sind dem Autor/Erzähler manche Figuren abhandengekommen und ihre Geschichte muss notgedrungen fragmentarisch bleiben. Ob dies der tatsächlichen Biografie Salzmans geschuldet ist oder nicht sei dahingestellt, vor allem ist sein Text ein literarisches Spiel, das die Erwartungshaltung des Lesers unterläuft und das exemplarisch für den gesamten Roman ist.

Diese – sinnbildlich gesprochen – Frakturierung einer stringenten Romanhandlung heißt auch, dass man sich als Leser von einer Einheit zur nächsten unvermittelt an einem anderen Ort und zu einer anderen Zeit wiederfindet, lediglich ein Teil der Figuren, allen voran die beiden titelgebenden Welpen, finden sich in allen Büchern wieder, manchmal als Protagonisten, manchmal auch lediglich als Statisten, an denen das eigentliche Hauptgeschehen vorbeizieht. Mit ihnen (und manchmal ohne sie) irrlichtert die Geschichte durch verschiedene Szenen, sodass keine durchgehende Handlung im Zentrum dieses ungewöhnlichen Romans steht, sondern allgemeinere Motive, insbesondere das der Suche – nach der Geliebten, nach Essen, Macht, Geld oder dem Eros – und damit einhergehend das Thema der existentiellen Unbehaustheit nicht allein des Menschen, sondern einer jeden Kreatur.

Das Collagenhafte des Romans zeigt sich sowohl in der Handlung als auch an seiner künstlerischen Gestaltung. Salzman greift Motive der Phantastik auf, lässt Traum und Wirklichkeit mit dem gleichen Geltungsanspruch ineinander übergehen; so können etwa Tiere in einigen Abschnitten des Buches wie selbstverständlich sprechen. Auch die aus der literarischen Romantik vertrauten Spiegel- und Doppelgänger-Motive kommen in Die Welpen wiederholt vor; sie sind bereits in den beiden Welpen selbst angelegt. Besonders eindrücklich ist die Szene, als sich die beiden gegen Ende des Romans nach langer Trennung wiederbegegnen, zwischen ihnen eine Glasscheibe, in der beide glauben, ein bloßes Spiegelbild ihrer selbst vor sich zu haben. Auch daran wird deutlich, dass die Figuren im Roman keine realistischen Charaktere sind, sondern manchmal geradezu Wiedergänger, die wie zufällig die gleichen Namen zu tragen scheinen. So ist etwa die Figur der Eule ein verletztes „Eulchen“, auch eine Herrscherin des Tierreichs und in den letzten beiden Teilen eine Art gestaltenwandelnder Dämon, ohne dass im Roman ein logischer Zusammenhang zwischen den Ausformungen der Figur hergestellt wird. Obwohl also Die Welpen durchaus phantastische Elemente aufweist, konstruiert der Roman keine in sich geschlossene phantastische Welt mit verlässlichen Regeln, sondern eher einen fiktionalen Raum, der weniger den Gesetzen der Logik folgt, als vielmehr einer traumhaften Gesetzlosigkeit, wobei die Stärke von Die Welpen im Detail liegt, in der Gestaltung mancher Kapitel, fast möchte man von „Szenen“ sprechen, wie beispielsweise das Kapitel „Der Hase“ im 2. Teil, das mit seiner Schlusspointe stark an Ambrose Bierces Erzählung An Occurrence at Owl Creek Bridge erinnert.

Vor allem ist es jedoch Salzmans Stil, der beeindruckt, seine Sprache, die besonders dann ihre Stärke offenbart, wenn der Autor in eine Art sprachliche Naheinstellung wechselt, die manchmal wie unter einem Mikroskop die Dinge unmittelbar vor Augen führt, die aus der Gesamtheit der Wirklichkeit förmlich ein Stück herausbricht, sodass man das große Ganze nicht mehr erkennen kann. Und gerade dort, wo die Gewalt explodiert – und Salzmans Kosmos wimmelt nur so vor Gräueltaten und Gewaltausbrüchen –, unternimmt diese plastische Sprache eine gnadenlose Vivisektion der Körperlichkeit, veranschaulicht in allen Einzelheiten die gewalttätige Zertrümmerung und Frakturierung des Körpers als Behausung der Kreatur. Wenn sich Triebe und Instinkte regen, sei es im Hunger, in der Sexualität oder auch einfach im Vergnügen an der Barbarei, spielt Moral keine Rolle. Obwohl im Roman die Liebe auf der Strecke bleibt, die Liebenden (und nicht die bloß Begehrenden) sind im Roman immer vergeblich Suchende, so weckt Salzman bei aller plastischen Gewaltdarstellung doch Empathie mit dem zertrümmerten Subjekt.

Diese explizite Gewalt, mit der die Körper zerrissen werden, erschöpft sich nicht in schierer Schaulust, sondern evoziert durch ihre sprachliche Ausgestaltung die Sehnsucht nach einer zivilisatorischen Ordnung. Indem Salzman seine Leser mit den detaillierten, plastisch ausgestalteten Folgen von Gewalt konfrontiert, indem er explizit macht, was im organischen Körper beschädigt wird, bricht und zerreißt, erzeugt er beim Lesen eine innere Abwehrhaltung, die fast schon ein eigenes körperliches Unbehagen im Angesicht dieser Exzesse hervorruft. Der zerstörte Körper wird zum Argument für die Zivilisation. Denn nicht nur der Mensch ist grausam, sondern auch die Natur, was besonders im Martyrium einer Maus deutlich wird, die dem Spieltrieb eines Katers zum Opfer fällt: „Die Maus, im Brustraum ein ausgebissenes Loch, aus dem das Blut floss, zappelte unter seinen Zähnen und wollte hoch, doch er ließ sie nicht aus dem Maul und durchbiss knirschend die Rippen, dass sich seine Zähen fast schlossen. Dann hob er die Schnauze an […] und der sich regende Körper, an der Brust noch verbunden, zerriss am Rücken.“

Die Natur ist bei Salzman also keineswegs das Idyll, zu dem sie von vielen Zivilisationsmüden gerne stilisiert wird. Vor allem in den ersten beiden Teilen bilden Regen, Kälte und Überflutungen das lebensfeindliche Hintergrundpanorama, vor dem marodierende Soldaten und Verhungernde wüten. Vielleicht sind die letzten beiden in Sankt Petersburg angesiedelten Teile, zumindest was das Ausmaß physischer Gewalt angeht, deswegen weniger drastisch, weil sie in einem anderen zivilisatorischen Rahmen spielen. In der Stadt äußert sich die Verworfenheit der Figuren eher in Diebstahl, Betrug, Habgier und sexueller Ausschweifung als in der unmittelbaren, körperlichen Auslöschung des Anderen.

Pawel Salzmans Die Welpen ist ein in vielerlei Hinsicht ausgesprochen fordernder Roman, denn die Orientierungslosigkeit, das In-die-Welt-geworfen-Sein seiner Figuren setzt sich bei der Lektüre fort. Gerade weil der Roman aus Erzählsplittern besteht, bildet er auch formal das Fragmentarische ab, das Ge- und Zerbrochene, das so kennzeichnend für alle Ebenen dieses Werks ist. Nicht zuletzt auch für die manchmal lyrische Sprachzertrümmerung, die an die Poetik des russischen Futurismus anknüpft, beispielsweise wenn die ermüdeten Sinne eines Verhungernden die Welt nur noch verzerrt wahrnehmen: „Der Alte ging um Wild Um Deckling Dunkling und einschlug eingrub zum Regen und abwusch um Gewehr Geraum Gebirg zur Hand, Einsam überm Fluss.“ Mit seinen formal wie inhaltlich drastischen Darstellungen rührt der Roman, wenn auch nie explizit oder gar moralisierend, an existenzielle Fragen nach dem Verhältnis von körperlichen Bedürfnissen, Gewalt, Moral und Zivilisation, die so grundlegend sind, dass sie auch nach der Lektüre dieser literarischen Tour de Force noch lange nachklingen.

Titelbild

Pawel Salzman: Die Welpen. Roman.
Mit einem Nachwort von Christiane Körner und Oleg Jurjew.
Übersetzt aus dem Russischen von Christiane Körner.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2016.
460 Seiten, 30,00 EUR.
ISBN-13: 9783957573308

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