Because – you look so lost

Zu Michael Wildenhains „Das Singen der Sirenen“

Von Werner JungRSS-Newsfeed neuer Artikel von Werner Jung

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ich bin mir nicht sicher, was mich mehr stört an Michael Wildenhains neuem Roman. Ist es der märchenhafte Ausklang eines eigentlich realistisch anmutenden Zeitromans, sprich dieses merkwürdige harmonische Finale, an dem die Liebenden zueinander finden und womöglich noch eine neue Gemeinschaft begründen? Oder aber ist es der unentschiedene Charakter, die unentschlossene Haltung Wildenhains, was er nun eigentlich erzählen will: von allem etwas, aber sehr disparat und heterogen? Das klingt dann mal nach Beziehungs-, Ehebruchs- und Liebesroman, mal nach Großstadt- und Reiseliteratur, dann wieder werden Erinnerungsbilder und Flashbacks aufgerufen an frühere Zeiten der Antifa- und Hausbesetzerszenen in Berlin. Dies alles in einem hektischen Hin und Her, das möglicherweise der Gefühlslage des Protagonisten Jörg Krippen geschuldet ist.

Dieser promovierte und seine Habilitation vorbereitende Literaturwissenschaftler, der irgendwie zwischen die Maschen des Unisystems gefallen ist, kommt mit einem Semesterstipendium nach London, wo er sich halsüberkopf (wie auch anders?) in eine junge Studentin indischer Herkunft verliebt, die ihn die Tristesse seiner eigenen, langjährigen Beziehung samt elfjährigem Sohn daheim vergessen lässt. Dabei stellt sich im Lauf dieser – eher angedeuteten, denn erzählten – Liebesgeschichte noch heraus, dass es eine ältere Schwester Maes gibt, die einen überaus sportlichen wie hochintelligenten Jungen hat, der zudem Krippens Sohn ist, gezeugt, als der damals angehende junge Theaterregisseur zum ersten Mal in England gewesen ist. Dieser arme Hund Krippen, mag er auch auf eine wildbewegte Zeit zurückblicken können, ist eigentlich eine literarische Figur der 1970er und frühen 1980er Jahre, nämlich einer vom Schlag der damals grassierenden ‚Neuen Subjektivität‘ oder ‚Neuen Innerlichkeit‘ – ein ‚ausgebrannter Lebensprofi‘, wie Nicolas Born seinen Helden von der traurigen Gestalt in seinem Romanerstling Die erdabgewandte Seite der Geschichte (1976) an einer Stelle genannt hat. Noch böser könnte man ihn ein Sensibelchen nennen. Die fortschreitende Zeit – und damit das Leben, auf das er, sich erinnernd, zurückschaut, während die Hoffnungspotentiale schwinden (Erinnerung und Hoffnung als die beiden Pendelausschläge, um die laut Georg Lukács‘ Romantheorie der moderne Roman gravitiert) – nagt heftig an Jörg Krippen.

Ganz am Ende – lassen wir das fatale Happyend beiseite – trifft er eine alte russische Bekannte aus den früheren Theaterzeiten wieder, die ihn auf die Frage, wo er denn beheimatet sei, denken lässt, ohne dass er’s auszusprechen in der Lage wäre: Nirgendwo. Damit schließt sich auch ein Kreis wieder: Denn der heimatlose Krippen ist genauso nach London gekommen. Irgendwie zufällig. Und wirkt dementsprechend: „Wollen wir uns treffen? Heute Abend?“, ist die Eröffnungsfrage von Mae, auf deren fragende Replik von Krippen sie antwortet: „Because – you look so lost?“

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Michael Wildenhain: Das Singen der Sirenen. Roman.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2017.
320 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783608983043

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