Ein biografisches Porträt

Die Weimarer Publizistin Annette Seemann erzählt das Leben der Schriftstellerin Gabriele Reuter nach und gibt nützliche Hintergrundinformationen zu ihren Werken

Von Katja MellmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Katja Mellmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Über die Schriftstellerin Gabriele Reuter (1859–1941) liegt eine neue Monografie vor, die „die geradlinige, autonome Frau und Advokatin der Sicht ohne Schutzbrille auf die weibliche Seele“ Gabriele Reuter „biografisch und literarisch zu würdigen“ unternimmt. Annette Seemann, Spezialistin für die Kulturgeschichte Weimars, hat sich dieser Aufgabe angenommen.

Über Gabriele Reuter, geboren in Ägypten, als Schriftstellerin zeitweilig in Weimar, München und Berlin lebend, gibt es biografisch in der Tat noch Manches zu erforschen. Denn ihre Autobiografie Vom Kinde zum Menschen von 1921 berichtet nur über den Zeitraum bis zum Erscheinen ihres Erfolgsromans Aus guter Familie 1895 (2006 in einer Studienausgabe neu editiert). 1984 erschien eine erste biografische Studie von Faranak Alimadad-Mensch, die trotz Archivarbeit noch manche gravierende Lücke lassen musste. Lynne Tatlocks Nachforschungen im Rahmen einer Übersetzung (From a Good Family, 1999) haben die Situation sehr verbessert, doch insbesondere über die Umstände von Reuters unehelicher Mutterschaft wusste man lange nichts Näheres. Dies änderte sich 2009 mit einem Aufsatz von Ulrich Hauer in der Jahresschrift der Museen des Landkreises Börde, der zahlreiche Details zu Reuters Kindheit und Jugend sowie dem weitläufigen Familienhintergrund nachtragen konnte und den Schriftsteller Benno Rüttenauer, einen enthusiastischen Rezensenten Reuters, als wahrscheinlichen Kindsvater identifizierte. Diese Erkenntnis warf nicht zuletzt neues Licht auf den späteren Roman Das Tränenhaus (1908), der 2013 im LIT Verlag in einer gut kommentierten Neuausgabe erscheinen konnte. Seemann ergänzt diesen Forschungsstand um einen bislang unberücksichtigten Vortrag des Weimarer Kollegen Hubert Amft von 2001 (erschienen 2005) und um eine Auswertung der Briefe Reuters an Elisabeth Förster-Nietzsche, einiger Briefe an die Deutsche Schillerstiftung und einer maschinenschriftlichen Erinnerungsschrift einer Verwandten Reuters. Aus den neu hinzugezogenen Quellen ließen sich zwar keine relevanten neuen Erkenntnisse gewinnen, aber manche vorhandenen Vermutungen weiter stützen. Seemann hat überdies den vorübergehend in Weimar wirkenden Maler Friedrich von Schennis als den Herrn von S. in Reuters Memoiren identifiziert und die genauen Wohnadressen Reuters recherchiert.

Das Buch stellt Kindheit und Jugend Reuters in angemessener Kürze dar. Das Hauptaugenmerk liegt auf der Wandlung der jungen Erwachsenen zur Schriftstellerin und der aktiven Phase als bekannte Autorin zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Seemann bietet nützliche kurze Inhaltsangaben zu fast allen, auch den weniger bekannten Werken und Aufsätzen Reuters. Auch das eher nur noch dem Broterwerb dienende Alterswerk wird mit gutem Augenmaß gewürdigt. So weit eignet sich die Monografie als bündige Erstinformation zur Autorin, wobei man für diese Art der Nutzung ein Namens- und Werkregister vermisst. Auch die Auswahlbibliografie ist unbefriedigend. Seemann präferiert psychologisierende und auf die Emanzipationsproblematik ausgerichtete Studien zu Werk und Autorin. Allgemeinere literatur- und sozialgeschichtliche Einordnungen bleiben jedoch unberücksichtigt. Auch kann man fragen, was die unkommentierte Ausgabe von Aus guter Familie eines Books-on-Demand-Verlags, die nach einer mysteriösen „15. Auflage von 1908“ druckt, in einer wissenschaftlichen Bibliografie zu suchen hat, während die oben erwähnte Studienausgabe von Das Tränenhaus darin nicht erscheint.

Als literaturgeschichtliche Monografie ist Seemanns Buch daher weniger geeignet. Die werkbiografische Darstellungsweise stößt insbesondere in dem Kapitel, das Reuters autodidaktische Bildung zur modernen Schriftstellerin behandelt, an Grenzen. Reuter hat in ihrer Autobiografie sehr detaillierte Anmerkungen zum literarischen Leben im ausgehenden 19. Jahrhundert gemacht, die noch eines Abgleichs mit unabhängig davon existierenden Quellen harren, der neue Aufschlüsse über ihre Positionierung zum Beispiel im Kreis der Naturalisten geben könnte. Auch ihre sozialpolitischen Schriften sowie ihre Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus am Ende ihres Lebens, die Seemann erstmals ausdrücklicher, aber leider nicht sehr ausführlich behandelt, hätten sich anhand der vorliegenden Quellen detaillierter rekonstruieren und kontextualisieren lassen. Ob es hingegen sinnvoll war, den Roman Aus guter Familie über die Länge von zwei Kapiteln respektive 50 Seiten vollständig nachzuerzählen, bisweilen sogar in biografischem Präteritum, mag bezweifelt werden.

Die starke Parallelisierung der Autorin und ihr bekannter Menschen mit den Figuren ihrer Romane, die sich aus diesem Verfahren ergibt, ist nicht unproblematisch. Seemann ist der Ansicht, Reuters Werke seien „die Fortsetzung der mädchenhaften Tag- und Alpträume der jungen Gabriele.“ Muss eine so pauschale Einordnung wirklich sein? Das Verhältnis von Selbsterlebtem und schriftstellerisch Verantwortetem dürfte bei Reuter wie bei jedem Schriftsteller komplex und je nach Fall unterschiedlich gewesen sein. Nicht nur in Bezug auf die Werke, auch in Bezug auf Reuters Lebensgeschichte gestattet sich Seemann manche beleglose Motivunterstellung und unzulässige Psychologisierung. Seemanns Biografie ist keineswegs naiv – mit Reuters autobiografischem Vokationsnarrativ geht sie sehr kritisch um –, aber von einer handwerklichen Reflexion auf die Textsorte der  intellektuellen Biografie kann doch auch keine Rede sein. Das (übrigens schlecht lektorierte) Buch ist  wohl auch eher als eine Art Porträt gedacht, das die Dichterin insbesondere dem Weimarer Publikum erneut vorstellen soll. So schließt es folgerichtig mit dem gut vertretbaren Vorschlag, eine Gedenktafel an Reuters Weimarer Hauptwohnstätte anzubringen.

Titelbild

Annette Seemann: Gabriele Reuter. Leben und Werk einer geborenen Schriftstellerin (1859-1941).
Weimarer Verlagsgesellschaft, Wiesbaden 2016.
192 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783737402484

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