Auf dem „Weltenberg“

In Daniel Kehlmanns Erzählung „Du hättest gehen sollen“ verliert ein Autor den Boden unter den Füßen

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

So richtig ernst wird der Drehbuchautor, der mit seiner kleinen Familie in Daniel Kehlmanns Erzählung Du hättest gehen sollen ein paar Tage in den Bergen verbringt, nicht von seiner Frau genommen. Wenn er von seinem „Werk“ spricht, das auch in der Abgeschiedenheit eines für die drei Menschen viel zu großen, angemieteten Hauses nicht so recht vorangehen will, korrigiert sie ihn leicht boshaft: „Du meinst dein Drehbuch? […] Ein Drehbuch ist ein Werk, aber kein Werk. Nicht so wie du es aussprichst. Und Allerbeste Freundin II, nun ja.“ Sie hat studiert, er nicht. Sie kennt Wörter, die er erst nachschlagen muss. Und bei den allermeisten Dingen, die er tut – vom Autofahren bis zum Reparieren der Puppe seiner vierjährigen Tochter – ist ein Gefühl der Unsicherheit bei ihm im Spiel.

Keine guten Voraussetzungen für ein paar unbeschwerte Dezembertage an der frischen Luft. Statt der erhofften Erholung nimmt der Stress von Stunde zu Stunde zu. Und kulminiert, als er in dem achtlos von seiner Frau liegen gelassenen Handy Sprachnachrichten entdeckt, die darauf hindeuten, dass die bekannte Schauspielerin schon seit geraumer Zeit eine Affäre hat. So überraschend ist das freilich für ihn nicht. Plagen ihn doch sofort Komplexe, wenn er an die Geschichte ihrer Beziehung denkt: „Ich konnte kaum glauben, damals, dass ausgerechnet ich es sein sollte, den diese schöne, berühmte, rätselhafte Schauspielerin auserwählt hatte.“

Daniel Kehlmanns Erzählung Du hättest gehen sollen erinnert zu Beginn ein wenig an die Beziehungsgeschichten aus der Feder von Max Frisch. Mit der Frage „Bist du sicher?“ erschüttert etwa die weibliche Hauptfigur des kurzen Frisch-Textes Skizze eines Unfalls aus dem Tagebuch 1966-1971 ihren Partner so lange in seinem Selbstwertgefühl, bis der in der einzigen Situation, in der tatsächlich Zweifel angesagt wären, genau die falsche Entscheidung trifft und damit ihren Tod verschuldet. Ganz so weit kommt es bei Kehlmann nicht. Nachdem die Frau des Drehbuchautors nach der Entdeckung ihrer außerehelichen Eskapade für eine Nacht verschwindet, ist sie am nächsten Tag mit dem Versprechen wieder da, die ihr wenig bedeutende Affäre zu beenden. Er freilich fordert Zeit zum Nachdenken ein und bleibt, während Frau und Tochter wieder nach Hause fahren, im Haus in den Bergen zurück.

Du hättest gehen sollen endet mit einem Satz, der nach sieben Wörtern und ohne ein beendendes Zeichen abbricht: „Und dabei bin ich erst ganz am“. Danach folgen noch drei leere, aber nummerierte Seiten. Ob sie für einen Neuanfang oder eher für das endgültige Aus – wenn auch vielleicht nur das der Ehe – stehen, darf der Leser für sich entscheiden. Immerhin ist im vorletzten Abschnitt das Notizbuch noch da, in welches der Autor sowohl Ideen für sein Filmskript als auch Bemerkungen zu seiner aktuellen Situation geschrieben hat. „Weg!“, heißt es dort mehrmals. Später wird das zu „Geh weg, solang  […]“ und schließlich zu der titelgebenden Phrase „Du hättest gehen sollen. Jetzt ist es zu spät.“

Es ist wohl der an einer Stelle dieses Notizbuches erwähnte „Weltenberg“, an dem Kehlmanns Erzähl-Ich scheitert. Symbolisch steht dafür der Ort, den man sich für ein paar Tage der vorweihnachtlichen Entspannung ausgesucht hat. Von Anfang an erweist er sich als die falsche Umgebung, um mit sich ins Reine zu kommen. Statt der erhofften Ruhe werden die Protagonisten in der Bergeinsamkeit zunehmend nervös. Im Dorf am Fuße des gewählten Domizils gilt das einsame Haus dort oben als ein Unglückshaus. Vorherige Bewohner sollen über Nacht verschwunden sein. Gar einen Ort des Teufels nennen merkwürdig mundfaule Dörfler das Chalet. Und als sich Kehlmanns unsicherer Held – als Autofahrer ist er kaum in der Lage, die Serpentinenstraße den Berg hinauf zu bewältigen – entschließt, den Unglücksort zusammen mit der kleinen Tochter zu Fuß zu verlassen, steht er nach stundenlangem Herumirren in der Dunkelheit wieder am Ausgangspunkt seiner Flucht. Das Haus lässt ihn nicht los.

Daniel Kehlmann bedient sich, um die seelische Not seines Protagonisten zu verdeutlichen, etlicher tradierter Motive der Spukgeschichte. Das reicht vom fehlenden Spiegelbild des Ich-Erzählers über Persönlichkeitsspaltungen bis zu den ständigen Metamorphosen, die das von Anfang an bedrohlich wirkende Gebäude selbst durchzumachen scheint. Allein der Protagonist der Erzählung weiß: „Der Ort ist nicht böse, aber er ist eine Falle – wie eine Felsspalte, aus der du zunächst noch hinausklettern könntest, aber du siehst den Himmel über dir und denkst, es ist nicht gefährlich, daher trödelst du und siehst dich um, weil da interessante Kristalle sind, und als du dann doch hinausklettern willst, merkst du zu spät, dass du die Griffe nicht mehr findest.“

Du hättest gehen sollen changiert zwischen Ehegeschichte und Seelendrama eines Künstlers, dem nicht mehr gelingen will, was er als sein Lebenswerk begreift. Inwiefern das eine durch das andere bedingt ist, die Ehekrise das Schreiben blockiert oder das Schreiben die Ehekrise hervorgerufen hat, wird bis zum Ende nicht ganz klar. Die innere Bedrängnis aber, die der Ich-Erzähler zunehmend empfindet, verschiebt auch allmählich die äußeren Koordinaten seines Daseins. Nichts stimmt mehr um ihn herum. Die Wände wanken und jeder Weg hinaus ist ihm letzten Endes versperrt. Haltlosigkeit im Innern wird nach außen gespiegelt und produziert die geisterhaften Fantome, denen sich der Held ausgeliefert sieht. Und wie wären Letztere wohl besser zu fassen als mit einem Rückgriff auf das Arsenal der Gespenstergeschichte, zumal Gespenstisches in Daniel Kehlmanns Werk – siehe beispielsweise sein erstes Bühnenstück, Geister in Princeton (2011), oder die unter dem Titel Kommt, Geister! 2015 erschienenen Frankfurter Poetikvorlesungen des Autors – durchaus keine kleine Rolle spielt.

Titelbild

Daniel Kehlmann: Du hättest gehen sollen.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2016.
96 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-13: 9783498035730

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