Zweimal ist besser als keinmal

Gabriele Reuters lange vergessener Roman „Das Tränenhaus“ wurde nach über hundert Jahren innerhalb weniger Monate in zwei neuen Ausgaben auf den Markt gebracht

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass ein Roman, der vor über einhundert Jahren erstmals und vor mehr als einem dreiviertel Jahrhundert letztmals erschien, innerhalb weniger Monate zwei Neuausgaben erlebt, dürfte in der Literaturgeschichte noch nicht allzu oft vorgekommen sein. Gabriele Reuters Buch „Das Tränenhaus“, ist genau dieses Schicksal widerfahren. Die Erstausgabe des Romans kam Ende 1908 auf den Markt (wurde allerdings, wie wohl seit Beginn des Buchdruckes an nicht unüblich, auf dem Titelblatt auf das in Kürze bevorstehende Jahr vordatiert), war sogleich für einen nicht ganz kleinen Skandal gut und erreichte wohl auch darum innerhalb kürzester Zeit mehrere Auflagen. Spätestens im Ersten Weltkrieg wurde es allerdings langsam ruhiger um ihn, bis er in der Weimarer Republik, genauer gesagt im Jahre 1926, eine nicht unwesentlich überarbeitete Neuausgabe erfuhr. Die allerdings nur noch auf weit geringere Resonanz stieß, sodass er immer mehr in Vergessenheit geriet.

Allerdings nur bis ins vergangene Jahr hinein, in dem sowohl der Igel Verlag wie auch der Lit Verlag neue Ausgaben des Werkes auf den Markt brachten. Beide gleichen sie sich zumindest in einem: Sie greifen auf den Text der ursprünglichen Ausgabe von 1908 zurück, nicht auf den wesentlich umgearbeiteten der 1920er-Jahre.

Nicht unbeträchtlich sind hingegen manch andere Unterschiede. Verlangt der Igel Verlag für die von Carsten Dürkob herausgegebene Ausgabe knapp 20 Euro, so schlägt die im Lit Verlag von Nora Bruchhaus, Henriette Herwig und Johannes Waßmer bewerkstelligte Ausgabe mit zehn Euro mehr zu Buche. Der höhere Preis ist allerdings durchaus gerechtfertigt. Zwar ist ihr Erscheinungsbild nur unwesentlich ansprechender, als dasjenige der im Igel Verlag erschienenen Ausgabe (die Besprechung der Ausgabe des Igel Verlages und des Textes von Reuter finden Sie hier), doch haben die HerausgeberInnen des Lit Verlags ungleich mehr Recherchearbeit in den Anhang des Bandes investiert. Und die zahlt sich aus. Belässt es Dürkorb im Band des Igel Verlags bei einigen denkbar knappen Literaturangaben und einem nicht allzu umfangreichen Nachwort, in dem er zwar anmerkt, der „Hinweis“, es handele sich bei Reuters Roman um „einen in großen Teilen autobiographisch motivierten Text“, nütze „gar nichts“, es aber doch nicht lassen kann, in der Protagonistin „mit Einschränkungen ein alter ego der Autorin“ auszumachen, bis er zuletzt eine Stelle findet, wo „Gabriele Reuter denn doch deckungsgleich mit ihrer Hauptfigur“ sei. Die Ausgabe des Lit Verlags glänzt hingegen mit einem umfänglichen Anhang von insgesamt rund 80 Seiten, der etwa biografische Angaben zur Autorin enthält, die weit mehr bieten als man von einer bloßen „Zeittafel“ erhoffen darf, warten sie doch sogar für die Reuterforschung noch mit der einen oder anderen Neuigkeit auf. So konstatierte Katja Mellmann, die Herausgeberin der Studienausgabe von Reuters Erfolgsroman „Aus guter Familie“, noch 2006, über den Vater von Reuters unehelicher Tochter Lili sei „nichts bekannt“. Henriette Herwig und Nora Bruchhaus haben sich nun für die Edition des „Tränenhauses“ noch einmal in die Archive begeben und entdeckt, dass der seinerzeit in München ansässige Lehrer und Verfasser zahlreicher literarischer Werke Benno Rüttenauer die Vaterschaft am 21. April 1936 notariell beglaubigte.

Doch dies ist beileibe nicht der einzige Schatz, den die beiden Herausgeberinnen gehoben haben. Im Nachwort zum „Tränenhaus“ bieten sie nicht nur eine Interpretation des Romans und leuchten die „Sozial- und medizinhistorischen Hintergründe“ seiner Entstehung aus, sondern stellen zudem einige zeitgenössische Rezensionen vor. Darunter eine wenig bekannte von Hedwig Dohm. Sie erschien Ende 1908 in der „Literarischen Rundschau“. Dohm, die große alte Dame der ersten Deutschen Frauenbewegung, apostrophierte Reuter angesichts der kritischen Haltung der Protagonistin und Identifikationsfigur des Romans gegenüber den in zwei jungen Frauen aus der Boheme personifizierten Bestrebungen der Frauenbewegung enttäuscht als „Dichterin der Resignation“. Beschlossen wird der Anhang von einem wiederum sehr umfangreichen Literaturverzeichnis, das Johannes Waßmer zusammenstellte.

Nun ist es zweifellos zu begrüßen, dass Reuters Roman wieder im Buchhandel zu finden ist. Doch gibt es nach wie vor zahlreiche Bücher von „vergessenen Schriftstellerinnen“ und „Literatinnen um 1900“, die es wert sind, neu aufgelegt zu werden. Eben darum ist es zu bedauern, dass Reuters Roman nun gleich zwei Mal in den gleichnamigen Reihen des Lit Verlags und des Igel Verlages erschienen ist. Bleibt zu hoffen, dass sich derartige Doppelungen nicht allzu häufig wiederholen mögen, dürften sie angesichts des mit jeder Neuausgabe eines vergessenen Buches zu veranschlagenden Kosten und des mit ihr verbundenen verlegerischen Risikos doch zu Lasten anderer, sicher nicht weniger lesenswerter literarischer Schätze gehen, die so fürs Erste in ungehoben bleiben.

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Gabriele Reuter: Das Tränenhaus.
Herausgegeben, kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Henriette Herwig, Johannes Waßmer und Nora Bruchhaus.
LIT Verlag, Münster 2013.
287 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783643120441

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