Gedächtnisspuren früherer Lektüren und Notate

Wie Prousts „À la recherche du temps perdu“ von Józef Czapski im Gefangenenlager gelesen wurde

Von Alexandre MétrauxRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexandre Métraux

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Auf der Suche nach der Suche“ nach der verlorenen Zeit – der Titel klingt befremdlich. Es handelt sich um eine Metonymie. Wer es bemerkt, hat sich dem Sinn der Wortkette schon weit angenähert. Bleibt die Aufgabe, die letzte Annäherung zu erreichen.

Der Ort der Suche nach der Suche nach der verlorenen Zeit war ein sowjetisches Kriegsgefangenenlager, unweit vom Bahnhof Grjazovec gelegen, das verwaltungstechnisch auch als NKVD-Lager N° 150 firmierte. Interniert waren dort im Winter 1940/41 finnische und polnische Gefangene.

Das Objekt der Suche im Lager Grjazovec war Marcel Prousts Roman À la recherche du temps perdu. Der, der sich auf die Suche nach der Suche nach der verlorenen Zeit begeben hatte, war der polnische Kunstmaler Józef Czapski nach seiner Gefangennahme durch Rotarmisten.

Um wen es sich bei diesem Maler handelte, unter welchen Umständen er sich mit Prousts Recherche im Lager beschäftigte, wozu er dies tat und welche Rolle der französische Schriftsteller vor und nach 1940/1941 in seinem Leben spielte, davon handelt der von Sabine Mainberg und Neil Stewart herausgegebene Band, in dem Czapskis Notate auf dreißig Abbildungen einzusehen sind: zuerst als unbearbeitete Faksimiles der Notizen, dann als Palimpseste (im Hintergrund das Original, im Vordergrund in Helvetica gesetzt die Transkription, außerdem − und erneut als Palimpseste − im Hintergrund das Original und im Vordergrund die französisch- bzw. die deutschsprachige Übersetzung der Notizen).

Abbildung auf S. IV in dem besprochenen Buch („Faksimile Nr. 2, linke Seite“)

Abbildung auf S.XXVI in dem besprochenen Buch („Faksimile Nr. 2: deutsche Fassung, linke Seite“)

Zum ersten Mal bilden die Proust-Notate Czapskis den Gegenstand einer in sich geschlossenen und für sich sprechenden Veröffentlichung, zu der Sabine Mainberger eine informierende Einleitung sowie eine auf die Faktur der Proust-Notizen bezogene Analyse beigetragen hat. Einen Text über die Proust-Rezeption in Polen hat Mieczysław Dąbrowski beigesteuert. Ergänzt wird die zweisprachige Edition der „Heftseiten aus Grjazovec“ durch eine von Janusz S. Nowak besorgte Zusammenstellung ausgewählter Passagen aus den zwischen 1942 und 1989 entstandenen Tagebüchern Czapskis, die alle um die Figuren und das Werk Prousts kreisen.

Die Notate auf den wenigen Heftseiten sind ein außergewöhnliches Dokument, auch im Hinblick auf die Rezeption der Recherche. Denn sie sind alles andere als das Ergebnis literaturgeschichtlicher Studien, die auf beliebig viele Publikationen über Prousts Werk, einzelne Aspekte seiner Romane oder die Durchführung einzelner Themen verweisen können. Man stelle sich also vor: Im Lager war kein einziger Text Prousts vorhanden. Deshalb musste Czapskis Suche nach der Recherche du temps perdu, um den durch Entbehrungen und Langeweile entstandenen Verlust an Lebenszeit ein wenig aufzuwiegen, ausschließlich im Kopf stattfinden. In den Worten einer Tagebuchaufzeichnung Czapskis aus dem Jahr 1944: Es ging darum, das „Hirn vor dem Rost der Untätigkeit zu bewahren“. Czapski hatte sich zum Wiederleser eines materiell nicht anwesenden Romans gemacht. Er las in seinem Gedächtnis, las die eine oder andere, dann eine dritte, eine vierte und weitere Erinnerungen an den gelesenen Text auf, wie sie gerade in ihm aufkamen, brachte sie zu Papier und erschuf auf diese Weise ein Netz einseitiger oder gegenseitiger Verweise, die er, zur Beförderung seiner Gedächtnisarbeit, durch weitere Gedächtnisspuren ergänzte.

Aufgeschrieben hat Czapski die Notate zur Recherche du temps perdu auf einige Seiten eines Hefts, dessen Aufdruck in kyrillischen Buchstaben es eindeutig als Schulheft mit Leerstellen für die Eintragung eines Schülernamens und der Schulklasse erkennbar macht. Das Heft erhielt in polnischer Sprache den Titel „FRANCUZKI NOTATKI“ (französische Notizen). Woher der nunmehr mit Schreibwerkzeugen ausgestattete, auf der Suche nach Gedächtnisspuren befindliche Lagerinsasse das Schulheft bezogen hatte, weiß man nicht. Er muss Glück gehabt haben, denn Schreibpapier gab’s keins. Die einzigen noch verfügbaren Flächen für Aufzeichnungen waren die in diesem Lager zirkulierenden Pravda-Exemplare mit mehr oder weniger breiten, blanken Rändern. Unter das russischsprachige (hier transliterierte) Wort „tetrad`“ (für „Heft“) findet sich die handschriftliche Angabe „II“; man darf annehmen, dass Czapski ein zweites Heft für andere Zwecke als den der verschrifteten Bewahrung von Gedächtnisspuren benutze.

Während eines längeren Aufenthalts in Paris hatte der junge Kunststudent Czapski einen Band der Recherche du temps perdu gelesen. Danach griff er zu allen ihm verfügbaren Bänden; die Bände drei bis sieben des Romans erschienen zwischen 1921 und 1927; zudem rezipierte er unter anderem Beiträge von Tadeusz Boy-Żeleński, dem polnischen Proust-Übersetzer, mit dem er Übersetzungsprobleme erörterte; anderes aus der Sekundärliteratur wurde auch studiert. Aus diesen Lektüreschichten wurden im Gefangenenlager nur Fragmente gehoben. Die waren allerdings zureichend geformt und, vor allem, so markant, dass sie Czapski zu einigen Vorlesungen oder Vorträgen über Marcel Prousts Suche nach der verlorenen Zeit verhalfen. Ihre Übersetzung ins Deutsche wurde 2006 veröffentlicht.

Die „FRANCUZKI NOTATKI“ bildeten in der Entstehung der Proust-Vorträge eine Zwischenstufe zwischen der Gedächtnisarbeit und der ausformulierten Rede vor einem bislang anonym gebliebenen Publikum – vermutlich des Französischen mehr oder minder mächtige Mitgefangene unter den Augen von Rotarmisten.

Da die Urfassung der Vorträge verschollen ist, lassen sich Zuordnungen von den Notaten zu den später im Diktat rekonstruierten Vorlesungen nur als unnachweisliche Annahmen formulieren. Warum ist es dennoch angebracht, in den Notaten eine Quelle zu vermuten, die mehr ist als eine zur Vorbereitung der Vorträge angelegte Sammlung von Stichworten? Weil die Notate Zeugnis ablegen sowohl von der sonderbaren Wiederlektüre des Romans im Gedächtnisbereich Czapskis wie auch von den Verfestigungen der im Gedächtnis sich bemerkbar machenden Erinnerungen an den Roman sowie an dessen Figuren, Episoden, Handlungsstränge, Bilder, Landschaftsbeschreibungen und poetologische Umsetzungen.

An seiner Person erfuhr Czapski eine der Dispositionen, die Proust für seine Verschriftung der Recherche zur Geltung gebracht hatte: die mémoire involontaire, will sagen: das unwillkürliche Gedächtnis. In jenem Winter 1940/41 ergab sich tatsächlich die Gleichung zwischen den im Roman berichteten Vergegenwärtigungsprozessen und den Vergegenwärtigungen des Romans durch Czapski. Oder genauer: Er war sich sicher, dass seine Gedächtnistätigkeit übereinstimmte mit der vom Erzähler der Recherche beschriebenen mnestischen Suche nach der unmittelbar gerade nicht erinnerten und dennoch erinnerbaren Zeit. Er war sich zudem in psychologischer Hinsicht sicher, an sich selber die Phänomene des nicht zielgerichteten, des ungelenken Gedächtnisses zu erleben, dem unerwartet auch noch bedeutsame Erinnerungen entspringen. So veranschaulichen die Notate eine Rezeptionsweise, die sich im Nachgang durch den im Lager textlos gewordenen Romancorpus, aber entsprechend dem poetologischen Prinzip der Proust’schen Textproduktion der Recherche verwirklicht hat.

Die Notate lassen sich außerdem als Zeichen der Schreibszene deuten, in der Czapski 1940/41 mit sich selbst als Wiederleser Prousts ohne Textbeihilfe und mit der Recherche als dem Stoff von Vorträgen beschäftigt war. Was auf der ersten Seite der „FRANCUZKI NOTATKI“ als Hinweis auf den geplanten, indes noch unausgearbeiteten „letzten Vortrag“ sich zeigt, erfährt durch einen Bleistiftstrich ungewissen Verlaufs eine Assoziation mit anderen, vielleicht aber auch mit keinem der anderen Notate. Dem ungewissen Verlauf dieses Strichs ist es geschuldet, dass die nunmehr als Spuren der Spuren der Suche nach der Suche der verlorenen Zeit in Erscheinung tretenden Notate eher als mögliche, als vorläufige, als noch unentschiedene Deutungsansätze zu lesen sind denn als Fixpunkte auf einem in sich kristallin strukturierten Vortragsplans. Die Notate sind nicht Teile einer Liste mit vorgegebenem Leseverlauf (von oben nach unten oder umgekehrt, doch ohne Spielräume für Neukombinationen der Elemente), noch sind sie Orte in einem ganz auf die Fläche des Papiers projizierten Theater der alten ars memoriae. Man hat es vielmehr zu tun mit Interpretationsanläufen, mit ersten Deutungsschritten, die in mehrere Richtungen abgehen können, weil sie, wie die noch nicht ganz aus dem Schlummer der mémoire involontaire erwachten Erinnerungen, dies und jenes, nicht aber Beliebiges, an Erkenntnissen über Prousts À la recherche du temps perdu befördern. So veranschaulichen im Kleinen die unter Extrembedingungen entstandenen Notate Czapskis (dann indes jenseits seiner psychologisch determinierten Stimmungslage im Winter 1940/41) ein Lesemodell, das, weil es sich nicht vorab einem festgelegten Ansatz verschrieben hat, dem Roman Prousts auch nach Dutzenden von Jahren Ungesehenes, Überlesenes, noch Unentdecktes abzugewinnen vermag.

Titelbild

Sabine Mainberger / Neil Stewart (Hg.): À la recherche de la recherche. Les notes de Joseph Czapski sur Proust au camp de Griazowietz, 1940-1941.
Józef Czapskis Notate zu Proust im Gefangenenlager Grjazovec, 1940-1941.
Les Éditions Noir sur Blanc, Lausanne 2016.
188 Seiten , 21,00 EUR.
ISBN-13: 9782882504418

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