Geschichten eines Kontinents
Europa in 50 Kurzreportagen von Martin Leidenfrost
Von Marie Kramp
Besprochene Bücher / Literaturhinweise„Separatismus, der: das Streben, sich von einer politischen, religiösen oder ähnlichen Gruppe zu trennen und eine eigenständige Gruppierung zu bilden.“
Es ist ein kleines Büchlein, das doch so viel enthält, was der Tagesjournalismus, dem die meisten Leser*innen ihre Informationen über ihre Heimat Europa entnehmen, gar nicht leisten kann. Es handelt sich um Lebensentwürfe, politische Systeme, Ideen, die mit Sicherheit der oder die durchschnittliche Zeitungsleser*in gar nicht kennt, die es aber wert sind, bekannt gemacht und erzählt zu werden. Und es sind auch erschreckende Dinge darunter. Martin Leidenfrost nimmt seine Leser*innen auf seine ganz persönliche Reise durch Europa mit. In Expedition Europa. Fünfzig exzessive Selbstversuche hat Leidenfrost sich das Ziel gesetzt, „eine gedankliche Brücke zwischen dem einen oder anderen Winkel Europas zu bauen.“ 50 Kurzreportagen auf gerade einmal 240 Seiten – nicht zu viel verlangt, über diese Brücken zu gehen.
Leidenfrost wurde 1972 in Niederösterreich geboren und studierte an der Wiener Filmhochschule und der Filmhochschule Babelsberg Buch und Dramaturgie. Zwei Mal wurde er bereits für seine Kolumnen mit dem „Writing for CEE“-Preis ausgezeichnet. 2004, als der Drehbuch- und freie Autor sich entschied, Devínska Nová Ves in der Slowakei zu seiner Wahlheimat zu machen, begann sein Europa-Experiment, das neben dem hier besprochenen Buch auch zwei weitere Kolumnenbände hervorbrachte. 2014 hat er sich mit dem Ziel, diese Sammlung zu verfassen, auf die Reise begeben. Die Bandbreite der abgehandelten Themen in Expedition Europa ist so groß, wie die Anzahl der Texte es zulässt. Sie behandeln etwa den Konflikt in der Ost-Ukraine, den Streit zwischen Griechenland und der Türkei um die Insel Zypern oder die Nachwirkungen des Jugoslawienkrieges. Die Form der als Selbstversuch angelegten Reportagen ermöglicht es dem Autor seine subjektive Wahrnehmung und Haltung in seinen Texten ins Zentrum zu setzen. Das heißt auch, dass wir keinen bloßen Abriss über pro-russische Separatisten oder die Gründe für den immer noch herrschenden Missmut zwischen Serben und Albanern bekommen. Leidenfrost schaut wie mit einer Lupe auf die Leben und Schicksale einzelner Menschen. Die Sammlung journalistischer Texte fokussiert also immer wieder auf Details, zeigt die einzelnen Episoden aus der Sicht des Autors und gibt so ein anderes Bild von den Krisen/Konflikten Europas wider als es Texte mit dem Blick auf die großen Zusammenhänge vermögen.
Andere Reportagen des Bandes befassen sich mit weniger allgegenwärtigen Konflikten sowie mit politischen und philosophischen Themen. Einige davon sind ganz besonders berührend. So trifft der Autor in einem Viertel von Glasgow Angela, „den unglücklichsten Menschen“ seines Lebens. Er nutzt den Text, um über die separatistische Geschichte der Schotten zu berichten, und doch steht dieser Mensch im Vordergrund. Eine traurige Geschichte – ein Einzelschicksal. Genau wie das von Nathan Verhelst, einem belgischen Transsexuellen, der sich 2013 nach einer gescheiterten Geschlechtsumwandlung euthanasieren ließ – das ist in Belgien erlaubt. Doch Leidenfrost will auch größere gesellschaftliche Phänomene verstehen. In seiner Reportage „Brennende Europäer“ z.B. geht er der Frage nach, warum sich seit 2013 in Bulgarien Menschen aus politischem Protest selbst verbrennen – eine Art des Freitodes, die den durchschnittlichen deutschen Zeitungsleser*innen bislang wohl eher von buddhistischen Mönchen in Tibet bekannt war. Passiert: nebenan.
Bei der großen Vielfalt an Schauplätzen, die Leidenfrost für seine Reportagen wählt, wird die Vorliebe des Autors für eine Bevölkerungsgruppe schnell offensichtlich – vielleicht, weil diese sich kaum auf einer Landkarte verorten lässt: die Roma. Wie im echten Leben immer unterwegs, durchstreift diese Gruppe die Reportagensammlung, taucht mal hier, mal dort wieder auf. Leidenfrost ist selbst mit vielen Roma befreundet, die den unterschiedlichsten Clans angehören, aber nicht bei allen Begegnungen beruht die Liebe auf Gegenseitigkeit. Wie z.B. „An der Sandgrube“, einem ausschließlich von Roma genutzten Strand an einem See in der Slowakei. Als wolle er einfach nur Teil von ihnen sein, kommt Leidenfrost immer wieder zum Baden zurück – gedankt wird es ihm mit Pöbeleien, Drohungen und einer geklauten Hose. Doch in seiner Sprache steckt viel Liebevolles und Selbstironisches, wenn er über die „Zigeuner“ – wie sie sich ihm gegenüber selbst nennen – schreibt, und er räumt ein: „Wie meistens, wenn ich vom Volk der Roma erzähle, geht das nicht ohne Entblößung meiner Intimität ab.“
Viele der Reportagen sind kurz – im Durchschnitt vier Seiten lang. Meistens erzählt der Autor rückblickend aus der eigenen Perspektive. In einigen Reportagen aber nimmt Leidenfrost seine Leser*innen sozusagen mit auf eine Expedition. Er schreibt dann im Präsens, wir erfahren, wo er sich befindet und erleben simultan mit dem Erzähler, was er erlebt. Ein journalistischer Kniff natürlich, aber er ist sehr wirkungsvoll – nicht nur Spannung, sondern auch Emotionen werden so erzeugt. Ein sehr gutes Beispiel hierfür ist die Reportage „Eine Schweinefarm in der Ukraine“. So harmlos der Titel klingt, so verstörend ist der Inhalt (es geht nicht um Massentierhaltung) und es fühlt sich an, als wäre man live dabei. Durch die Einbettung von O-Tönen der Menschen, die er trifft, gibt er seinen Reportagen, die sonst eher narrativ funktionieren, szenische Momente und dadurch wird der Effekt des Dabei-Seins verstärkt.
Abwechslungsreich werden Leidenfrosts Erzählungen auch durch seine variierenden Einstiege in die jeweiligen Texte. So beginnen manche Reportagen, die in der Retrospektive geschrieben sind, klassisch damit, welches Ziel er wann und warum aufsuchte. Andere hingegen stellen den Leser und die Leserin kurzweilig vor ein Rätsel, z.B. wenn er mit der Aussage beginnt: „Ich nenne nicht seinen Namen und seine Nationalität, ich erwähne nicht sein Aussehen und seine Position.“ Das weckt Neugierde und so viel sei verraten: Sie wird nicht enttäuscht.
Leidenfrost reflektiert nicht nur, sondern kommentiert auch. Er will Geschichten erzählen. Leidenfrost mutet seinen Leser*innen nicht zu viel politisches Vokabular zu – es bleibt in einem Rahmen, der für eine Sammlung journalistischer Texte angemessen ist. Weniger geläufige Begriffe wie „Sperrminorität“ dürften sich für die meisten Leser*innen dann aus dem Zusammenhang ergeben. Trotz der gut verständlichen Sprache schadet ein grundlegendes Vorwissen besonders über Osteuropa nicht – ist aber nicht zwingend Voraussetzung. Selten nimmt Leidenfrost sich die Zeit, Herkunft, Ursprung oder Verhältnisse einzelner Gruppen zu erläutern und auch die geografische Kenntnis dieses Kontinentes wird vorausgesetzt. Wenngleich die einzelnen Reportagen für sich genommen gelesen werden können und nicht in chronologischer Abfolge zusammengehörig scheinen, tauchen einzelne Personen mehrfach auf und manchmal lässt sich für den oder die Leser*in eine Verknüpfung zwischen Texten finden, was der Sammlung einen besonderen Reiz gibt.
Die einzige Reportage des Bandes, die Leidenfrost nicht aus seiner Sicht, sondern in der dritten Person erzählt, ist zweifellos am auffälligsten: „Im Kanton Nummer Zehn“ erfahren wir von einem Paar, das die Bosnische Kleinstadt Livno besucht, ein Ort, der wie so viele im ehemaligen Jugoslawien bis heute vom Krieg gezeichnet ist. Der Perspektivwechsel ist sympathisch, lässt Meinungen zu, die nicht von dem aufgeklärten Journalisten und Ost-Europa-Experten kommen, sondern von einem jungen Mädchen, das sich fragt: „Wie bedrückend muss das sein, hier zu wohnen, das da immer vor Augen zu haben.“ Die Antwort des Begleiters: „Auch das ist Europa.“
Europa ist toll, aber Europa ist auch schwächer, als es uns hier im wohlhabenden Deutschland vorkommt. Tendenzen, sich abzuspalten, gibt es überall, nicht alle sind potentielle Krisenherde, manche lösen vielleicht sogar ein Schmunzeln bei den Leser*innen aus, wie z.B. die orthodoxen Calvinisten im „Bibelgürtel“ der sonst so weltlichen Niederlande. Die Reise, auf die Martin Leidenfrost seine Leser*innen mitnimmt, kann Augen öffnen, kann uns mit Menschen vertraut machen, die uns bis dato völlig fremd waren. Es ist eine politische sowie emotionale Weiterbildung – etwas, das angesichts der heutigen Stimmung in Europa vielen gut tun würde, denn auch „Bei den Ertrunkenen“ hält Leidenfrost sich auf.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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