Die Vergangenheit der Zukunft
In Zsuzsa Bánks neuem Roman „Schlafen werden wir später“ verzweifeln zwei Frauen an ihrer Gegenwart
Von Bernhard Walcher
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseErwartungshaltungen gegenüber einem neuen Roman sind gerade im Falle von Autoren, deren letztes größeres Werk nicht nur ein fulminanter Erfolg, sondern auch ein großes Leseerlebnis gewesen ist, sicherlich schlechte Ratgeber, wenn es um die Beurteilung des Neulings geht. Hier muss man aber gleich vorweg sagen: Zsuzsa Bánks neuer Roman muss und kann sich gar nicht mit seinem Vorgänger Die hellen Tage (2011) messen, weil er rein gar nichts mit diesem zu tun hat. Es fehlt diesem neuen Roman sowohl die Komplexität der Figurenzeichnung und die poetische Sprache als auch der Einfallsreichtum. Mit seinen knapp 700 Seiten ist er schlichtweg zu lang für das Wenige, was er an Innenleben seiner beiden weiblichen Hauptfiguren und an Beobachtungen zu bieten hat. Die Frage darf erlaubt sein, ob der Text nicht tatsächlich besser geworden wäre, wenn sich die vielen, hart an der Grenze zum Kitschigen und Rührseligen bewegenden Herzensergießungen, Seelenprotokolle und intimen Ergüsse der beiden Frauenfiguren nicht auch noch permanent wiederholt hätten.
Über etwas mehr als drei Jahre, von März 2009 bis Juni 2012, verfolgt der Leser in diesem als E-Mail-Roman in die Gegenwart übersetzten Briefroman – was seit Daniel Glattauers Gut gegen Nordwind (2006) nun auch keine besonders originelle Erfindung ist – die Korrespondenz von zwei 1967 geborenen Freundinnen, von denen die eine die von Familie, Kindern und ihrer Psyche am Schreiben gehinderte, in der Großstadt lebende Schriftstellerin Márta Horvath und die andere die an Krebs erkrankte Deutschlehrerin Johanna Messner ist, die seit Jahren ihre angefangene Dissertation zu Anette von Droste-Hülshoff nicht zu Ende bringt und im selbstgewählten Einsiedlerexil im tiefsten Schwarzwald lebt, der – man kann die Stellen kaum zählen – stets nur „der schwarze Wald“ oder „mein schwarzer Wald“ genannt wird.
Immer wieder werden meist nichtmarkierte, nur als Kursiva als solche erkennbare Droste-Zitate und Versatzstücke von Gedichten und Texten zahlreicher anderer Autoren wie Rainer Maria Rilke oder Mascha Kaléko in die Nachrichten eingefügt. Man freut sich als Leser natürlich, wieder an Droste-Hülshoffs großartiges Gedicht Die Unbesungenen erinnert zu werden oder an Rilkes Der Abend kommt von weit gegangen, doch ist man angesichts der Fülle der eingestreuten und in die Figurenrede einfach integrierten Zitate schnell entnervt und auch verärgert, weil die Kommunikation der beiden Freundinnen damit eine Tendenz zum codierten Sprechen gewinnt und sich vor dem Leser gewissermaßen verbarrikadiert. Was für die konstruierte fiktionale Welt im Hinblick auf die Darstellung von Intimität der beiden Hauptfiguren ein guter Einfall sein mag, gerät rezeptionsästhetisch zum Fiasko: Die vorgeführte Vertrautheit der beiden soll Authentizität suggerieren, lässt den Leser oft genug aber peinlich berührt zurück. Es wird einem auch schon nach dem zehnten Droste-Zitat klar, dass die arme Johanna in der Vergangenheit gefangen zu sein scheint und außerdem unglaublich belesen ist. Einen echten doppelten Boden oder eine symbolische Lesart dieser Frauenleben eröffnen sowohl die Droste-Zitate als auch der regelrecht aufgedrängte Vergleich dreier Frauenleben über die Jahrhunderte hinweg nicht.
Das war in dem Vorgängerroman Die hellen Tage anders. Der Text lebte vor allem von der dichterisch-poetischen, ungeheuer suggestiven Sprache sowie den immer wieder überraschenden Einfällen und Motiven und verstand es, Alltagserzählungen von Liebe, Familie und Freundschaft in einem geradezu magischen Realismus in der Gegenwart zu verankern. All das fehlt Bánks neuem Roman und er bleibt bildlich, intellektuell, gedanklich und kompositorisch weit hinter seinem Vorgänger zurück. Es soll nicht ungerecht erscheinen, aus einem 700-Seiten-Roman einzelne Sätze herauszugreifen und als Beispiele dieser Tendenz zum Weinerlichen heranzuziehen. Leider existieren Passagen wie „dein dralles, überdralles Leben scheint grell auf mein lächerlich sortiertes“ oder „die schönste Kerze, die der schwarze Wald zu bieten hat, soll mein Miamolkemädchen haben“ oder „richtig, wir wollen die kleinen Dinge nicht vergessen, das haben wir uns vorgenommen, also schreibe ich Dir von einem kleinen Ding, Deine Mia-Molke hat ein Diktat ohne Fehler geschrieben“ in unzähligen Varianten.
Bánks Briefroman als E-Mail-Roman erscheint formal als Text, dessen an den Kommunikationspartner gerichtete Mitteilungen nicht in Form von Briefen mit Anrede und Absenderdatum präsentiert werden, sondern als E-Mail mit Sendedatum und Uhrzeit versehen sind. Viel genauer als Briefe also sind diese elektronischen Nachrichten damit schon markiert, ohne dass der Emailschreiber eigens erwähnen muss, ob es sich um eine nächtliche Mitteilung oder die Nachricht kurz vorm Frühstück unter Zeitdruck handelt. Die gewählte moderne Fassung einer alten Gattung füllt Bánk allerdings nicht mit modernem Inhalt, sondern die beiden Freundinnen wirken wie Wiedergänger aus rührenden Schauspielen oder empfindsamen Romanen des 18. Jahrhunderts. Natürlich sind die beiden Figuren, könnte man einwenden, gerade so angelegt und sollen damit die Verlorenheit in ihrer eigenen Gegenwart verdeutlichen, aus der sie nicht müde werden, zu fliehen. Das Ganze geht aber sprachlich nicht auf. Zu platt und eindimensional ist das in sprachlicher Mimikry aufgewärmte Freundschaftspathos. Immer wieder rufen sich die beiden zurückliegende Erlebnisse, Verletzungen, die frühen Verluste naher Angehöriger, Beziehungsprobleme auch angesichts der Krebserkrankung Johannas und ihre alten Freundschaften in Erinnerung. Doch wirkt das, was sich die beiden da schreiben, nicht wie etwas Erlebtes, sondern nur wie etwas Erzähltes. Und dieses Erzählen enthält auch ständig zum Einsatz gebrachte Nominal-Komposita wie Márta-Leben, Droste-Meer, Markus-Briefe, Lori-Leben oder Márta-Kosmos, die dem Leser die Lektüre immer wieder aufs Neue verleiden.
Dass dem Roman auch Welthaltigkeit nahezu an jeder Stelle fehlt, muss kein Nachteil sein. Auch Texte, die den Bezug zu ihrer Gegenwart und Zeitgeschichte bewusst verweigern, können gelungen sein, wenn sie dafür sprachlich überzeugend die psychopathologischen Innenleben, die Ängste und Zwangsvorstellungen ihrer Protagonisten überzeugend darstellen. Literarisierungen von Langeweile oder Banalitäten des Alltags sollten allerdings auf der Hut sein, nicht selbst langweilig oder banal zu werden.
Dabei gibt es durchaus überzeugende Passagen und Ansätze, die an die Stärken von Die hellen Tage erinnern. Etwa in der Mitte des Romans erfährt man beiläufig etwas über die Familiengeschichte der aus Ungarn stammenden Márta und die alltäglichen Abschiede, wenn man sich besucht hat und die sich immer zu tränenreichen Situationen auswachsen, weil die Eltern am Gartentor oder am Hauptbahnhof den alles entscheidenden, traumatischen Abschied ihres Leben – 1956 in Ungarn – immer mitbeweinen. Gerade solche Stellen machen deutlich, wie viel erzählerisches Potenzial die Autorin hat, die mit wenigen Worten einen ganzen Gefühlskosmos sichtbar werden lassen kann und den Biografien ihrer Figuren eine Tiefe zu verleihen vermag, die viel überzeugender ist als die die E-Mails der beiden Hauptfiguren, die alles zerreden. Es sind die Nebenfiguren und Nebenschauplätze wie der Tod von Claus, dem Mann der gemeinsamen Freundin Kathrin, bei der Johanna gelegentlich im Blumenladen arbeitet, die zu den besten Teilen des Romans gehören. Auch in der Darstellung, wie man mit Toten lebt, wie Trauer den Menschen lähmt und das Ich vernichtet, wird die Könnerschaft der Autorin noch einmal greifbar. Viel glaubwürdiger auch als Márta und Johanna sind diejenigen Figuren, die als schwebende Personen gezeigt werden, die nicht zu den aalglatten Gewinnern und Machern, aber auch nicht zu den offensichtlichen Verlieren des Lebens und der Gesellschaft zählen – ein Einteilungsmodell, das die beiden Emailpartnerinnen nur zu gerne und immer wieder bemühen. Mehr als in allen aufgedrängten Droste-Johanna-Márta-Parallelen erweist sich die Freundin Kathrin, für die alles „immer schon geschehen“ ist und die nur im „Futur zwei“ lebt, in der Beschreibung Johannas als symptomatische und vor allem glaubwürdige Figur, die das verkörpert, was die Autorin wohl an den anderen beiden Freundinnen zeigen wollte.
Die Kernidee des Romans, zwei Frauenleben mit unterschiedlichen Lebensentwürfen und in unterschiedlichen sozialen Milieus zu zeigen, deren Erinnerung an die gemeinsam verbrachten Jugend- und Studienjahre alle räumlichen Distanzen zu überwinden vermag, scheitert nicht zuletzt an der fehlenden Tiefendimension der beiden E-Mail-Partnerinnen und ihrer Neigung zur Sentimentalität. Schlafen will man als Leser über weite Strecken des Romans lieber oft sofort als später.
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