Heimat – was ist das?

Die Rückkehr der Heimat in die Literatur

Von Christopher SchmidtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christopher Schmidt

Vorbemerkung der Redaktion: Im Alter von 52 Jahren ist in der Nacht zum 1. März 2017 „Christopher Schmidt plötzlich gestorben“, erfahren wir eben aus dem Nachruf von Sonja Zekri in der Süddeutschen Zeitung. Seit 2001 war er dort Feuilletonredakteur, zuletzt als Leiter des Literaturteils. – In der Oktober-Ausgabe 2015 haben wir auf einen Artikel von ihm verwiesen, der im Dezember 2011 auf der Website des Goethe-Instituts erschien und zu den ersten und besten gehört, die auf die Rückkehr der „Heimat“ in die Gegenwartsliteratur aufmerksam machten. Als der Essay vom Goethe-Institut etwas später aus dem Netz genommen wurde (wie alle nach einem geregelten Zeitablauf), haben wir Ende Februar 2016 zunächst dort gefragt, ob literaturkritik.de ihn weiter öffentlich zugänglich archivieren darf, und dann Christopher Schmidt selbst: „Wären Sie ebenfalls einverstanden, dass wir ihn bei literaturkritik.de als pdf-Datei oder in anderer Form wieder zugänglich machen?“ Seine Antwort: „natürlich bin ich einverstanden und freue mich riesig, wenn der Text noch mal zugänglich gemacht wird.“ Was dann vor einem Jahr als pdf-Datei ins Netz gestellt wurde, veröffentlichen wir nun in anderer Form erneut – aus traurigem Anlass und in dankbarer Erinnerung an diesen und viele andere vorzügliche Artikel von Christopher Schmidt.
Thomas Anz

Altötting und Ambach in Oberbayern, Stein bei Kronach in Unterfranken, Bresekow in Mecklenburg-Vorpommern, Rahnsdorf bei Berlin und viele andere namenlose Dörfer und kleine Ortschaften im Odenwald oder in der Wetterau, in Ostfriesland oder an der polnischen Grenze – sie sind die Schauplätze, an denen auffällig viele der neuen deutschen Romane spielen. Es sind stark autobiographisch geprägte Bücher von Autorinnen und Autoren wie Judith Zander und Jan Brandt, Daniela Krien und Andreas Altmann, Katharina Hacker, Andreas Meier und Julia Franck sowie von literarischen Debütanten wie dem Schauspieler Josef Bierbichler oder dem Filmregisseur Oskar Roehler. Die überschaubare, in sich geschlossene Herkunftswelt ist in diesen Romanen ein Mikrokosmos, der das Große im Kleinen spiegelt, Geschichte in Form von Geschichten behandelt. Gezielt fokussieren die Autoren einen begrenzten Weltausschnitt, um die Existenzbedingungen zu untersuchen, von denen sie erzählen.

Literatur funktioniert hier wie ein Brennglas, unter dem die Zusammenhänge von Zeit- und Lebensgeschichten deutlicher zutage treten. Denn im ländlichen Raum sind diese besonders gut zu erkennen. Die Dorfgemeinschaft bietet die Möglichkeit, an bestimmten Schicksalen exemplarisch die Wechselfälle und Umbrüche der Geschichte zu verhandeln wie den Fall der Berliner Mauer – die Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit bildet geradezu ein eigenes Genre in den aktuelleren belletristischen Neuerscheinungen, bei Peggy Mädler etwa oder Angelika Klüssendorf und bei Uwe Tellkamp sowieso.

Örtlich betäubt – das war die Nachkriegsliteratur

Die wichtigen Bücher des Jahres 2011 – sie rehabilitieren den Heimat-, ja genauer den Provinzroman. Man kann nicht umhin, in dieser Rückwendung auch eine Reaktion auf die Globalisierung zu sehen, von der sich der Einzelne überfordert fühlt. Hochabstrakt sind die Prozesse, die maßgeblich die heutige Wirklichkeit beeinflussen. Entscheidungen, die sehr konkret auf die Lebenswelt von uns allen einwirken, werden auf Ebenen gefällt, die sich der Wahrnehmung weitgehend entziehen. Die zunehmende Anonymität, die Internet und Internationalisierung mit sich bringen, beschert der Literatur ein Formproblem. In Menschen, die gesichtslos bleiben, kann man sich nicht einfühlen. Eine Wirklichkeit, an der starke zentrifugale Kräfte zerren, lässt sich kaum noch zwischen zwei Buchdeckel bannen. Wir alle hängen von Bedingungen ab, die nicht mehr durch einzelne Individuen symbolisch repräsentiert werden, die vielmehr überpersönlichen Charakter haben. Wie aber kann man davon erzählen, geht doch Erzählen immer vom Individuum aus? Angesichts der Entfremdung in den verflüssigten Lebensverhältnissen der Gegenwart ist es kein Wunder, dass sich Romanciers wieder verstärkt für Heimat und Herkunft interessieren, dass sie sich mit jenen Gegebenheiten der Existenz beschäftigen, die nicht zur Disposition stehen. Ein neues Bewusstsein für die Unhintergehbarkeit der eigenen Biographie lässt sich bemerken, eine Ahnung, dass das Leben überwiegend aus Prägungen besteht und nicht aus Freiheiten.

Der Glücksstress der Selbstverwirklichung, das Empfinden für die Beliebigkeit ungebundener Daseinsentwürfe setzt auch regressive Sehnsüchte frei: nach Stabilität und Gemeinschaft. Zumal jüngere Autoren suchen Halt in verlorenen Kontinuitäten und verleugneten Genealogien, rufen ihre Ahnen literarisch herbei. Wie eine Eisscholle fühlt sich der Individualismus an, da erscheint die Nestwärme verortbarer Biographien verlockend. Vorbei sind die Zeiten, da das einsame Ich der stolze Selbstversorger der deutschen Literatur war. Dieser Typus von Emanzipationsprosa ist passé. Vor allem in den siebziger und achtziger Jahren kam das meist dörfliche Herkunftsmilieu nur als dunkler Hintergrund vor, als ideologisch kontaminierter Sumpf, aus dem es sich am eigenen Schopf herauszuziehen und als freier Mensch zu behaupten galt. Modell des damaligen Schreibens war die road novel nach dem Vorbild von Jack Kerouacs Kultroman Unterwegs. Es ging dabei um die Flucht aus der Enge der Herkunftswelt und darum, sich Weltläufigkeit und Unabhängigkeit zu erwerben. Die Nachkriegsliteratur war in Punkto Heimat, um es mit dem Titel eines Romans von Günter Grass zu sagen, „örtlich betäubt“.

Der Flurschaden der literarischen Amnesie

Das Misstrauen gegenüber den Vorfahren und die daraus resultierende Gegenwartsfixierung der Nachkriegsliteratur war eine Reaktion auf die Blut-und-Boden-Propaganda der Nationalsozialisten. Diese hatten „Heimat“ als ebenso emphatischen wie missverstandenen Kampfbegriff instrumentalisiert und damit vergiftet. Nach dem Krieg wollte man alle Verbindungen zur Vergangenheit kappen und sich neu erfinden im Geiste aufgeklärter Demokraten. Damit aber hat sich die Kultur auch um das Bewahrenswerte ihres Erbes gebracht.

Die deutsche Literatur war traditionell immer eine regionale. Nicht nur als Nation, sondern auch als Sprach- und Kulturgemeinschaft hat sich Deutschland später gefunden als seine europäischen Nachbarn. Der heutige Föderalismus ist Ausdruck einer dezentralen Verfasstheit, in der die Städte und Regionen miteinander konkurrieren. Schiller und Goethe sprachen beide mit starkem Dialekteinschlag, Schwäbisch der eine, Hessisch der andere. Und alle großen Romanciers waren von Landschaft und Mentalität ihrer Herkunft geprägt, Theodor Fontane von Brandenburg, Thomas Mann von Lübeck. Daran hat sich auch nach dem Krieg nichts geändert. Was wäre Uwe Johnson ohne Mecklenburg-Vorpommern, Grass ohne Danzig, Kempowski ohne Rostock und Böll ohne Köln? Und doch sank der mit einem Tabu belegte Heimatbegriff in die Trivial-Kultur ab.

Wird die deutsche Literatur wieder deutscher?

Der sogenannte Heimatfilm bemächtigte sich des Heimatbegriffs. Romantische, idyllisierende und zutiefst eskapistische Phantasien einer heilen Welt wurden da bedient, die Verwerfungen der Geschichte einfach ausgeblendet und verdrängt. Es ist daher kein Zufall, dass es gerade ein Filmregisseur war, der gegen die Vereinnahmung des Heimatbegriffs aufbegehrte. Programmatisch schon der Titel von Edgar Reitz‘ epischer Trilogie: Heimat. Der monumentale Zyklus ist Dorf-Saga und Chronik deutscher Geschichte zugleich. Am Beispiel der fiktiven Gemeinde Schabbach im Hunsrück wird Deutschlands Weg in den Nationalsozialismus und den Krieg, vom Wiederaufbau über das Wirtschaftwunder bis zum Mauerfall geschildert. Reitz lieferte damit eine Vorlage für die aktuelle deutsche Literatur. Diese verklärt die Vergangenheit nicht, aber sie scheut auch nicht davor zurück, in ihr eine mythische Kraft zu sehen.

Georg Klein, Oskar Roehler oder auch Katharina Hacker greifen auf Elemente magischen Erzählens zurück. Bei ihnen steht die Provinz für Ursprünglichkeit und Ungebrochenheit. Das kommt in Sprachbildern zum Ausdruck, die bewusst archaisch gewählt sind. „Der Sommer war meine Heimat. In ihm tummelte sich mein Körper. Er weckte mich am frühen Morgen und füllte mich mit Begeisterung“ – mit großer Emphase beschreibt Oskar Roehler in seinem Roman Herkunft das Lebensgefühl seines jugendlichen Helden, den er als edlen Wilden darstellt. Und in Katharina Hackers Eine Dorfgeschichte ist es ein nicht näher bestimmtes „Wir“, ein diffuses Kollektiv, das die hier ebenfalls großen Sommer der Kindheit heraufbeschwört. Damit stehen die genannten Autoren auch für Erzählstrategien, die dem verschulten Kunstgewerbe aus dem akademischen Schreibseminar eine neue, lange unterdrückte Expressivität entgegensetzen. Sie stellen sich gegen ein international austauschbares, allseits kompatibles Schreiben – insofern wird die deutsche Literatur gerade auch wieder ein bisschen deutscher.

Dass die Literatur aus Island, dem Gastland der Frankfurter Buchmesse 2011, in Deutschland besonders viele Leser findet, ist daher ebenfalls mit dem wieder erstarkten kulturellen Provinzialismus zu erklären. Global betrachtet ist Island so etwas wie das kleine Dorf unbeugsamer Gallier aus dem Asterix-Comic, das dem Imperium der Weltwirtschaft trotzt und mit dem man sich gerne identifiziert. Unter der Regierung einer bunt-anarchischen Schar von Künstlern und Quereinsteigern erholt sich die Insel derzeit von der Finanzkrise, besinnt sich auf seinen reichen literarischen Schatz an Sagen und Legenden, während in ihren Tiefen die Vulkane brodeln. Dass unsere Zivilisation nur eine dünne Kruste bildet, die auf kochenden Naturgewalten schwimmt – dieses Wissen um die archaischen Kräfte bestimmt derzeit auch das literarische Klima. Autoren haben die überindividuellen Mächte als Ressource ihres Schreibens wiederentdeckt. In Zeiten, in denen die Zukunft vollends unsicher scheint, ist die Vergangenheit das einzige, was einem keiner nehmen kann. Das isländische Lebensgefühl ist allumfassend geworden.

Text: Christopher Schmidt, Feuilleton-Redakteur der Süddeutschen Zeitung, München Dezember 2011. Erneute  Veröffentlichung in literaturkritik.de (zuerst als pdf-Datei im Februar 2016 und wie die Erstveröffentlichung illustriert) mit freundlicher Genehmigung des © Goethe-Instituts und des Autors.