Eine Gesellschaftskritik durch die Kategorie ‚Raum‘ gedacht

Henri Lefebvres Plädoyer für das „Recht auf Stadt“

Von Kim KannlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kim Kannler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Dieses Buch ist für die, die in Städten wohnen“, proklamiert Christoph Schäfer, Verfasser des Vorworts und selbst Künstler zu den Themenbereichen Urbaner Alltag und Raumproduktion, auf dem Klappentext zu Henri Lefebvres Schrift Das Recht auf Stadt. Er schließt mit den Worten: „Die Zeit ist reif für dieses Buch.“ Tatsächlich verwundert es, dass Lefebvres Buch, ursprünglich bereits 1968 unter dem Titel Le droit à la ville in Frankreich erschienen, erst jetzt für ein deutschsprachiges Publikum entdeckt wurde. Nicht zuletzt, da es, wie in Schäfers Vorwort beschrieben, unzählige Kanäle gab, durch die seine Überlegungen über Stadt und das Urbane bislang zu Bewegungen, Aktivisten, Künstlern u.a. durchdrangen, dort aufgenommen und weiterentwickelt wurden. Warum also gerade jetzt eine Wiederaufnahme seines Werks? 

Lefebvre begann seine Überlegungen zur Stadt Ende der 1960er Jahre; einer Zeit, in der geprägt vom Funktionalismus einerseits (beispielsweise von Le Corbusier) und Modernisierungsgedanken andererseits in den französischen Vorstädten riesige Wohnkomplexe und Hochhaussiedlungen entstanden. Lefebvre sah darin den Ausschluss einer breiten Bevölkerungsschicht von der Partizipation an einer urbanen Gesellschaft. Diesen Segregationsprozess eines planerischen Funktionalismus ‚von oben‘ kritisierte Lefebvre scharf und entwickelte im Gegenzug seine Forderung einer urbanen Praxis ‚von unten‘. Als hätte es Lefebvre geahnt, stellen diese Wohnkomplexe heute urbane Konfliktherde mit dem beschreibenden Namen Banlieue („Bannmeilen“) dar. Das vorliegende Buch bezeichnet den Beginn einer Reihe von Auseinandersetzungen, die Lefebvre über städtisches Leben, marxistische Perspektiven, Urbanisierung und Produktionen von Raum anstellt. In 16 Kapiteln beleuchtet er schlaglichtartig verschiedene Facetten der „Problematik der Stadt“ sowie die daraus resultierenden Konsequenzen und Forderungen. Gleich zu Beginn, in der „Vorwarnung“, verdeutlicht er seine Absicht, Denkweisen und Aktivitäten zum Urbanismus kritisch zu untersuchen und zentrale Aspekte ins politische Bewusstsein zu heben. Dabei wird klar, wie Lefebvre sein Buch verstanden wissen will: nicht als weitere, rein theoretisch-distanzierte Auseinandersetzung mit dem Thema Stadt, sondern als politisches Programm und Aufruf zur Tat; allen voran ein Aufruf an die Arbeiterklasse, die er an mehreren Stellen gesondert hervorhebt. Es ist ein Appell an die moderne Gesellschaft, die Eroberung des (zentralen) Stadtraums voranzutreiben. Es ist weiterhin eine ideologisch geprägte Haltung, die sich deutlich gegen die sinnentleerenden Strategien des kapitalistisch-orientierten Bauens ausspricht. 

Lefebvre entlehnt einige seiner zentralen Analysebegriffe – Aneignung, Gebrauch-/Tauschwert und Praxis – der Marx’schen Gesellschaftskritik, überträgt diese aber auf das Nachdenken über Stadt und den urbanen Alltag, was seiner Meinung nach bislang unzureichend untersucht wurde. Die Wohnungsfrage beschäftigte zwar auch Friedrich Engels, der vor allem zur prekären Wohnsituation von Arbeitern in englischen Industriestädten schrieb. Doch Lefebvre zufolge erkannten er und Marx nicht, dass das Problem der Stadt über das Problem des Wohnens hinausgehe. So nutzt Lefebvre den ersten Teil seines Buchs, um zu erörtern, wie die Prozesse der Industrialisierung und Urbanisierung dialektisch ineinandergreifen. Der Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist die Annahme, dass sowohl die Stadt als auch die städtische Realität ursprünglich dem Gebrauchswert unterlagen. Doch nun unterwerfe sich die Stadt dem Tauschwert, der „allgemeine[n] Durchsetzung der Ware im Zug der Industrialisierung“, der sie zerstöre. Die Bewohner sind demnach nicht mehr Nutzer und Profiteure des Stadtraums, ihres „Werks“, sondern passive Konsumenten desselben. Ein lebendiges, differenziertes und kreativ produktives Stadtleben werde dabei ausgehöhlt zugunsten einer an der Oberfläche haftenden Wirklichkeit, eines fremdbestimmten Alltags, der durchgeplant, wie er ist, keinen Platz mehr für Abwechslung und Unterschiede lasse.

Ein zentraler Aspekt zur Lösung dieser „Krise“ besteht für Lefebvre in der Erkenntnis, dass es eben nicht darum geht, Stadt anders zu definieren, das heißt, die Theorien und Perspektiven auf sie zu verändern. Die Lösung kann daher keine staatlich oder unternehmerisch initiierte Umdeutung oder ein ideologisch-strategischer Richtungswandel sein. Ebenso hätten wissenschaftliche Auseinandersetzungen bislang die Sicht auf das Problem eher verschleiert, indem sie nach Belieben Aspekte über Stadt analytisch fragmentierten und wieder zusammensetzten, was eine Theorie hervorbrachte, die sich von der Praxis gelöst habe. Entgegen dieser „unbewohnbaren Strenge“ setzt Lefebvre einen materialistisch geprägten Praxisbegriff: Gemeint sind die gesellschaftlichen Prozesse, die den urbanen Raum modellieren und die Stadt als gemeinsame Praxis hervorbringen. Es geht um menschliche Begegnungen – um Unterschiede, produktive Spannungen, Kreativität und Spiel. Die gesellschaftliche Praxis ist hierbei durch zwei Aspekte charakterisiert: Sie ist der eigentliche Gegenstand, der Puls einer Stadt, den Lefebvre in seiner Schrift – meist eher assoziativ – unter einer kapitalistischen Oberfläche freizuschaufeln versucht und sie ist zugleich politisches Programm mit dem Potenzial gegenwärtige Verhältnisse umzuwälzen, das er im Entstehen begriffen sieht.

Vor allem im Begriff der Praxis erklärt sich die Attraktivität seines Ansatzes für Initiativen, Bewohner, Planer, Künstler, Hausbesetzer und viele andere Akteure der Stadt, an die das Buch, wie eingangs erwähnt, appelliert. Das international breitgefächerte Interesse, auch außerhalb der akademischen Kreise, lässt erkennen, dass seine Perspektive auf urbane Entwicklungen, die von Lefebvre selbst grundsätzlicher, nämlich als Gesellschaftskritik, gedacht wurde, längst nicht nur für den französischen Kontext interessant ist. Einige seiner Beobachtungen aus den späten 1960er Jahren lesen sich heutzutage sogar wie Bestandsaufnahmen der städtischen Situation des 21. Jahrhunderts. So beobachtet er den Widerspruch der modernen Gesellschaft, die hauptsächlich damit befasst sei, „die Industrie zu planen und das Unternehmen zu organisieren“, anstatt „Lösungen für die städtische Problematik anzubieten“. Wer hat sich in diesem Kontext nicht schon über bebaubaren Grund gewundert, auf dem eine weitere Shopping-Mall entstand, wobei bezahlbarer Wohnraum vielerorts so dringend benötigt würde?

Die Aktualität von Lefebvres Schrift kann zugleich als ihre Problematik gedeutet werden. Denn kann (und sollte) eine 50 Jahre alte kritische Analyse der urbanisierten Gesellschaft auf die aktuelle Gesellschaft in gleicher Weise zutreffen? Positiv ausgelegt, ist sein Buch als eine Art Prophezeiung oder eine Zuspitzung der Problematik der Stadt zu verstehen. Doch inwiefern beweisen sich gerade hier Lefebvres Überlegungen als hilfreiche Werkzeuge, die den Stadtbewohnern als Adressaten dieses Buch an die Hand gegeben werden? Zwei Ansätze in Lefebvres Buch, die in diesem Zusammenhang zentral sein könnten, aber deren Brücke nicht ausreichend zur gelebten Wirklichkeit der Bewohner geschlagen wird, sind die Perspektiven der Philosophie und der Kunst. Seine eher vage bleibende Schwärmerei zur synthetisierenden Kraft der Philosophie liest sich vor dem Hintergrund der andernorts hervorgehobenen Rolle der Arbeiterschaft für einen Umbruch moderner Verhältnisse als nostalgischer Rückblick und skurriler Gegensatz zur gelebten Wirklichkeit.

Aufschlussreicher und präziser werden Lefebvres theoretische Überlegungen im letzten Kapitel „Raum und Politik“, das die Einleitung der gleichnamigen Aufsatzsammlung des Autors von 1972 darstellt und anstelle eines Nachworts das Buch beschließt. Hier bringt Lefebvre auf den Punkt, worin es ihm bei der Forderung und Ausübung eines Rechts auf Stadt geht: „Es geht nicht darum, im bereits bestehenden Raum ein Bedürfnis oder eine Funktion zu lokalisieren, sondern im Gegenteil darum, eine gesellschaftliche Tätigkeit räumlich zu verorten, die mit einer Praxis in ihrer Gesamtheit verbunden ist, indem ein geeigneter Raum hergestellt wird.“ Mit anderen Worten ist es die Herstellung von Raum, die beschriebene Praxis, mit der gesellschaftliche Verhältnisse (re-)produziert werden und welche die Möglichkeiten für die Bewohner einräumt, als Akteure und Produzenten der Stadt aufzutreten und die Zügel selbst in die Hand zu nehmen.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Henri Lefebvre: Das Recht auf Stadt.
Mit einem Vorwort von Christoph Schäfer.
Übersetzt aus dem Französischen von Birgit Althaler.
Edition Nautilus, Hamburg 2016.
192 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783960540069

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