Die Liebe in den Zeiten des Umbruchs

In „Notre Dame“ erzählt Ulrich Schacht von einer scheiternden Liebe vor der Kulisse von Wende und deutscher Wiedervereinigung

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist das Leipziger Konzert von Wolf Biermann am 1. Dezember 1989, bei dem sich Torben Berg, Held von Ulrich Schachts Roman Notre Dame, und die junge Henrike Stein, kurz Rike genannt, zum ersten Mal über den Weg laufen. Er als 40-jähriger Kulturjournalist im Auftrag seiner Hamburger Zeitung im sich schnell wandelnden Osten unterwegs, dem Land, in dem er groß geworden, später wegen seiner politischen Ansichten ins Gefängnis geworfen und von der Bundesrepublik freigekauft worden war. Sie eine 23-jährige Studentin, kunstbegeistert, selbstbewusst, neugierig auf die Welt, aus der Berg kommt und die er, der nicht nur für Zeitungen schreibt, sondern auch Romancier und Lyriker ist, ihr auf so faszinierende Weise nahezubringen versteht.

Aus einem Flirt, auf den er sich im Bewusstsein einlässt, ein perfektes Leben im Westen Deutschlands mit Ehefrau, 12-jähriger Tochter und einem ihm maximale Freiheiten erlaubenden Job zu besitzen, wird über Nacht eine Affäre, in deren Verlauf nach und nach alle Sicherheiten von Bergs Lebens wegbrechen. Nach zwei Jahren einer zerstörerischen Leidenschaft sind nicht nur seine Ehe kaputt, die Beziehungen zu den gemeinsamen Freunden angespannt, der Beruf zur Nebensache geworden. Auch das gemeinsame Leben mit der um fast 20 Jahre jüngeren Frau führte schließlich in eine Sackgasse. Übrig bleiben die Erinnerungen an einen Parisaufenthalt, eine gemeinsame Schottlandreise und an den Versuch, miteinander in einer kleinen Hamburger Wohnung zu leben.

Während Berg, wenn er sich über die Gewalt  seiner Liebe zu Rike klarzuwerden versucht, an den Einschlag des Tunguska-Meteoriten denken muss – „diese ungeheure Explosion, da wusste auch niemand so genau, woher und warum, […], nur die Erinnerung an ein nie zuvor gesehenes Licht war geblieben, unwirklich, blendend wie ein göttlicher Blitz, der für einen kurzen Moment alles erleuchtet hatte“ –, zweifelt die junge Frau mehr und mehr an der Ausschließlichkeit ihrer Beziehung: „Ich weiß nicht, sagte sie, aber das können wir doch nur durchhalten, wenn wir ganz alleine auf der Welt existieren […]Wenn man einen anderen so ausschließlich begehrt, tötet man ihn dann nicht und sich vielleicht sogar mit?“ Zwar schätzt sie den Älteren als Welterklärer, aber es klingt bereits ein wenig Ironie mit durch, wenn sie über die Doppelrolle spricht, die er für sie innehat: „Liebhaber und Lexikon, zwei Fliegen mit einer Klappe“. Bezeichnend, dass sie sich von ihrem Freund, mit dem zusammen der Reporter sie einst in Leipzig kennengelernt hat, nie ganz trennt, während er sämtliche Brücken zu seiner Vergangenheit nach und nach abbricht.

Notre Dame erzählt die Geschichte des Protagonisten aus der Rückschau. Am 30. Dezember 1991 fliegt Torben Berg allein nach Paris. Anderthalb Jahre nachdem er mit Rike hier glückliche Tage verlebte, versucht er nun, mit der Vergangenheit abzuschließen und gleichzeitig neue Perspektiven zu finden. Ein Besuch der Kathedrale Notre Dame und ein einsames Festmahl am späten Silvesterabend markieren den Übergang aus einer für ihn damit ihren rituellen Abschluss findenden Lebensphase in eine Zukunft, von der Berg weiß, dass sie kommen wird, auch wenn er sich ihre konkrete Form noch nicht vorzustellen vermag. Dass er nach Messe und Kommunion, die für ihn Vergebung, Trost und Heilung in einem bedeuten, zunächst ein Bad nimmt – „Er wollte rein sein, wenn er sich […] zu Tisch setzte, in jeder Hinsicht“ –, unterstreicht diesen religiös grundierten Aspekt des Neuanfangs.

Ulrich Schachts sprachlich äußerst gelungener Roman ist kein Wenderoman, obwohl er vor dem Hintergrund der politischen Ereignisse der Jahre zwischen 1989 und 1991 spielt und eine ganze Reihe von Personen der Zeitgeschichte – von Wolf Biermann über Kurt Masur bis zu Herbert Schirmer, dem letzten Kulturminister der DDR – miteinbezieht. Stattdessen nimmt der Leser teil an einem doppelten Umbruch, der noch zu nichts Neuem führt, allenfalls die Hoffnung auf einen Neuanfang spüren lässt. Weder ist Torben Berg über seine zerstörerische Liebe ganz hinweg, als er in Paris Bilanz zieht, noch hat sich das wiedervereinigte Deutschland, haben sich vor allem die Menschen im Osten der größer gewordenen Republik an die gewandelten Verhältnisse gewöhnt.

Berg hat sich wie das Land, aus dem er stammt, zu dessen Untergang er beigetragen hat und dem er keine Träne nachweint, voller Leidenschaft in ein Abenteuer gestürzt, das dem Dasein einen neuen Sinn zu geben versprach. Dem „Wahnsinn!“-Ruf, mit dem die Ostdeutschen die neue Zeit anfänglich begrüßten, entspricht dabei in gewisser Weise die Verrücktheit des Sich-Einlassens des Journalisten auf die Liebe zu einer wesentlich jüngeren Frau, die schon zu Beginn ihr Scheitern in sich trägt. Wie man weiß, hielt auch die Euphorie über die versprochenen „blühenden Landschaften“ nicht ewig. Es musste einer Realität Tribut gezollt werden, die mit den anfänglichen Träumen der Mauerstürmer nur noch wenig zu tun hatte. Und in diesem Punkt sind sich der nach neuen Ufern suchende Protagonist aus Notre Dame und die Menschen eines Landes, in dem nach 40 Jahren Stillstand und Niedergang eine kurze Phase des Außer-sich-Geratens überleitete in eine andere Form von Normalität, dann doch wieder frappierend ähnlich. Sie erzählen ein und dieselbe Geschichte.

Titelbild

Ulrich Schacht: Notre Dame. Roman.
Aufbau Verlag, Berlin 2017.
431 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783351035860

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