Aberglaube und Apokalyptik als Kunstgewerbe

Feridun Zaimoglu ist mit seinem Luther-Roman „Evangelio“ gescheitert

Von Norbert MecklenburgRSS-Newsfeed neuer Artikel von Norbert Mecklenburg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist kein Wunder und auch keine Schande, wenn ein Literatur-Autor am Gegenstand Martin Luther scheitert. Luther als ein welthistorisches Individuum ist nicht nur eine der komplexesten, sondern auch bestdokumentierten und -erforschten Gestalten der deutschen Geschichte, die einem Dichter wenig Spielraum gibt und an ihn zugleich hohe Anforderungen stellt. Darum sind seit 500 Jahren fast alle Versuche, den historischen in einen poetischen Luther zu verwandeln, gescheitert. Die meisten der Autoren waren diesem Gegenstand schon sprachlich und intellektuell nicht gewachsen. Das hat natürlich die Ansichten des Reformators beschädigt, die sie im literarischen Medium anboten. Allenfalls ist es in diesem oder jenem Fall interessant, auf welche Weise und auf welchem Niveau sie gescheitert sind. In ungünstigem Fall kann man fragen, warum ein Autor nicht aufgegeben hat, sich an Luther zu versuchen, in noch ungünstigerem, warum ein Verlag seinen missratenen Versuch zum Druck gebracht hat.

 Diesen letzteren Fall stellt der Roman Evangelio von Feridun Zaimoglu dar, der sein Produkt im Untertitel ausdrücklich einen „Luther-Roman“ nennt. Als ein solcher soll dieser darum hier auch vorgestellt und bewertet werden, nicht als typisches Produkt aus der Roman-Manufaktur Zaimoglu. Der Autor hat seinen Erzählversuch um das ebenso beliebte wie ausgeleierte Motiv „Luther auf der Wartburg“ arrangiert. So knipste vor genau 100 Jahren Friedrich Lienhard für sein gleichnamiges Drama über dieser Episode neuromantisches Kunstlicht an. So präsentierte vor mehr als zwei Jahrzehnten Hans Christoph Buch Martin Luther in der Erzählung Der Hintern des Teufels in seinem Buch Der Burgwart der Wartburg in satirischer Absicht durch die Brille eines ewigen Überwachers. Erzähltechnisch ist das fast schon der Ansatz Zaimoglus: Dessen Ich-Erzähler ist ein vom Kurfürsten als Leibwächter Luthers bestallter Landsknecht namens Burkhard, ein roher, ungebildeter Gewaltmensch und Macho, der seinen Job korrekt, aber widerwillig ausführt. Denn er selbst ist und bleibt papsttreuer Katholik, der in Luther nichts als einen verirrten „Ketzer“ sieht.

 Historisch gesehen, stellt dessen Wartburgzeit eine äußerlich zwar ruhige, geistig aber sehr spannungsvolle und zugleich fruchtbare Phase dar: Durch Acht und Bann auf dem Reichstag in Worms gerade als „Ketzer“ mit Verhaftung und Tod bedroht, von seinem Landesherrn darum fürsorglich auf die Wartburg als vorläufiges Asyl entführt, dort elf Monate lang inkognito als „Junker Jörg“ lebend, verfasste Luther eine ganze Reihe weiterer Schriften, stand in regem Briefwechsel vor allem mit seinen Freunden und übersetzte das Neue Testament ins Deutsche, ehe er, gegen den Willen des Kurfürsten, aus der „verhassten Einsamkeit“ nach Wittenberg zurückkehrte – die mutigste Tat seines Lebens (Richard Friedenthal) –, um die dortigen religiösen, kulturellen und sozialen Unruhen bekämpfen zu helfen. Körperliche und seelische Krisen – für Luther „Anfechtungen“ – während dieser erzwungenen Monate auf der Wartburg kamen jedoch nicht, wie frühere, durch die er zum Reformator reifte, aus Zweifel in Bezug auf die Gnade Gottes, sondern auf die Übermacht der Reformationsfeinde. Dagegen stellte er, wie seine Schriften und Briefe belegen, seinen unbedingten und unbeirrbaren Glauben an das wiederentdeckte „Evangelium“.

 Diese biografischen Umrisse der Wartburg-Episode muss man sich vergegenwärtigen, um beurteilen zu können, was Zaimoglu daraus gemacht hat. Er bringt nur die ersten sieben Monate: von Mai bis Dezember 1521. Die „Wittenberger Unruhen“, auf die er das Geschehen zulaufen und sich zuspitzen lässt, zeichnen sich erst ab. Die Erzählung bricht mit Luthers kurzem, heimlichem Besuch in Wittenberg und seiner Rückkehr auf die Wartburg abrupt und unmotiviert ab. Luthers dann erst einsetzende Hauptarbeit dort, die Bibelübersetzung, kommt nur andeutungsweise vor. Die eigentliche Handlung dieser ereignisarmen Lebensphase Luthers: seine geistige Arbeit, hat Zaimoglu, wohl weil sie in der Tat nur schwer erzählbar ist, bis zur Unkenntlichkeit reduziert: Der Reformator erscheint unablässig als ein „Toller“, ein pathologisch von Aberglaube, apokalyptischen, das heißt die nahe Endzeit erwartenden Obsessionen und vor allem ständig von Teufelsangst Heimgesuchter, der seine Botschaft vom Evangelium, an das er sich klammert, zwanghaft verfestigt und ideologisiert. Er ist mit sich selbst nicht im Reinen, voller Widersprüche: So führt er zum Beispiel einerseits einen Exorzismus durch, andererseits überführt er eine Stigmatisierte des Betrugs. Vor seiner Teufelsangst flüchtet er sich in Obrigkeitshörigkeit, Humanisten-Schelte, Judenhass – eine extreme Verzeichnung der geistigen, religiösen und psychischen Situation des historischen Luther während seines Wartburg-Jahrs.

 Diese völlige Entstellung des Lutherbildes könnte allerdings durch die Makrostruktur des Romans, oberflächlich gesehen, teilweise relativiert erscheinen. Denn Zaimoglu lässt mit Leibwächter Burkhard einen testimonialen, das heißt als Zeuge auftretenden Ich-Erzähler sprechen, also eine Vermittler-Figur mit ihrer subjektiven, begrenzten, in diesem Fall: äußerst begrenzten Perspektive. Der Autor zeigt Luther nicht, wie es zum Beispiel Heinrich von Kleist in seinem erzählerischen Meisterwerk Michael Kohlhaas tat, als Nebenfigur – die goldrichtige Entscheidung beim Erzählen von bekannten historischen Personen –, sondern als die eine Hauptfigur vor und neben der anderen, sie vermittelnden Leibwächter-Figur. Diese ist in schlechtem Sinne eine Kunstfigur: Als Person prägt sie der unglaubwürdige Widerspruch von auftragsgemäßer Luthertreue, religiöser Papsttreue und manchmal geradezu aufklärerischen Positionen, zum Beispiel in Hinblick auf Juden. Ihre unstimmige erzählerische Modellierung verhindert produktive Distanz-Effekte, sie bewirkt nur haarsträubende Reduktion historischer und geistiger Komplexität. Als Erzähler hängt die Figur zudem in der Luft: In welcher Situation und aus welchen Motiven erzählt dieser Burkhard? Wem teilt er alles mit, mündlich oder schriftlich? Ist er etwa kein Analphabet? Und wer, wenn nicht er, besitzt und vermittelt die Serie von eingeschobenen Lutherbriefen?

 Diese Entstellung des Lutherbildes wird in keiner Weise dadurch relativiert, dass Zaimoglu, in Fake-Manier, diese Briefe in die Burkhard-Erzählung einschiebt und im Druckbild von ihr abhebt. Diese neun Briefe – dazu ein Selbstzeugnis, dessen Status unkenntlich bleibt – sind fiktiv, aber nach Stil, Adressaten, Beigaben wie Anrede und Datum auf authentisch getrimmt. Einige Briefdaten stimmen, aber nicht die Texte und Adressaten. Tatsächlich hat Luther auf der Wartburg mindestens 36 Briefe geschrieben, fast alle auf Lateinisch, die meisten an Georg Spalatin und Philipp Melanchthon – das wenigstens übernimmt Zaimoglu –, aber ein Drittel auch an andere, zum Beispiel an weitere Reformatoren-Freunde, an seinen Vater, Erzbischof Albrecht von Mainz, Herzog Johann von Sachsen. In den erfundenen Briefen gibt sich Zaimoglus Luther nicht nennenswert anders als in der Sicht seines Bewachers kund, das heißt überwiegend als vom Teufel geängstigter Psychopath mit entsprechend wirren und abgerissenen Äußerungen, in deren Rahmen einige authentische Luther-Zitate wie verirrte Fremdkörper wirken.

 Dabei hilft es nicht, dass der Autor dem Erzähler Burkhard natürlich viel Material aus Biografien und echten Luther-Briefen in den Mund gelegt hat. Denn dieses wird oft verfälscht, zum Beispiel Aussagen über körperliche Beschwerden, insbesondere das zeitweilige Leiden an schwerster, quälender Verstopfung. Vor allem darauf bezieht sich Luthers ebenso drastisches wie selbstironisches Reden von den „Anfechtungen des Fleisches“ und nicht, wie Zaimoglu wiederholt und anzüglich suggeriert, auf Sex. Luthers Aussagen über Aufruhr und Obrigkeit, zum Beispiel in seiner Schrift Treue Vermahnung, sind nicht demagogisch wie bei Zaimoglu, sondern argumentieren glasklar, wenn auch konservativ. Seinen „Kampf mit dem Teufel“, also vor allem mit seinen religiösen Feinden, hat er nicht, wie die Luther-Figur in Evangelio, obsessiv, sondern ganz rational angesprochen, wenn auch mit drastischer Metaphorik. Den Teufel „mit Tinte vertreiben“ hieß einfach: für das Evangelium schreiben. Luthers Mut war wie in Worms auch auf der Wartburg weitaus größer als seine Angst.

 Das ist also meilenweit entfernt von dem vor Teufelsangst geradezu verrückten Zaimoglu-Luther. Von Sünden redete der historische weniger, wie dieser, persönlich, als vielmehr exemplarisch; allenfalls bekannte er ironisch Sünden, die er gar nicht beging. Den theologischen Humor des berühmten brieflichen Zuspruchs an Melanchthon: „pecca fortiter“ (auf Deutsch  „sündige wacker“; im Brief vom 1.8.1521), verschiebt und verdirbt Zaimoglu zu einer nichtssagenden Selbstaussage. Und Luthers absolute Hauptbeschäftigung, das Schreiben, erscheint in dem Roman extrem reduziert auf die beschränkte Sicht des Leibwächters und Erzählers: Der „Ketzer“ kritzelt unablässig „Runen“ und „Staben“ aufs Papier.

 Wenn bei diesem Roman überhaupt von Handlung gesprochen werden kann – denn das reale Wartburg-Geschehen bestand, wie gesagt, fast nur aus Luthers geistiger Arbeit, von der hier aber so gut wie nichts angemessen sichtbar wird –, so allein in Hinblick auf eine Reihe von Episoden um die Erzähler-Figur Burkhard, unter Einbeziehung von Nebenfiguren wie dem Burgpersonal, vom Hauptmann bis zur Magd, oder aus der Umgebung. Es gibt, mit und ohne Junker Jörg, Ausflüge in den Wald, nach Eisenach, Episoden um einen „Affensinnigen“ (Geisteskranken), den städtischen Henker, die Hure Else, den „Zinker“, einen Bandenchef, um Räuber, Bauern, einen Zigeuner und „Bettlerkönig“, den Burkhard auftragsgemäß umbringt. Die immer gleichen, folkloristisch vorgeführten Leitmotive dabei sind Rohheit, Gewalt, Grausamkeit, Aberglaube an Teufel, Dämonen, Zauberei und Hexen. Zwei dramatische, aber unhistorische Zuspitzungen bei den Wittenberger Unruhen, also der Radikalisierung der Reformation, hat sich Zaimoglu unplausibel ausgedacht: Sein Luther will Thomas Müntzer ermorden lassen, obwohl der reale Luther an Müntzer gerade dessen Gewaltbereitschaft für das Evangelium ablehnte. Und sein Burkhard verhindert einen Mordanschlag auf Luther in Wittenberg, indem er den Verdächtigen seinerseits ermordet.

 Luthers Denken und Lehren erscheinen in diesem Roman, wo sie überhaupt angesprochen sind, statisch homogenisiert, enthistorisiert und in die Wartburgzeit vorverlegt. Das betrifft sowohl seine Obrigkeitslehre – Stichwörter aus der Schrift von 1526 über Kriegsleute fallen in einem Gespräch mit dem Burghauptmann von Berlepsch – als auch seine Beziehung zum Humanismus und seinen theologischen Judenhass. Zaimoglu, dessen Luther es arg mit den Deutschen oder „Teutschen“ hat, wie es ständig heißt, projiziert verfälschend die nationalistische Linie eines traditionellen Lutherbildes auf Luthers eigenes Denken. Was die Juden betrifft, so hat der Autor das Thema an der erfundenen Figur eines jüdischen Wundarztes festgemacht, der mehrmals auf die Wartburg gerufen wird. (Der historische Luther dagegen hatte, weil die von Spalatin geschickten Medikamente ihm nicht halfen, einen heimlichen Arztbesuch in Erfurt erwogen.) Im Prinzip nicht falsch wird Luthers durchgehende Judenfeindschaft in einer ganzen Reihe von Passagen herausgestellt, jedoch wieder in statisch enthistorisierender Weise, mit üblen Äußerungen des späten Luther. Dadurch fallen aber die relativ guten, leider nur vorübergehenden Ansätze Luthers gerade in den Jahren 1521 bis 23, den mittelalterlichen Antijudaismus zu überwinden, zum Beispiel in seiner Schrift zum Magnificat aus der Wartburgzeit, unter den Tisch.

 Besonders befremdlich, ja anödend an diesem Roman ist, dass er nicht nur allgemein vor Rohheit, Gewalt, Grausamkeit nur so strotzt, sondern auch durchgehend androzentrisch geprägt ist: Der traditionell religiösen Misogynie des Mönchs Luther – vier Jahre vor seiner Heirat und Familiengründung – wird ausgerechnet Landsknecht Burkhards extreme sexistische Frauenverachtung gegenübergestellt – ganz ohne Gegengewichte zu beiden männlichen Fehlhaltungen. Evangelio ist ein „Männerroman“ der ödesten Art: Frauen kommen nur als Huren, Hexen und Opfer vor, nicht als Subjekte. Allerdings hat Zaimoglu, selber als Mensch und Mann möglicherweise emanzipiert, zart und liebevoll, als Schriftsteller schon immer gern und oft den Macho herausgekehrt.

 Nun könnte er sich natürlich auf die Differenz von Erzähler-Figur und Autor herausreden: Burkhard sei eben in seiner Art genauso nervend wie sein Bewachungsobjekt Luther. Und er könnte auf diese Weise die sehr beschränkte und einseitige Sicht dieser Figur als Ausrede dafür benutzen, dass der Roman die Komplexität der historischen Persönlichkeit Luther ebenso extrem wie langweilig reduziert. Alle Mängel und Fehler seines eigenen Erzählprojekts könnte er auf die Erzähler-Figur abschieben. Allein, dann fragt sich eben, wozu das ganze Projekt dienen soll. Denn nirgendwo gibt es in diesem Roman Elemente, die kompensieren könnten, dass dieser Erzähler seinem Gegenstand geistig und menschlich in keiner Weise gewachsen ist. Am wenigsten leisten das die von Zaimoglu erfundenen Lutherbriefe. Sie sind von der gleichen breiigen Konsistenz wie der Burkhard-Sound.

 Das liegt vor allem daran, dass beide Teile und beide Hauptfiguren des Romans dieselbe Sprache bieten: sich derb und drastisch gebend, aber zugleich gewollt und eigenwillig archaisierend, eine durch und durch künstliche, ja papierene Sprache. Sie ergeht sich in Rohheit und wilder Bildlichkeit, kommt stilistisch aber über Kunstgewerbe und Edelkitsch nicht hinaus. Zaimoglu, der schon seit je seine wendige Mundfertigkeit mit poetischer „Sprachmacht“ verwechselt hat, ist nicht nur geistig, sondern auch sprachlich an seinem Gegenstand Luther gescheitert, dem Gegner wie Verehrer mit Recht zubilligen, ein Sprachgenie gewesen zu sein. Evangelio suhlt sich geradezu sowohl in Gewalt- und Hass-Phänomenen als auch in entsprechender Sprache: „Sein Gesicht ist am Abtritt gedüngt und gewachsen“. – „Ratte und Sau sind Adel, sie haben unser Menschtum geknebelt“. Nicht besser klingen Beispiele für den gedrechselten Stil literarischen Kunstgewerbes der Marke Zaimoglu: „Kratzt mit der Feder Runen, als würd der Dämon der Macht ihm Zauberziffern in den Geist bluten“. – „In kommende Kämpfe mengt sich der Frater, ohne zu wissen, wen er zum Kampfe peitscht“ – „Ihm geht das Maul auf, wenn der Wein eingeht. Da spricht er Pfaffenlatein, die Worte schwimmen empor“. – „Ist er ein heulender Hexer, in Christus gewandet, ein blutender Stumpf, gewachsen im Sündensumpf?“ – „Lüg und Legende scheidet er von Heilands Helligkeit“ (hier wie auch anderswo merkwürdig muffige Stabreime).

 Die Sprache Luthers wie seiner Zeit wird im Roman reduziert auf eine quälend banale Ebene: wirr, vulgär, forciert grobianisch, effekthascherisch zurechtgemacht. Und alles wird in die gleiche Sprachsoße eingetaucht: Selbst der feinsinnige Melanchthon nennt da einen potenziellen Verräter einfach, die Landsknecht-Sprache nachplappernd, „Sau“. Gezwungene, funktionslose Sprachspiele wie zum Beispiel statt „Volk“ „Volkstum“ und andere stilistische Tümlichkeiten übersäen das Buch. Schlicht peinlich aber sind simple Sprachfehler wie schon das Titel-Wort „Evangelio“, das auch in anderen grammatischen Fällen immer in dieser Dativform erscheint. Das kann nicht als O-Ton des Laien und Nicht-Lateiners Burkhard gelesen werden, denn auch Zaimoglus Luther macht diesen dummen Fehler. Ebenso peinlich ist es, wenn da – in einem der wichtigsten Bibelzitate in Luthers Mund – fälschlich steht: „Der aus Glauben Gerächte wird leben“ und nicht der „Gerechte“ – was soll das? Sprachliche und sachliche Schlampigkeit verraten auch andere Fehler wie zum Beispiel dieser: Augustinus habe gelehrt, jedes ungeborene (anstatt: ungetaufte) Kind gehöre dem Teufel, oder: „Einundfünfzigster Psalter“ (anstatt: Psalm), oder „den Wams“ (anstatt: das Wams). Hier wie anderswo hat nicht nur der Autor, sondern auch der Lektor geschlafen.

 Andere Autoren haben sich nicht gescheut, mit literarisch dürftigen, sachlich oberflächlichen Theater-Produkten von der kirchlich angezettelten, staatlicherseits mit Steuergeldern auch von Nicht-Lutheranern mitfinanzierten „Luther-Dekade“ zu profitieren: so etwa Rolf Hochhuth oder John von Düffel. Warum also hätte Zaimoglu sich zieren sollen, Gleiches mit einem Erzählprodukt zu betreiben? Bewegt sich dieser Autor doch, seit seinen als rebellisch missverstandenen Anfängen, auf dem gleichen Wege wie die Kirche selbst: in die Kulturindustrie. Was zu bedauern ist: Völlig ungenutzt lässt er merkwürdigerweise seine vermutlich spezifische Distanz eines liberal muslimischen Türkeideutschen zu Christentum, Reformation und Luther. Im laufenden Lutherjahr 2017 kassiert er mit zahlreichen Lesungen gutes Geld: Das gehört zum normalen Literaturbetrieb und ist keine Schande. Für die literarische Kultur und Kritik aber wäre es eine, wenn der eingespielten Claqueur-Clique, die diesen gescheiterten Luther-Roman blind, dumm und mit den üblichen kulinarischen Phrasen begrüßt, nicht mit triftigen Argumenten widersprochen würde.

Titelbild

Feridun Zaimoglu: Evangelio. Ein Luther-Roman.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2017.
347 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783462050103

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