„Ein Heft mit einem Strich in der Mitte“

Haruki Murakamis frühe Romane „Wenn der Wind“ singt und „Pinball 1973“ zeigen bereits die sprachliche Prägnanz und tiefe Einfühlsamkeit des japanischen Bestsellerautors

Von Anne-Katrin SchulzeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anne-Katrin Schulze

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein junger Mann treibt in seiner Heimatstadt durch den Sommer. Meist in der Stammkneipe, in der er mit seinem besten Freund Ratte über die Reichen redet und europäische Klassiker liest, während er Bier trinkt. Der streitbare Freund Ratte begegnet uns auch im nächsten Roman, er ist aus der Zeit gefallen und besessen von einem Flipperautomaten. Darüber hinaus kann man von der Handlung kaum etwas sagen. Ein Stakkato kurzer Sätze und noch kürzerer Kapitel wechselt sich ab mit poetischen Beschreibungen und tiefsinnigen Reflexionen über das Leben und die Menschen.

Dieser einzigartige Stil und die messerscharfe sprachliche Präzision Murakamis überraschen. Die Fäden der Geschichten laufen dabei oft ins Leere und die Enden bleiben offen. Doch gerade diese Offenheit lässt die Gedanken noch lange in dieser schön-traurigen Welt weilen, wenn die letzte Buchseite schon längst zugeschlagen ist. Wie der namenlose Dichter im ersten Werk über das Schreiben sagt: „Es ist weder Literatur noch Kunst. Es ist nur ein Heft mit einem Strich in der Mitte. Andererseits lässt sich vielleicht doch die eine oder andere Lehre daraus ziehen.“

Ein dynamischer Wechsel von Tempo, Neben- und Hintergrundgeschichten und Erzählstilen erzeugt Spannung beim Lesen. Selbst der Erzähler wechselt innerhalb der Romane zwischen einem namenlosen Ich-Erzähler und dem allwissenden neutralen Beobachter, der die Nebenfiguren in Geschichten lebendig macht. Szenen aus der Kindheit und Jugend wechseln sich ab mit angedeuteten Traumata und der ganz normale Alltag mit Abhandlungen über den fiktiven Derek Hartfield und Flipperautomaten. „Zwischen Hitlers Vormarsch und dem des Flipperautomaten gibt es einige Parallelen.“

Stilistisch reichen diese Frühwerke an spätere Meisterwerke Murakamis wie das berüchtigte Gefährliche Geliebte oder 1Q84 heran. Wunderschöne Sätze beschreiben diese rätselhaften japanischen Sommer: „Die Stadt wirkte, als hätte man flüssiges Licht auf eine Platte gegossen. Oder als hätte eine riesige Motte alles mit ihrem goldenen Flügelstaub bestreut.“ Die unerklärliche Mystik und übersinnlichen Begebenheiten klingen höchstens in leisen Ansätzen an, stattdessen bestimmen die Unerklärlichkeiten eines Menschenlebens die beiden frühen Romane.

Melancholische Einzelgänger tauchen auch in Murakamis zahlreichen anderen Werken immer wieder als Protagonisten auf. Allerdings sind explizite erotische Szenen, die später für so viel Aufregung beim „Literarischen Quartett“ sorgen sollten, noch nicht in den Frühwerken vorhanden. Auch die ausgedehnten Beschreibungen von Mahlzeiten, Kleidung und allerlei anderer Alltäglichkeiten finden sich erst in späteren Romanen. So zeigt sich eine weitere Verbindung von Schöpfer und Figur in Rattes Schiffbruchgeschichte: „Erstens gab es keine Sexszene, und zweitens starb niemand.“

Das vom Autor verfasste Vorwort erklärt die Entstehung seines interessanten Schreibstils und offenbart nebenbei starke Parallelen zwischen Murakami und den Protagonisten der beiden Kurzromane. So ist die Hauptfigur im ersten Roman wie auch so viele spätere Charaktere ebenfalls Schriftsteller mit einer Vorliebe für klassische Musik und Weltliteratur. Und als ehemaliger Barbesitzer wählt der Autor als Schauplatz und Fixpunkt seiner „Küchentisch-Romane“, wie er sie im Vorwort selbst nennt, eine urige Kneipe. Das Debüt Wenn der Wind singt wurde 1979 und der zweite Roman Pinball 1973 ein Jahr später in Japan veröffentlicht, wo beide Werke bis jetzt ausschließlich erscheinen durften. In der Übersetzung der Japanologin Ursula Gräfe sind sie erstmals auch dem deutschen Publikum zugänglich.

Gestalterisch ist das Buch im selben Stil gehalten wie der kürzlich erschienene Erzählband Von Männern, die keine Frauen haben oder der Bestseller Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki. Ein minimalistischer weißer Einband mit zartem Aufdruck einer Pusteblume ist umhüllt mit einem transparenten Umschlag, auf dem die Blume in Farben explodiert. So spiegelt das Design anschaulich den Inhalt: Murakami ist voller Gegensätze. Bunte, überschwelgende Prosa und reduzierte kurze Sätze. Absurde Komik und tieftraurige Momente. Sensible Weltbetrachtung und harte Worte. Die Küchentisch-Romane Wenn der Wind singt und Pinball 1973 zeigen die ganze Sensibilität und Kraft des frühen Murakami.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Haruki Murakami: Wenn der Wind singt / Pinball 1973. Zwei Romane.
Übersetzt aus dem Japanischen von Ursula Gräfe.
DuMont Buchverlag, Köln 2015.
266 Seiten, 19,00 EUR.
ISBN-13: 9783832197827

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