Trümmer und Checkpoints

Niroz Malek erzählt vom Überleben in Aleppo

Von Klaus HübnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hübner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Niroz Malek, 1946 in Aleppo geboren, schreibt davon, wie es ist, mitten im Krieg dort zu leben. Seine 55 zunächst auf Facebook veröffentlichten Prosaskizzen, zu Recht „Miniaturen“ genannt, sind vor zwei Jahren in Frankreich erschienen. Larissa Bender hat sie jetzt aus dem Arabischen in ein lakonisch-nüchternes und zugleich höchst poetisches Deutsch übertragen. Die meisten der selten mehr als drei Seiten umfassenden Texte führen vor, dass gute Literatur mehr kann als Fernsehdokumentationen und Netzvideos. Auf ganz andere Art und Weise kann sie den Leser erschüttern und zu Tränen rühren – oder ihn zum Toben und Schreien bringen aus Wut und Trauer und Verzweiflung. Sie kann ihn auch zart anrühren – und verzaubern.

Der Erzähler dieser Miniaturen ist ein Intellektueller, ein Kunstfreund und Romantiker, den keine Bombe und keine Gewehrsalve zum Verlassen seiner gewohnten Umgebung bringen wird. „Du solltest wissen“, erklärt er seiner Frau, „dass das, was ich in diesem Raum zurücklasse, nicht nur Bücher und Antiquitäten und Photographien sind. Nein, ich lasse meine Seele zurück […]. Kann ein Körper ohne Seele leben?“ Um diese Seele geht es auch, wenn der erzählende Schreibtischmensch zu seinen Spaziergängen aufbricht, in den geliebten Stadtpark etwa oder in sein Stammlokal – und auf ruinengesäumten Straßen über getrocknetes Blut gehen muss. „Nachdem ich auf meinem Weg zum Café den fünften Checkpoint überwunden hatte, wurde schon der sechste vor mir errichtet“. An den Wänden der noch bewohnten Häuser wird er mit den Namen der jüngst Getöteten konfrontiert: „Er blieb stehen, um sie zu lesen, und als er fertig war, stellte er verwundert fest, dass er bereits seit etwa einem Monat tot war“. Normal ist hier nichts mehr. Niemand kann zum Beispiel verhindern, dass ein Soldat einen Jungen mit Down-Syndrom niederschießt, der nicht begriffen hatte, dass er stehenbleiben soll. Oder dass die Kinder keine Sonnen, Blumen oder Schmetterlinge mehr malen, sondern „nur noch zerstörte Häuser, verkohlte Bäume, auf dem Boden verstreute Leichen“ – oft genug sind es Kinderleichen. Traurig weit ist es gekommen mit Syrien und seinen Menschen. „Lieber Leser: Was draußen passiert, durchbohrt das Auge der Nacht, kriecht die Treppe hinaus, als wolle es zu mir […]. Lieber Leser: Spitze die Ohren! Glaubst du nicht, dass da draußen etwas passiert?“

Niroz Malek schreibt jedoch nicht nur über den Alltag in seiner geschundenen Heimatstadt, sondern auch über Träume und Phantasien, über Musik, Malerei und Literatur oder über gestorbene Freunde und Weggefährten. Das Personal des Don Quijote taucht auf, Paolo Veronese, Marc Chagall oder Vincent van Gogh werden herbeigerufen. Ja, dieses schmale Buch schildert das Grauen, und doch ist es ein kunstvolles Zeugnis für die Kraft der Kultur, die dabei helfen kann, die Würde des Menschen auch in barbarischen Zeiten zu wahren. Immerhin das.

Titelbild

Niroz Malek: Der Spaziergänger von Aleppo.
Übersetzt aus dem Arabischen von Larissa Bender.
Weidle Verlag, Bonn 2017.
136 Seiten, 17,00 EUR.
ISBN-13: 9783938803837

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