Wo ist Rat?

Von der Beratungsbedürftigkeit des Menschen

Von Jörn MünknerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörn Münkner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ratgeberliteratur, Familienaufstellung und Coaching-Angebote, wohin man schaut. Sie suggerieren eine profunde Verunsicherung und Orientierungsnot in unserer Zeit. War das schon immer schon? Es liegt nahe, nach der Urszene von Beratung und ihrer Geschichte zu fragen. Haiko Wandhoff tut dies in zehn Streifzügen aus der Perspektive des praktizierenden Beraters, Coachausbilders und Kulturhistorikers mit Spezialisierung Mittelalter. Den Ausgangspunkt seiner Expedition bildet die Beobachtung, dass unsere Gesellschaft durch eine Vielzahl komplementärer Beratungseinsätze und Optimierungsmaßnahmen des Selbst gekennzeichnet ist. Guter Rat ist Gold wert, das moderne Subjekt soll Ratschlag und Handlungsanleitung sogar in sich selbst finden (Stichworte: Selbstcoaching, Selbstreflexion, Selbstberatung). Grundsätzlich geht das Buch davon aus, dass Ratsuchen und Ratgeben zur conditio humana gehören, das Bedürfnis nach gutem Rat dem menschlichen Wesen inhärent ist. Beim Ratgeben handle es sich um eine uralte Kulturtechnik, die heute besonders aktuell und brisant ist. Deshalb sei es angeraten, ja angezeigt, ihre Geschichte zu rekonstruieren.

Wandhoff präsentiert Befunde, die von der Antike über das Mittelalter und die Neuzeit bis in die Gegenwart reichen, die Erzählung umspannt so 3000 bewegte Jahre des Ratens und Beratens. Sie will die verschiedenen Dimensionen der Beratung in ihrem Zusammenhang darstellen, was eine hehre Aufgabe ist, denn das Themenfeld ist weit und franst aus. Es geht um die Suche nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen historischem und modernem Ratgeben. Die Neugier, das Bedürfnis nach gutem Rat in Vergangenheit und Gegenwart zu verstehen und die Konjunkturen der Modi von Beratschlagung nachzuzeichnen, ist ein weiterer Impetus sowie die Frage nach den Ursachen des aktuellen epochalen Consulting-Booms und seiner möglichen Entwicklung. Die Einleitung plädiert für eine Kulturgeschichte des Ratgebens vor dem Hintergrund beratungsimprägnierter Gesellschaften. Das erste Kapitel differenziert Begriff und Kerngeschäft des Ratsuchens, Ratgebens und Beratschlagens, setzt Rat und Tat miteinander ins Verhältnis, unterscheidet Beratung von Belehrung, Betreuung und Befehl, resümiert die Erforschung des Ratgebens und hebt die medialen Formen der Beratung hervor, die Auswirkungen auf Diversität und Qualität der Beratungsangebote haben. Zahlreiche im Anmerkungsteil nachgewiesene Primär- und Sekundärquellen flankieren die Ausführungen, zudem gibt es ein neunseitiges Literaturverzeichnis. Die Geschichtsexkurse beginnen im 2. Kapitel mit dem Sprung in die Welt der Antike zu ihren Rezepturen gegen eine unsichere Zukunft. Dazu gehören prominent Orakelsprüche, ferner Prophezeiungen, Horoskope und Eingeweidebeschauung sowie die viel später auch im christlichen Europa favorisierte Deutung von Himmels- und Sternzeichen als Prodigien. Im Mittelalter kommt den Ratsversammlungen große Bedeutung zu, so gilt auch für Könige ein Beratungsimperativ: „Das feudale Gesellschaftssystem koppelt die Herrschaft des Königs eng an die konsultierende Abstimmung mit seinen Vasallen.“. Ganz unterschiedliche Agenten wie Hofnarren, Sekretäre, Fürstenberater, Geheimräte und Mätressen gehören in die Galerie derjenigen, die im Laufe der Zeit um Rat, Meinung und Orientierung befragt wurden und die die Evolution von Ratgeben und Ratschlag zur Profession und zu einem einträglichen Geschäft nachvollziehbar werden lassen. Eine Zäsur bahnt sich in der Frühen Neuzeit an: Die gravierenden sozialen, religiösen und medialen Umbrüche treiben den Menschen aus einer über Jahrhunderte stabil gebliebenen Weltordnung und Seinsvorstellung und die existentielle Unruhe des neuen Menschen befördert eine Umstellung der Gewohnheit, in externen Quellen Rat und Anleitung zu suchen, zu autokonsultativen Selbstbefragungen. Über die Stationen Ratgeberliteratur, W3-basierte Beratungsforen, Lobbyisten und Think Tanks, staatliche und private Konsultationsexperten, Unternehmensberater, psychosoziale Fürsorgedienste, maschinelles ‚Turing-Testing‘ und Coaching bewegt sich die Beratungskultur in die Jetztzeit, in der sich das moderne Subjekt mit systemischen Beratungsformen arrangiert. Während Rat und Beratschlagung gestern und heute allesamt auf eine Erweiterung des Spielraums für die Gestaltung von Zukunft abzielen, hat sich mit der Abkehr von direktiven Beratungspraktiken hin zu nicht-direktiven Coachingmethoden in der Beratungskultur doch etwas grundlegend geändert: Heutzutage geht es darum, die inneren Selbstorganisationskräfte des Ratsuchenden zu aktivieren. Das aufgeklärte, vermeintlich selbstbestimmte Individuum soll zur Selbstberatung angeregt und befähigt werden. Die postmodernen Ratgeber unterbreiten einem ratsuchenden Menschen keinen handfesten Ratschlag mehr nach dem Muster: tue dies, unterlasse das. Stattdessen sollen im intensiven Zwiegespräch zwischen Ratsuchendem und Berater/Coach/Therapeut die Selbstberatungskräfte angeregt werden. Das ist offenbar ein Forstschritt: Dem Anleitungsbedürftigen von heute braucht nicht angst und bange zu sein, als autonomes Subjekt womöglich eine Ansage von außen befolgen zu müssen. Das verunsicherte aber konsultationsbereite Individuum, ganz er/sie selbst, kann sich dem Gegenüber anvertrauen, schließlich hilft der ausgewiesene Experte nur, das eigene innere Licht der Selbstreflexion und Selbstberatung anzuzünden.  

Wandhoffs Erzählung ist anregend und auf Lesbarkeit getrimmt, eine beeindruckende Zeitreise in die Praktiken, Theorien und Bedürfnisse von Rat und Ratschlag. Neben einem wahren Fundstellenreichtum und klugen Befundserläuterungen werden nicht zuletzt sprachbezogene Einsichten geboten, etwa wenn anhand der Etymologie und Begriffsverwendung von Wörtern mit rat~ im Stamm deren Zugehörigkeit zum erweiterten Sinnbezirk von ‚Vorrat, Bevorratung, Unterstützung‘ deutlich wird. Gekonnt weil aufschlussreich sind prima vista erstaunliche, abrupte Zeit- und Gegenstandssprünge, wenn beispielsweise die Diskussion um mittelalterliche Herrscherberatung hinter geschlossenen Türen zum Vergleich mit der jüngsten Geschichte einlädt, konkret mit den Beratungspraktiken John F. Kennedys oder Tony Sopranos, für die in ganz ähnlicher Weise die Unterscheidung zwischen interner und externer Positionierung des Ratgebers eine große Rolle spielt.

Das Buch ist engagiert, weil man merkt, wie sehr den Autor das Beratungsmetier fasziniert. Die Darstellung profitiert von seinem umfänglichen Beraterwissen und seiner plausiblen Kulturdiagnostik, allerdings gerät sie abschnittsweise etwas überausführlich und beinahe didaktisch. Das Versprechen, den Zusammenhang von Beratungsdimensionen in einer langen Kulturgeschichte zu vermitteln, wird auf jeden Fall eingelöst. Bei aller unaufgeregten Einschätzung des Themas fehlt dem Rezensenten aber ein wenig mehr Aufbegehren gegen das moderne mächtige Beratungsgeschäft, das die intrinsische Bedürftigkeit des Menschen nach Rat und Beistand auszunutzen versteht. Anders gesagt, die moderne Beratungsmanie, wie man die Auswüchse eines Life Coaching, Big und Meta Consulting und How-to-Allesmögliche auch nennen kann, wird nicht emphatisch kritisiert. Natürlich muss es das auch nicht, denn dass sich der Mensch als homo consultabilis begreifen lässt, macht das Buch deutlich. Wandhoffs Anliegen ist es nicht, ein Pamphlet gegen die Profiteure des Beratungsbusiness zu verfassen. Er konzediert, dass Beratung (und vielleicht nicht nur die moderne) durchaus ihre eigene Nachfrage erzeugt, dass wir längst einem Beratungsstress unterliegen und er selbst von einer überzogenen Beratungseuphorie nichts hält. Das überzeugt umso mehr, als er Erfahrungen aus der eigenen Praxis einbringt. Gleichwohl hätte ein noch deutlicheres Aufbegehren gegen den hochkonjunkturellen Ist-Zustand unserer Beratungskultur das Buch schärfer gewürzt. Nicht, dass wir ratlos leben könnten, in der Unübersichtlichkeit unserer Existenz haben wir Rat und Orientierung dringend nötig. Aber muss Beratung uns derart professionell und intensiv unter die Arme greifen wollen, muss sie unser Leben so omnipräsent begleiten? Es stimmt heiter, den Kulturkritiker Ivan Illich zitiert zu finden. Der hatte bereits in den 1980er Jahren vor den Folgen einer neuen Herrschaft der Experten gewarnt: weil sie alle Menschen zu anleitungsbedürftigen Laien degradiere. Für Illich begann ab der Mitte des 20. Jahrhunderts „die Epoche der entmündigenden Expertenherrschaft“ − und das meinte eben auch, dass Ratsuchende für ratlos und damit für beratungsbedürftig erklärt werden konnten. Die Professionalisierung von Hilfe und Beistand habe Illich zufolge aus Bürgern dienstleistungsabhängige Laien gemacht. Auch wenn Coaches und Psychotherapeuten uns heute versichern, sie würden uns lediglich beraten, und das auch nur, wenn wir es selbst wünschen, so möchten wir vielleicht umso zögerlicher sein, uns in ihren Bannkreis zu begeben. Zunächst unsere Freunde zu Rate ziehen, dürfte eine gute Alternative sein.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Haiko Wandhoff: Was soll ich tun? Eine Geschichte der Beratung.
Corlin Verlag, Hamburg 2016.
347 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783981815610

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